Eingebettet in die originären Themen der Pädagogik – „Lernen und Bildung“ – unterbreitet das vorliegende Werk von Horst Siebert das beeindruckende Resümee aus 45 Berufsjahren. Was als eine Art „Bilanzierung“ gedacht ist, präsentiert sich – gegliedert in fünf Kapitel und gerahmt durch zentrale Erkenntnisse der Bezugswissenschaften – als anspruchsvolles Extrakt erwachsenpädagogischer Theorien und zentraler Praxisverzahnungen.
„Lernforschung im Überblick“ (Kapitel 1) zeigt nicht nur zentrale Ansätze empirischer Lernforschung und sozialisatorisch geprägte Lernzugänge auf, sondern betont im klassisch humanistischen Sinne die Bedeutung eines reflexiven Lernverständnisses. Wurzeln und Weiterentwicklungen der Ansätze im Kontext von lifelong learning, self-directed learning und später der Drop-out Forschung werden vorgestellt und in die aktuellen Diskurse der nationalen Bildungspraxis eingebettet, bevor Siebert den Praxistransfer empirischer Forschung kritisch und komplex diskutiert.
Das biografische Lernen (Kapitel 2) knüpft an die bildungspolitisch kontrovers geführte Diskussion einer Standpunktbestimmung von Lernen zwischen Qualifikation, Kompetenz und Bildung an, die nicht in einer differenzierten Präsentation der zentralen Theoriestränge verbleibt, sondern erfrischend couragiert die persönliche Position von Siebert erkennen lässt: „Bildung ist ohne Wissen, Qualifikationen, Kompetenzen nicht denkbar. Aber Bildung enthält darüber hinaus eine ethische und eine politische Dimension. Bildung basiert auf einer humanistisch-demokratischen Menschenbildung. Das heißt: Bildung erschöpft sich nicht in einer individuellen Persönlichkeitsentfaltung, sondern schließt Verantwortung und Engagement für ‚Frieden, soziale Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung’ mit ein“ (48). Überraschend schließt dieses eher bildungstheoretisch geprägte Kapitel mit einer 15 Punkte umfassenden Zusammenfassung zur Methodik, die eher in Kapitel 3 gepasst hätte. Konstruktivistische Grundannahmen und ihre Bedeutung für die erwachsenenpädagogische Didaktik spannen das Feld des Lernens weiter auf und werden durch zentrale Erkenntnisse der Gehirnforschung und der Neurowissenschaften komplettiert. Mit der dargelegten Vielschichtigkeit eines „vernetzenden Lernverständnisses“ (67f) ermuntert Siebert seine Leserinnen und Leser inhärent bekannte Lernansätze neu zu denken und zu verknüpfen.
Im Hinblick auf die Lehr-Lernsituation (Kapitel 3) verweist das biografische Lernen auf Lerninhalte auch als „Identitäts- und Identifikationsangebote“ (81). Hier greift Siebert didaktische Grundgedanken und -annahmen wie Lehr-Lernsysteme, Rolle der Lehrenden, Gruppendynamik und Lernwiderstände komprimiert auf. Dem Thema Weiterbildungsbeteiligung nähert sich der Autor exemplarisch über einige ausgewiesene, bildungssoziologische Studien an, die er unter Berücksichtigung gesellschaftlicher Pluralität um den Aspekt der Milieuforschung anreichert. Dabei betont er jedoch das noch existierende Forschungsdesiderat von Lernstilen im Zusammenhang mit der Milieuzugehörigkeit. Es überrascht, dass Siebert das Thema „Lernberatung“ hier ausklammert und demgegenüber ein eignes Unterkapitel zum „Systemischen Coaching“ integriert, in dem neben Lerncoaching auch Mentoring und Mediation Erwähnung finden. Diese Formate können auch zur Begleitung informeller Lernprozesse interessant werden, ein Thema, das Siebert im Buch allerdings nicht weiter aufgreift.
Der „Einbettung der Bildung in die Gesellschaft der Postmoderne“ ist Kapitel 4 gewidmet. Siebert fokussiert an dieser Stelle insbesondere aktuelle Fragestellungen der Nachhaltigkeit und stellt diese in Bezug zu Wirksamkeitsfragen der Erwachsenenbildung. Hier zitiert Siebert noch einmal Studien der Lehr-Lern- und Wirksamkeitsforschung, die z.T. bereits schon an anderer Stelle vorgestellt wurden (z.B. die Studie von Staudt/Kriegesmann in Kapitel 2.1). Hier hätte man sich eine systematischere Kapiteleinteilung gewünscht, um dadurch Wiederholungen zu vermeiden.
Mit den „Theorien der Erwachsenenbildung“ (Kapitel 5) wählt der Autor noch einmal den Theorie-Praxis-Bezug, den er insbesondere mit Blick auf die Volksbildung der Weimarer Zeit historisch einführt und anschließend anhand verschiedener Konzepte und ihrer VertreterInnen systematisiert. Die aktuell kontrovers diskutierte Frage nach einer Theorie des Lebenslangen Lernens greift Siebert kurz auf, bevor er sich – im Rückgriff auf die vier „Megatrends in Wirtschaft und Weiterbildung“ (185ff) – für eine Erwachsenenbildung ausspricht, die sich ethisch verantwortlich im gesellschaftlichen Feld zwischen Flexibilität und Reflexivität verorten sollte.
Ohne Zweifel legt Siebert mit „Lernen und Bildung Erwachsener“ ein vielschichtiges Konzentrat erwachsenenpädagogischer Theoriebildung und bildungspraktischer Anregungen vor, das Studierenden eine Fülle an Informationen bietet und gleichzeitig erfahrene Kolleginnen und Kollegen zum Mit- und Weiterdenken auffordert. Man hätte dem Werk eine etwas sorgfältigere redaktionelle Betreuung gewünscht, um Redundanzen zu vermeiden oder auch bestimmte Exkurse und Übersichten logischer in den Text zu integrieren. Unverkennbar blitzt jedoch zwischen den Zeilen dieses mit Herzblut verfassten Werkes Sieberts eigener Anspruch auf, „Bildung vom Menschen aus“ (7) zu denken. In diesem Sinne ist Horst Siebert ein wichtiges Kompendium zur Erwachsenenbildung gelungen.
EWR 11 (2012), Nr. 4 (Juli/August)
Lernen und Bildung Erwachsener
Bielefeld: W. Bertelsmann 2011
(200 S.; ISBN 978-3-7639-4848-2; 19,90 EUR)
Ingeborg SchĂĽĂźler, Kira Nierobisch (Ludwigsburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Ingeborg SchĂĽĂźler, Kira Nierobisch: Rezension von: Siebert, Horst: Lernen und Bildung Erwachsener. Bielefeld: W. Bertelsmann 2011. In: EWR 11 (2012), Nr. 4 (Veröffentlicht am 02.08.2012), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978376394848.html
Ingeborg SchĂĽĂźler, Kira Nierobisch: Rezension von: Siebert, Horst: Lernen und Bildung Erwachsener. Bielefeld: W. Bertelsmann 2011. In: EWR 11 (2012), Nr. 4 (Veröffentlicht am 02.08.2012), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978376394848.html