EWR 22 (2023), Nr. 1 (Januar)

Katrin Kotzyba
Schüler*innen mit „Migrationshintergrund“ exklusiver Gymnasien
Eine rekonstruktive Studie zum Schülerhabitus
Wiesbaden: Springer VS 2021
(349 S.; ISBN 978-3-658-34571-6; 69,99 EUR)
Schüler*innen mit „Migrationshintergrund“ exklusiver Gymnasien Katrin Kotzybas Arbeit ist in den Zusammenhang der DFG-Forschergruppe 1612 „Mechanismen der Elitebildung im deutschen Bildungssystems“ zu verorten. Ihre rekonstruktive Studie bewegt sich an der Schnittstelle von Schul- und Migrationsforschung. Konkreter blickt Kotzyba auf Schüler*innenhabitus von 8. Klässler*innen des Gymnasiums, denen familiäre Migrationserfahrungen zugeschrieben werden können. Dabei fasst die Autorin das Gymnasium konsequent als Ort gesellschaftlicher Distinktion und schließt dabei insbesondere an Perspektiven der Hallenser Schulforschung an [1]. Dass der mit der Arbeit verbundene Impetus einer ungleichheitskritischen Schulforschung in der Verhältnissetzung der Institution des Gymnasiums und der Kategorie der Migration einen relevanten Ausgangspunkt findet, zeigen nicht zuletzt jüngere Befunde empirischer Bildungsforschung. Kinder der zweiten und dritten Generation von Familien mit Migrationserfahrungen schneiden mit Blick auf den Grad des Schulabschlusses weiterhin deutlich schlechter ab als Schüler*innen aus Familien ohne solche Erfahrungen [2]. Die Effekte elterlicher Bildungsaspiration und der Einfluss distinktiver, bisweilen rassifizierender schulischer Praktiken werden in quantitativen Forschungen hypothetisch angenommen. Gleichsam erfährt ihre Bedeutsamkeit für die Aufrechterhaltung bestehender Ungleichheitsverhältnisse vor dem Hintergrund statistischer Modellierungen eine eigentümliche Tendenz der Nivellierung [3]. Das Desiderat zu bearbeiten, die Komplexität einer anzunehmenden „doppelten Anforderungsstruktur“ (11) zwischen Familie und Schule, mit der sich Schüler*innen mit familiären Migrationserfahrungen konfrontiert sehen mögen, verstehbar zu machen, begegnet Kotzyba mit dem rekonstruktiven Anspruch ihrer Arbeit. Sie lässt sich in einem weiten Feld migrationssensibler Schulforschung verorten [4, 5, 6, 7]. Ihr Fokus auf die von Schüler*innen erlebte Alltagspraxis der Institution des Gymnasiums – verstanden als Ort gesellschaftlicher Elitebildung – stellt sie heraus.

Die Arbeit gliedert sich in sieben Kapitel. Nachdem einleitend als Ambition der Reflexion der „Standortgebundenheit“ [8] der Forschungsperspektive auf die Kategorie des „Migrationshintergrunds“ Bezug genommen wird, werden im zweiten Kapitel zentrale Theoriebezüge eröffnet. Ausgangspunkt ist hierbei die Habitustheorie Bourdieus in ihren schulpädagogischen Perspektivierungen [9, 10]. Des Weiteren führt Kotzyba sozialisationstheoretische Konzepte nach Erikson, Harvighurst und Oevermann an, um schließlich die Annahmen nachvollziehbar machen zu können: „Familie als Ort primärer Sozialisation ist […] als Hintergrund des Einflusses für Schule und Schüler*innen als habitueller Kristallisationspunkt bedeutsam“ (20). Der ausdifferenzierte weitere Anschluss an migrationsbezogene (Schul-)Forschung sowie u. a. an Theorien gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse führt sodann zu dem Interesse an einer „schüler*innenbiografischen Perspektive auf Schüler*innen mit ‚Migrationshintergrund‘ an exklusiven Gymnasien“ und den „Herausforderungen, Bildungsvorteilen, aber auch Ambivalenzen in den Schülerbiografien“ (85).
Im dritten Kapitel stellt Kotzyba die methodologischen Bezüge ihrer Studie dar. Neben dem losen Anschluss an die Methode des narrativen Interviews nimmt sie Bezug auf die dokumentarische Methode und setzt insbesondere die analytische Kategorie des individuellen Orientierungsrahmens ins Verhältnis zu den eingangs eröffneten habitustheoretischen Annahmen. Mit Blick auf das Sample der empirischen Studie differenziert Kotzyba zwischen nicht-exklusiven und exklusiven Gymnasien. Der Grad der Exklusivität der einzelschulischen Organisation wird hierbei an der Größe des Anteils an Eltern mit Migrationserfahrungen gemessen. Die eine Hälfte der Schüler*innen des Samples entfällt auf exklusive Schulen, die andere auf nicht-exklusive Gymnasien. Für (fast) alle Schüler*innen des Samples (n=22) gilt, dass beide Elternteile eine nicht-deutsche Herkunft besitzen. Mit Blick auf die Weltregionen ihrer primären Herkunft sowie in ihrem sozio-ökonomischen Status unterscheiden sich die familiären Milieus deutlich.

Den Hauptteil der Arbeit bilden die Ergebnisdarstellungen. Im vierten Kapitel werden zunächst acht Fallporträts gezeichnet. Beispielsweise wird im biographischen Sprechen des Falls Yumi Schule zunächst als „anstrengender Leistungs- und Notenraum“ (114ff.) rekonstruiert. Das Gymnasium tritt als Ort des Erlebens hoher Leistungsanforderungen hervor. Die „Erziehungsfabeln“ (118ff.) der aus Korea stammenden Mutter werden als Ansporn des souveränen Umgehens mit den Leistungserwartungen erlebt und verweisen gleichsam auf die prekäre Erfahrung der „Suche nach Zugehörigkeit und Selbstverortung“ (127). Aus dem Fallvergleich ergeben sich sodann mehrere Typiken, die im Sinne einer mehrdimensionalen Typologie zusammengeführt werden. Kotzyba gelingt es, u. a. das Verhältnis von Familie und Schule zu abstrahieren: „Haben die Eltern […] höhere Erwartungen an den Bildungserfolg der Kinder, sehen sich diese entweder unter Druck gesetzt diese zu erfüllen […] oder stehen dazu in spannungsvoller Distanz […]“ (263f.). Familie tritt als der „vermittelnde Faktor zwischen Schule und ‚Migration‘ als Ausgangspunkt, wie die Schüler*innen sich selbst in der Schule sowie in ihren dortigen Chancen und Möglichkeiten einschätzen“ (264) hervor. Die empirischen Befunde – die hier nur angerissen werden können – verweisen auf ein „Spannungsfeld von Familie, Migration und Selbstverortung in exklusiven Gymnasien“ (304ff.). Kotzyba bindet sie im sechsten Kapitel an andere empirische Perspektiven zurück. Eindrücklich tritt so die Besonderheit des schulischen Erlebens von Gymnasiast*innen aus Familien mit Migrationserfahrungen hervor, nicht (nur) Passung zwischen Schulischem und Individuellem herstellen zu müssen, sondern auch die (Nicht-)Passung zwischen Familie und Schule bearbeiten zu müssen.

Im siebten Kapitel abstrahiert Kotzyba weiter, dass eine empirisch-abduktive Auseinandersetzung mit der Kategorie des „Migrationshintergrunds“ auf das Potenzial verweise, „Strukturen sozialer Ungleichheit“ (323) aufzuzeigen. Es zeige sich, dass auch dann, wenn Schüler*innen aus weniger privilegierten Milieus den Übergang auf das exklusive Gymnasium vollzogen und damit eine gewisse Klassenmobilität erlebt haben, sie damit nicht zwangsläufig weniger gefährdet wären, im Erleben von Schule von distinktiven Praktiken betroffen zu sein. Insbesondere dann, wenn familiäre Migrationserfahrungen bestehen, weise der bloße Erfolg des Übergangs auf das Gymnasium somit nicht auf das Erlangen von Immunität gegenüber der Persistenz gesellschaftlicher Ungleichheitsverhältnisse hin.
Kotzybas Studie gibt tiefe Einblicke in existenzielle Erfahrungen von Gymnasiast*innen mit familiären Migrationserfahrungen. Sie wird ihrem Anspruch gerecht, der präskriptiven Kategorie des „Migrationshintergrunds“ (11f.) eine wertfreie empirische Perspektive entgegenzuhalten. Es ist zu erwarten, dass – über das wissenschaftliche Feld hinaus – die Lektüre bei pädagogischen Praktiker*innen Empathie für ihre Klient*innen fördern wird; insbesondere dann, wenn die Leser*innen nicht aus strukturidentischen Herkunftsmilieus stammen.

Weiterführende Forschung könnte an jüngere Diskurse der Dokumentarischen Methode und der Praxeologischen Wissenssoziologie anschließen [11]. So könnten familiäre und schulische Identitätsnormen, die einer propositionalen Logik folgen, sowie habituelle Orientierungen, die eine performative Logik besitzen, in ihrem ‚notorischen Spannungsverhältnis‘ betrachtet werden. Kotzybas Fokus auf Habitus von Schüler*innen mit familiären Migrationserfahrungen könnte um einen stärker schultheoretisch orientierten Blick der Rekonstruktion des gymnasialen Erfahrungsraums ergänzt werden, wie er sich in der Bearbeitung dieses Spannungsverhältnisses konstituiert.

[1] vgl. bspw. Helsper, W., Dreier, L., Gibson, A., Kotzyba, K. & Niemann, M. (2018). Exklusive Gymnasien und ihre Schüler. Passungsverhältnisse zwischen institutionellem und individuellem Schülerhabitus. Springer VS.
[2] Hofherr, S. (2020). Allgemeinbildende Schulen. In S. Lochner & A. Jähnert (Hrsg.), DJI-Kinder- und Jugendmigrationsreport 2020. Datenanalyse zur Situation junger Menschen in Deutschland (S. 107-124). wbv.
[3] Bspw. bei Stubbe, T. C., Lorenz, J., Bos, W. & Kasper, D. (2016). Der Übergang von der Primar- in die Sekundarstufe. In H. Wendt, W. Bos, C. Selter, O. Köller, K. Schwippert & D. Kasper (Hrsg.), TIMSS 2015. Mathematische und naturwissenschaftliche Kompetenzen von Grundschulkindern in Deutschland im internationalen Vergleich (S. 351-365). Waxmann.
[4] Bspw. Rüesch, P. (1998). Spielt die Schule eine Rolle? Schulische Bedingungen ungleicher Bildungschancen von Immigrantenkindern – eine Mehrebenenanalyse. Peter Lang.
[5] Bspw. Solga, H. & Wagner, S. (2007). Die Zurückgelassenen – die soziale Verarmung der Lernumwelt von Hauptschülerinnen und Hauptschülern. In R. Becker & W. Lauterbach (Hrsg.), Bildung als Privileg. Erklärungen und Befunde zu den Ursachen der Bildungsungleichheit (S. 187-215). Springer VS.
[6] Bspw. Gomolla, M. & Radtke, F.-O. (2002). Institutionelle Diskriminierung. Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule. Leske + Budrich.
[7] Bspw. Diefenbach, H. (2011). Der Bildungserfolg von Schülern mit Migrationshintergrund im Vergleich zu Schülern ohne Migrationshintergrund. In R. Becker (Hrsg.), Lehrbuch der Bildungssoziologie (S. 449-473) [2. Aufl.]. Springer VS.
[8] Bohnsack, R. (2014). Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in qualitative Methoden (S. 208) [9., überarbeitete und erweiterte Aufl.]. Verlag Barbara Budrich UTB.
[9] Kramer, R.-T. (2002). Schulkultur und Schülerbiographien: Das „schulbiographische Passungsverhältnis“. Rekonstruktionen zur Schulkultur II. Leske + Budrich.
[10] Helsper, W. (2014). Habitusbildung, Krise, Ontogenese und die Bedeutung der Schule – Strukturtheoretische Überlegungen. In W. Helsper, R.-T. Kramer & S. Thiersch (Hrsg.), Schülerhabitus – Theoretische und empirische Analysen zum Bourdieuschen Theorem der kulturellen Passung (S. 125-128). Springer VS.
[11] Bohnsack, R. (2017). Praxeologische Wissenssoziologie. Verlag Barbara Budrich UTB.
Matthias Olk (Bremen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Matthias Olk: Rezension von: Kotzyba, Katrin: Schüler*innen mit „Migrationshintergrund“ exklusiver Gymnasien, Eine rekonstruktive Studie zum Schülerhabitus. Wiesbaden: Springer VS 2021. In: EWR 22 (2023), Nr. 1 (Veröffentlicht am 26.01.2023), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978365834571.html