EWR 8 (2009), Nr. 5 (September/Oktober)

Konstantin Mitgutsch
Lernen durch Enttäuschung
Eine pädagogische Skizze
Wien: BraumĂĽller 2009
(205 S.; ISBN 978-3-7003-1710-4; 24,22 EUR)
Lernen durch Enttäuschung Die vorliegende Dissertationsschrift will im Rahmen der gegenwärtigen Diskussion um den Lernbegriff in der Pädagogik insbesondere auf den Zusammenhang von „Lernen und Negativität“ hinweisen, der „aktuell in der Pädagogik unter den Schlagworten Umlernen, Lernen aus der Negativität der Erfahrung, Lernen aus Leiden“ (4) verhandelt wird. Das Scheitern des Lernens wird dabei als einer der „widerfahrenden, irritierenden und widerständigen Momente im Lernprozess thematisiert“ (VII – H.v.d.R.). Die Arbeit „versteht sich als Beitrag zu einer pädagogischen Theorie des Lernens, die Lernen als pathische Umlernvollzüge fasst“ (VIII). Es werden dafür unterschiedliche Ansätze von der Antike bis zur Gegenwart vorbereitend diskutiert – jeweils mit einem illustrierenden graphischen Schema versehen – und abschließend die Genese des Lernprozesses als eines ‚pathischen’ und ‚zirkulär-gebrochenen’ ‚pädagogischen Umlernvollzugs’ skizziert.

Dies geschieht allerdings unter der Voraussetzung, dass (mit Klaus Prange) das Lernen nicht nur für den „Blick des Betrachters“, sondern „sogar für den Lernenden selbst unsichtbar, wenn nicht sogar unbemerkt“ bleibt (143): „Der Vollzug des Lernens wird demnach nicht direkt aus der Praxis, sondern indirekt aus einer genealogischen Theorie des Lernens abgeleitet“ (175). Die Herausforderung, der sich die Arbeit damit stellt, hat Konsequenzen für den theoretischen und methodischen Status ihrer Annäherungen an das Phänomen des ‚Umlernvollzugs’: Wenn sie davon ausgeht, dass das aufzuweisende Phänomen nur in theoretischer Analyse und nicht als „reale Praktik“ (3) erfassbar ist, wäre heuristisch die historische, theoretisch u.U. divergierende Beschreibung dieses Phänomens aufzuweisen. Im Laufe der Lektüre verdichtet sich jedoch die Vermutung, dass dem Versuch, „das Phänomen des Lernens durch Enttäuschung zu erörtern“ (3), eine implizite, normative Folie zugrunde liegt, auf die hin die untersuchten Beschreibungen dieses Phänomens qualifizierbar werden.

Inhaltlich nimmt die Studie ihren Ausgang von der Produktivität der widerfahrenden, schmerzlichen, enttäuschenden Erfahrungen für Lern-Prozesse, während methodisch eine Abgrenzung des eigenen Zugangs als „genealogisch“ gegenüber didaktischen, teleologischen, methodologischen und topologischen Zugängen erfolgt (Kapitel 1). Das 2. Kapitel widmet sich dann den „Wurzeln des theoretischen Nachdenkens über Lernen in seinem antiken Ursprung“ (29). Gegenüber den Positionen der Sophisten und des Parmenides zeigt sich in Platons Dialog „Menon“ ein „Lernbegriff, der direkt aus dem Vollzug des Lernens entfaltet“ wird (39). Dieser muss allerdings gegen die Argumentation des Dialogs selbst herausgelesen werden, da sie (mit Prange) das Lernen „’im Modus seiner Lehrbarkeit’“ beschreibe (41). Aristoteles’ Darstellung der am Vorwissen ansetzenden Epagoge scheint dieses Dilemma zwar zu überwinden, wie unter dem (angesichts der Divergenz der vorgestellten antiken Positionen allerdings irritierenden) Titel „Rekonstruktion antiken Lernens“ (2.3) gezeigt wird. Über Hans-Georg Gadamer wird aber noch das Moment des „Pathos“ als „notwendiges Konfrontiertsein-mit-der-Welt“ eingefordert: „Dieser wesentliche Aspekt des Lernvollzugs findet jedoch im Theorem des Philosophen Aristoteles keine ausreichende Begründung oder Erwähnung“ (68).

In einer auf den ‚negativen Lernvollzug’ kanalisierten Spurensuche greift der Autor deshalb in Kapitel 3 auf neuzeitliche und gegenwärtige Ansätze zurück. Die Adaption der aristotelischen Epagoge unter Einbezug der Negativität wird über Francis Bacon und Gadamer als zweifache Erfahrung (über vorgängige Erfahrungen wie über sich selbst als Erfahrenden) fruchtbar gemacht und mit Günther Buck als Umlernprozess im Sinne eines „Wandel des Erfahrungshorizonts“ (90) beschrieben sowie in einen „pädagogischen Kontext“ transformiert (85) – woraus sich dieser ergibt, bleibt dabei offen. Der als Einheit zu verstehenden Erfahrung bei Buck wird in einem Exkurs (3.3) die als „gebrochen“ zu verstehende ‚starke Variante der Erfahrung’ bei Bernhard Waldenfels entgegen gesetzt und Erfahrungen so als ‚pathische Widerfahrnisse’ beschrieben, die in zeitlicher Verschiebung die Erfahrung zur Antwort werden lassen. Auch der Erfahrende kann nun nicht mehr als intentionales und autonomes Subjekt verstanden werden. Vielmehr durchläuft dieses Selbst mit Waldenfels „als ‚Patient’, Adressat und Respondent verschiedene Weisen des Selbstwerdens’“ (110). Die mit einem solchen veränderten Erfahrungs- und Subjektbegriff gegebene Soll-Bruchstelle gegenüber dem bisher beschriebenen Lernvollzug wird allerdings nicht explizit erörtert. An den Begriffen des „Umlernens“ und auch des (als ‚relativ konstant’ kritisierten – 90) „Erfahrungshorizonts“ wird dabei in modifizierter Form festgehalten. Eine erste pädagogische Brücke zwischen den Arbeiten von Buck und Waldenfels wird durch die Studien Käte Meyer-Drawes geschlagen, die den Umlernprozess „nicht als harmonisierend zirkulär, sondern als diskontinuierlich und sprunghaft“ fasse – dies entspreche „der signifikanten Differenz der Erfahrung, von der Bernhard Waldenfels spricht“ (115).

Mit der Frage, wie „pädagogisches Handeln unter der Berücksichtigung des Lernens als ein pathisches Umlernen gedacht werden“ kann (124), soll im 4. Kapitel die zweite Brücke zwischen Umlernvollzug und Pädagogik geschlagen werden. Dies geschieht auf recht breiter Werkbasis anhand des ‚pragmatisch-operativen’ Ansatzes Klaus Pranges. Lernen vollzieht sich hier zunächst in der „gelebten Umgangserfahrung“ im ‚Gebrauch der Dinge’, wo „Erfahrung, Wahrnehmung und Lernen miteinander verflochten sind und in der situativen Anwendung vollzogen werden“ (138). Eine solche Bestimmung führt Grenzen mit sich: Nicht nur bleibt der „Vollzug des Lernens für den Erziehenden unzugänglich“ (143), auch unterscheidet sich die Ebene der Umgangserfahrung Pranges von der der Erfahrung bei Buck und Waldenfels (vgl. 164). Trotz gemeinsamer Momente wie das „Pathos als bildendes Moment“ (162) sowie den auch von Prange verwendeten Begriff des „Umlernens“ verweist der Autor deshalb auf den mit Waldenfels und Meyer-Drawe festzuhaltenden Unterschied des ‚pathischen Umlernens’ als „zirkulär-gebrochenen Vollzug“ (174), der Pranges Vorschlag gelingenden pädagogischen Handelns als ‚Zeigen’ infrage stellt.

Das abschließende 14-seitige Kapitel 5 enthält die „Skizze eines pädagogischen Umlernvollzugs“, auf die vorhergehend hingearbeitet worden ist. Illustriert von acht graphischen Schemata wird mit dieser das Versprechen einzulösen versucht, „die im Rahmen der Analyse herausgearbeiteten Momente des Lernens als genealogischen Vollzug des Umlernens darzustellen“ (175) sowie „die pädagogischen Implikationen des Umlernens für die Pädagogik in Theorie und Praxis“ (184) angedeutet.

Die vorliegende Arbeit verfolgt den hohen Anspruch, die ‚Genese’ eines Prozesses zu erfassen, der nicht ‚nur’ als Lernen, sondern in seiner besonderen Qualität als „Umlernen“ gedacht werden soll. Zudem soll dieser Prozess als „Vollzug“ erfasst und zuletzt in seinen Momenten genealogisch dargestellt werden. Das ist ein im doppelten Sinne grenzgängerisches Anliegen: wenn einerseits das Lernen unsichtbar bleibt und andererseits der Prozess selbst an den Grenzen (der Aneignung – VII, der Erfahrung – 103, des Wissens – 186) angesiedelt wird, könnte dies auch Grenzen der begrifflichen / methodischen Zugänglichkeit implizieren. Dieser Herausforderung wird mit der Klärung des Gegenstandsbezugs einerseits und der Methodik andererseits begegnet sowie beides aufeinander bezogen: Die „Skizze eines pädagogischen Umlernvollzugs“ richtet sich zwar auf den „Vollzug des Lernens“; dieser wird aber „indirekt aus einer genealogischen Theorie des Lernens abgeleitet“ (175 – H.v.d.R.). Davon ausgehend müssen an dieser Stelle drei kritische Einwendungen formuliert werden: Der Begriff des „Vollzugs“– und damit der Gegenstandsbezug der vorgelegten Theorie – scheint erstens dort doppeldeutig und ambivalent zu werden, wo er doch einen besonderen Zugang zum Gegenstand des „Umlernens“ verspricht und bspw. für den über das Lehren erschlossenen Lernbegriff bei Platon als abgrenzende Kritikfolie eingesetzt wird. Zweitens spiegelt sich die Schwierigkeit, ein ‚unsichtbares Was’ zu bestimmen, auch im Wie der Darstellung dieses Lernvollzugs wider, die versucht, „[e]ine systematische Rekonstruktion der jeweiligen Momente für den Vollzug des Lernens“ (5) mit der „Logik seiner Genesis“ (6), (d.h. die „lückenhafte Verflechtung von Synchronem, Asynchronem, Sequenziellem und Gleichzeitigem“ – 23f.) zu verbinden. Es stellt sich hier die Frage, woher die in den einzelnen Kapiteln herausgearbeiteten „Momente“ ihren systematischen Ort innerhalb der vorgeschlagenen Genealogie gewinnen können. Diese Frage verweist auch bereits im Text auf eine methodische Ambivalenz, wenn die untersuchten Ansätze einerseits als „heuristische Grundlage“ der Suche verstanden werden (27) und andererseits in ihrer Kritik (bspw. auf ‚Unvollständigkeit’ hin) doch implizit eine diesen voraus liegende Wertigkeit interesseleitend scheint. Aus beiden Einwänden ergibt sich drittens die Frage nach der genaueren Klärung des Verhältnisses von Gegenstandsbezug und methodischem Vorgehen.

Die vorliegende Arbeit versucht, unterschiedlichste lerntheoretische Ansätze von der Antike bis zur Gegenwart im Hinblick auf ihre Bedeutung für einen als ‚pathisch’ und ‚zirkulär-gebrochen’ vorgestellten Umlernvollzug pädagogisch fruchtbar zu machen. Sie ist ambitioniert und auf hohem Niveau vorgetragen, lässt jedoch – vielleicht gerade deshalb – auch einige Fragen offen.
Sabrina Schenk (Halle)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sabrina Schenk: Rezension von: Mitgutsch, Konstantin: Lernen durch Enttäuschung, Eine pädagogische Skizze. Wien: BraumĂĽller 2009. In: EWR 8 (2009), Nr. 5 (Veröffentlicht am 02.10.2009), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978370031710.html