EWR 7 (2008), Nr. 3 (Mai/Juni)

Gisela Miller-Kipp
"Der FĂĽhrer braucht mich"
Der Bund Deutscher Mädel (BDM): Lebenserinnerungen und Erinnerungsdiskurs
Winheim/MĂĽnchen: Juventa 2007
(215 S.; ISBN 978-3-7799-1135-7; 18,50 EUR)
"Der Führer braucht mich" In Ergänzung zu ihrem ersten Quellenband zur Geschichte und Wirkung des Bundes Deutscher Mädel (BDM) „Auch Du gehörst dem Führer“ legt Gisela Miller-Kipp nunmehr einen zweiten Band vor. Der Titel „Der Führer braucht mich“ deutet schon darauf hin, dass die Wirkungen und Effekte des Lebens in der Mädchen-Organisation des NS vorrangig in der subjektiven Perspektive der Akteurinnen selbst zugänglich gemacht werden sollen.

Nach wie vor ist das Phänomen „BDM“ für Historiker/innen schwer fassbar. Erklärungsansätze für die in der Rückschau fast durchgängige Faszination der ehemaligen Mitglieder und lebensgeschichtlich positive Wertung der erlebten Zeit im BDM werden weiterhin kontrovers diskutiert. In der politischen Öffentlichkeit werden solche Analyseprobleme dagegen kaum thematisiert; hier dominiert eher eine unkritische Betrachtungsweise der Hitler-Jugend insgesamt. Ihre herrschaftsstabilisierende Funktion und die Durchdringung aller Aktivitäten der Jugendorganisation mit der NS-Ideologie werden wenig behandelt, sondern gelten als umfassend und als unbestritten belegt.

Miller-Kipp nimmt dies zum Anlass für ihren weiteren Quellenband. Ausgemacht hat sie Formen des Umgangs mit der BDM-Geschichte, die sie in ihrem unkritischen Duktus gegenüber dem BDM „gespenstisch“ nennt (5). So erwähnt sie in ihrem Vorwort eine Internetplattform zum BDM, deren Inhalte sich in ihrer „reinen“ Faktizität und der angestrebten „Wiederaufführung“ (Reenactment) in den Gefilden des Geschichtsrevisionismus bewegen. Diesem Umgang mit Geschichte in der bekannten - gerade in Hinblick auf Diktatur- und Kriegserfahrungen oft kritisierten - Tradition der „Living History“ möchte sie mit dem vorliegenden Band „lebendige Geschichte“ durch „lebensgeschichtliche Bezüge“ entgegensetzen. Ermöglicht werden sollen „Einblicke in individuelles Erleben ebenso wie Verständnis der kollektiven Lebenslage einer ganzen Jugendgeneration“ (7).

Zunächst gibt Kapitel 1 einen kurzen Überblick über Geschichte, Aufbau und Praxis des BDM, den Miller-Kipp ebenso als systemstützende, rassistisch ausgrenzende wie - vor allem in ihrer Praxis - modernisierende Gesellungsform der weiblichen Kinder und Jugendlichen im „Dritten Reich“ begreift.

Danach führt Kapitel 2 in die Quellenedition ein. Einleitend kennzeichnet Miller-Kipp knapp den Stand der Erinnerungsforschung zum Nationalsozialismus, um im Weiteren den möglichen bildungsgeschichtlichen Ertrag einer Beschäftigung mit dem BDM unter dieser Perspektive auszuloten. Die zentrale Frage, die sie mit den vorliegenden Dokumenten beantworten möchte, lautet: „Was haben die damals eigentlich im BDM erlebt und empfunden?“ (24). An die Beantwortung dieser Frage knüpft sie die Hoffnung, Erkenntnisse über die Mechanismen und Prozesse zu erhalten, wie die Mädel für den Nationalsozialismus gewonnen werden konnten. Systematisch wird diese Frage z.T. sogleich beantwortet, indem Miller-Kipp die seit langem schon kursierende und weitgehend gut belegte These der modernisierenden Aspekte und Effekte des Lebens in der NS-Jugendorganisation - gerade für die Mädchen - verstärkt, differenziert und zuspitzt und sogar (wenn auch z.T. nichtintendierte) Emanzipationsmöglichkeiten für die Akteurinnen beschreibt.

Danach werden die Kriterien für die Auswahl und Anordnung der autobiografischen Texte dargelegt und in einem nächsten Abschnitt die Quellentexte einzeln oder zusammengefasst näher beschrieben. Dabei werden auch schon „erste zusammenfassende Interpretationen des mitgeteilten Erlebens und Fühlens vorgenommen“ (25f.).

Das Auswahlverfahren ist leider nicht ganz transparent: Erhoben wurden die Texte durch Sichtung aller autobiografischen Literatur zum „Dritten Reich“, seien es veröffentlichte (z.T. belletristische) Autobiografien, Sammelbände autobiografischer Berichte und Erzählungen, gar Internetseiten, die auf das Thema BDM hin gesichtet wurden. Unklar ist jedoch, welche Kriterien für den Abdruck der Texte entscheidend waren. Nicht ersichtlich ist leider ebenfalls, wie die (jeweils kenntlich gemachten) Auslassungen in den Texten zustande kamen und welche Botschaften die Quellen in den Auslassungen enthalten. Jenseits jeder Kritik beeindruckt indes die Vielfalt der ausgewählten 27 Texte. Zu finden sind Auszüge aus autobiografischen Texten, die mit Meldungen zur Reifeprüfung 1946/47 abgeben wurden, Teile eines Tagebuchs aus der NS-Zeit, zeitgenössische Briefe, Auszüge aus Zeitzeuginnenberichten, die zwischen 1960 und 2001 niedergeschrieben wurden, sowie Fragmente aus den relativ populären Werken von Inge Scholl, Carola Stern, Renate Finkh und Melita Maschmann. Angeordnet wurden die Texte zum einen chronologisch (nach dem Jahr der Veröffentlichung) und zum anderen sachlich gegliedert in Jugend- und Führerinnenkollektiv. Jedem Text wurde eine interpretierende Überschrift vorangestellt sowie eine Fußnote mit den vorhandenen Daten zur Autorin, zum Zeitpunkt der Niederschrift, zum Zeitpunkt der Veröffentlichung, zur Quelle des Textes. Der ausführliche Quellennachweis und Literaturteil sowie das Orts- und Personenregister erleichtern die Arbeit mit diesem Band sehr.

Kapitel 4 präsentiert nach den Quellen ein interpretatorisches Fazit der vorgestellten, abgedruckten und interpretierten Quellentexte. Miller-Kipp nennt es den „Umriss einer Gefühlsgeschichte des BDM“ (173). In Abgrenzung zu Martin Klaus’ Begriff der „Scheinidentitäten“ [1] stärkt sie hier die These einer Identitätsbildung und Gefühlslage der Mädchen, die sie in der „Dialektik (…) von Selbstbewusstsein und Selbstaufgabe, Ich-Findung und Gruppenbindung, individueller und kollektiver Identitätsbildung“ (175) verortet. Die von den Mädchen und jungen Frauen im BDM gemachten Erfahrungen sind für Miller-Kipp identitätsbildend und zwar nicht nur kollektiv, sondern auch individuell. Viele Mädchen erlebten sich erstmals als selbständig und selbstbewusst handelnde Subjekte außerhalb der Sozialisationsinstanzen Elternhaus, Schule und Kirche, weshalb Miller-Kipp den Begriff der „Kompetenzidentität“ (178) vorschlägt und im scharfen Gegensatz zu Klaus „tatsächliche ‚Subjektentfaltung’“ (ebd.) betont. Die Bindung dieser Subjekte an ein großes Ganzes, in dem sie aufgehen, erkennt sie als kollektive Identität, die zu einem bedeutenden Teil durch die ästhetischen Manipulationen der Machthaber erzeugt wurde.

Im abschließenden Kapitel 5 „Erinnerungsforschung und Erinnerungsdiskurs“ ordnet die Autorin das vorgelegte Material und ihre Interpretationen in das Feld der Erinnerungsforschung ein und stellt quellenkritische Überlegungen an. Diese bewegen sich vor allem zwischen den Polen der Authentizität und Konstruktion der Erzählungen. Miller-Kipp stellt klar, dass wir es nicht mit realienkundlichen Quellen zu tun haben und ebenso wenig mit Quellen, die die Frage nach dem Wissen über den Holocaust beantworten können. Die Texte böten tatsächlich nur Einblicke in Gefühlswelten. Hier meint sie bis auf wenige Ausnahmen einen Kern an emotionaler Ergriffenheit ausmachen zu können, der unabhängig von Textgattung, Ausmaß der NS-Affinität der jeweiligen Autorin die (unterschiedlichen) Zeiten der Niederschriften überdauerte und dabei sogar den Veränderungen in Diktion und inhaltlicher Gewichtung trotzte.

Bleibt zu betonen, dass dieser Band beeindruckende und auch bedrückende Dokumente zum Aufwachsen in der Zeit des Nationalsozialismus anbietet, die m.E. insbesondere Einblicke in gruppenpsychologische Vorgänge um die Person der Führerin und auch den Widerstreit der verschiedenen Erziehungsinstanzen Elternhaus, Schule und BDM auf subjektiver Ebene eröffnen. Das Phänomen „BDM“ wird – Dank der jahrzehntelangen Beharrlichkeit der Autorin – ebenso wieder ein Stück versteh- wie begreifbarer. Auf den provozierten Diskurs darf man gespannt sein.

[1] Klaus, Martin (1983): Mädchen im Dritten Reich. Der Bund deutscher Mädel. Köln.
Jane Schuch (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Jane Schuch: Rezension von: Miller-Kipp, Gisela: "Der FĂĽhrer braucht mich", Der Bund Deutscher Mädel (BDM): Lebenserinnerungen und Erinnerungsdiskurs. Winheim/MĂĽnchen: Juventa 2007. In: EWR 7 (2008), Nr. 3 (Veröffentlicht am 03.06.2008), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978377991135.html