EWR 16 (2017), Nr. 4 (Juli/August)

Bernhard Rathmayr
Geschichte der Liebe
Wandlungen der Geschlechterbeziehungen in der abendländischen Kultur
Paderborn: Wilhelm Fink 2016
(317 Seiten; ISBN 978-3-7705-6039-4; 39,90 EUR)
Geschichte der Liebe Bernhard Rathmayrs „Geschichte der Liebe“ ist eine historisch anthropologische Abhandlung der Geschichte der Liebe des Abendlandes – jenes Phänomens, das Biographien entzündet und Gesellschaften gestaltet. Die Liebe ist im Abendland an Sehnsucht orientiert, das ist Rathmayrs zentrale These, und er erzählt und analysiert Geschichten von Liebe als Sehnsucht. Im Sinne der historisch-kritischen Anthropologie nimmt er eine doppelte Historisierung und Kulturalisierung in den Blick: zum einen berücksichtigt er die historisch und kulturell bedingten Variationen der Ideen und Performances von Liebe, zum anderen die Historizität und Kulturalität ihrer Theoretisierung. Die Geschichte der Liebe verläuft nicht linear, doch lässt sie sich gerade an den Verschiebungen zweier zentraler Aspekte nachzeichnen, die sie charakterisieren: das sind (1.) die genealogische und (2.) die romantische Liebe. Nach Dietmar Kamper ist die Vorstellung von der ewigen und romantischen Liebe eine Reaktion auf jene Situation der Troubadoure im Mittelalter, die versucht haben, durch die Minnelyrik die Unmöglichkeit einer Hochzeit mit einer wohlhabenden Frau zu kompensieren. Am Gegensatz von ehelicher Treue und leidenschaftlicher Liebe stellt Rathmayr die Anfänge der beiden genannten Konzeptionen, ihre Widersprüchlichkeiten, Überschneidungen und Auswirkungen auf die Gegenwart dar:

Zur Zeit Ludwigs XIII. (1610-1642) oder in den Schriften Erasmus von Rotterdams (ca. 1466-1536) zeigten sich Facetten eines unkomplizierten Umgangs mit Liebe und Sexualität und zwar parallel zur „dunklen Seite der Liebe“ (25), Formen des Umgangs mit Vergewaltigung und sexuellen Übergriffen. Rathmayr beschreibt zwei Architekturen der Liebe:

  1. Genealogische Liebe: Die Freiheit der Liebe wurde durch die „genealogische Liebe“ eingeschränkt oder unterdrückt. Männer legitimierten ihre Herrschaft über die Sexualität der Frauen mit dem Recht auf Nachkommen „reinen Blutes“. Auf ein Verhalten von Frauen, das von den patriarchalen Regeln der Männer oder des Staates abwich, wurde mit einer Dämonisierung dieser Frauen, mit Zwangsehen und anderen Gewaltakten geantwortet. Einschätzungen von Liebe in der Ehe bezogen sich auf Begehrlichkeiten und Begehren von Männern. Die direkte Gewalt von Männern gegen Frauen wurde mit der öffentlichen Kontrolle im Laufe der Zeit in moralische, innere Disziplinierung umgewandelt. Frauen wurden Männern als Eigentum zugesprochen, die gesellschaftlichen Regeln nützten vor allem Männern, ihre Vorteilnahme erfolgte überwiegend mittels Herabwürdigungen von Frauen. Ihnen wurde die Aufgabe der Besänftigung gewaltätiger Männer zugeschrieben.

  2. Romantische Liebe: Troubadoure besangen im Mittelalter ihre Liebe zu unerreichbaren adeligen Frauen und entwickelten eine Liebeslyrik, die Frauen pries und eine vermeintliche Beziehung zu ihnen verklärte. In der Realität wurde diese Liebe weder erstrebt noch erfüllt. Vielmehr ist der Gesang als Kompensation zu verstehen: Die Unerreichbarkeit und Unerfüllbarkeit von Liebe rückten ins Zentrum der Aufmerksamkeit, - ein erträglicheres Übel im Vergleich zur eigentlichen Konsequenz aus der Ausgangssituation, die eine Akzeptanz des Machtverlusts und der Unmöglichkeit, eine Frau als Besitz zu gewinnen und über ihr Vermögen zu verfügen, bedeutet hätte. Beide Varianten setzten die permanente Verfügbarkeit von Frauen voraus und stellten keine Fragen nach deren Vorstellungen und Bedürfnissen.

Die genealogische und die romantische Liebe wurden mit der moralischen Tradition der christlichen Ehe – der Eheliebe und der Familienliebe – verbunden, so Rathmayr. Mit der Stilisierung von Maria Magdalena als Sünderin und Maria als entsexualisierte Mutter fand die Fremdbestimmungen der Frauen ihre Fortsetzung. Das christliche Regelwerk, das alles Sinnliche verteufle, trug maßgeblich dazu bei, die materiellen und ökonomischen Güter der Kirche zu vergrößern. In der Eheliebe verband die Katholische Kirche das Muster der leidenschaftlichen Liebe mit der Ehe und zwar in vollem Bewusstsein um die Unmöglichkeit einer gelingenden Umsetzung. In der Familienliebe wurden Erotik mit dem Gatten auf das Kind übertragen und das Refugium der Frau – ihre Zuständigkeit für Haus und Familie – gestärkt. Seit dem 19. Jahrhundert wurden vermehrt Stimmen von Frauen gehört, die ihre erotischen Sehnsüchte und ihre Liebe zu Mann und Kind niederschrieben – so zum Beispiel Mabel Loomis Todd.

Im komplizierten Geflecht um die beiden Architekturen der Liebe im 20. Jahrhundert entwickelte sich ein besonderes Phänomen: Leidenschaft und Sexualität schlossen einander nicht mehr aus. Die „neue Romantik“, „der Siegeszug der romantischen Liebessehnsucht“ (228) habe wenig mit Realität zu tun, doch sie wurde medial mit Nachdruck inszeniert. Im Zentrum steht ein Diskurs der Treue. „Freiheit der Liebe“ wurde als ein alternativer Entwurf konzipiert. Sie fand in den Ausformungen der Sexualreformen, in Künstlerkreisen und in einem gehobenen Bürgertum Ausdruck und wurde im kommunistischen Russland bis zur Diktatur Stalins im Recht verankert. In den 1960er Jahren entstand gegen die Strukturen der NS-Zeit eine Protestbewegung für „Befreiung“ (25) der Sexualität, deren patriarchaler Struktur Frauen Eigenständigkeit und politisches Engagement entgegensetzten. – Bis in die Gegenwart finden sich Versuche, leidenschaftliche Liebe und langlebige Ehe zusammenzuführen und aufrecht zu erhalten.

Rathmayrs Buch zeigt Facetten eines sozialen Phänomens, und seine Geschichte der Liebe kann auch als eine Geschichte der Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen gelesen werden. Rathmayrs Perspektive nimmt gleichermaßen Positionen von Männern und Frauen in den Blick, die mit den Schwierigkeiten der Liebe hadern und mit den Freuden der Liebe einen Umgang finden. Die Positionen sind kulturell determiniert und historisch wandelbar – und Rathmayr sieht die Liebesordnungen der Zukunft abhängig von der gesellschaftlichen Politik, der öffentlichen Kultur und der Kulturindustrie: Werden sie die Ausübung der Liebe im 21. Jahrhundert über ihre „historisch auslaufenden Konzeptionen“ (304) begrenzen oder in ihrer Komplexität und Vielheit wahrnehmen und unterstützen?
Elisabeth Eder (Salzburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Elisabeth Eder: Rezension von: Rathmayr, Bernhard: Geschichte der Liebe, Wandlungen der Geschlechterbeziehungen in der abendländischen Kultur. Paderborn: Wilhelm Fink 2016. In: EWR 16 (2017), Nr. 4 (Veröffentlicht am 02.08.2017), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978377056039.html