EWR 11 (2012), Nr. 6 (November/Dezember)

Ilka Quindeau / Micha Brumlik (Hrsg.)
Kindliche Sexualität
Weinheim / Basel: Juventa 2012
(224 S.; ISBN 978-3-7799-1552-2; 19,95 EUR)
Kindliche Sexualität Die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes widmen sich dem Thema „kindliche Sexualität“ in einer interdisziplinären Perspektive. Notwendig erscheint dies den Herausgebern, da dieses Thema auch mehr als 100 Jahre nach Sigmund Freuds Theorie zur psychosexuellen Entwicklung einen „dunklen Kontinent“ (Gunter Schmidt) darstellt. Die Grenzen dieses „dunklen Kontinents“ werden zum einen durch die fehlende Akzeptanz bzw. die Verdrängung der Vorstellung eines sexuell aktiven Kindes markiert, andererseits durch das noch immer begrenzte wissenschaftlich fundierte Wissen über die Entwicklungen und Ausgestaltungen einer kindlichen Sexualität. Schließlich, so könnte erweitert werden, herrscht auch im Bereich der Publikationen zu diesem Themenbereich „Dunkelheit“. Das Tabu über die kindliche Sexualität wird – so scheint es – auch gegenwärtig erst aufgehoben, wenn die negativen Seiten der Sexualität thematisiert werden. Zu diesen zählt seit den 1980er Jahren vor allem der sexuelle Kindesmissbrauch, der das Thema kindliche Sexualität stark in den Fokus einer „Gefahrenpädagogik“ gerückt hat, in deren Folge die Sexualerziehung vor allem das „Nein-Sagen“ vermittelte. Positive Darstellungen zur kindlichen Sexualität, zu ihren Ausdrucksformen, ihrer Förderung und Entwicklung sucht man dagegen beinahe vergebens. Neben dem Sammelband von Ilka Quindeau und Micha Brumlik erschien in den letzten Jahren zu diesem Themenbereich lediglich ein weiteres Buch [1].

Die Beantwortung der Frage, „was unter kindlicher Sexualität zu verstehen ist und ob und welche Sexualität Kindern überhaupt gut tut“ erklären die Herausgeber zum ausdrücklichen Ziel des Buches (7). Die versammelten Beiträge, die aus der Erziehungswissenschaft, der Soziologie, der Kindheitsforschung, der Psychoanalyse, aber auch dem klinischen Feld, der Theologie und der pädagogischen Praxis stammen, sollen in einem ersten Teil Konzepte kindlicher Sexualität der jeweiligen Disziplinen und Diskurse vorstellen. Der zweite Teil des Buches richtet den Fokus auf die Praxis und will Strategien und Modelle aufzeigen, „wie die sexuelle Entwicklung als Teil der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes angemessen und professionell begleitet werden kann“ (8).

Eröffnet wird der Sammelband mit einem einführenden Beitrag von Micha Brumlik, der aufzeigt, wie randständig das Thema „kindliche Sexualität“ vor allem in der Entwicklungspsychologie behandelt wird. In den wichtigen Handbüchern und Lexika dieser Disziplin wird es entweder überhaupt nicht thematisiert oder aber auf die Entwicklung und den Erwerb der Geschlechtsrollen reduziert. Dient die Psychoanalyse in diesen Darstellungen als Referenztheorie, wird sie sogleich diskreditiert und als überholt abgewertet. In dem vorliegenden Sammelband dagegen liegt die Psychoanalyse den meisten Beiträgen als theoretischer Bezug zugrunde.

Ilka Quindeau bezieht sich in ihrem Beitrag explizit auf das Freudsche Modell, diskutiert die Chancen aber auch Grenzen dieses Ansatzes und erweitert ihn um die Allgemeine Verführungstheorie von Laplanche. Sie plädiert dafür, nicht länger von einem zweizeitigen Ansatz der Sexualentwicklung auszugehen, also von einer klaren Trennung und qualitativen Differenzierung zwischen kindlicher (sexueller) und erwachsener (genitaler) Sexualität. Stattdessen sollte die Sexualentwicklung als „fortlaufende Umschrift“ verstanden werden. Damit meint Quindeau, dass sich auf der Basis der in der frühkindlichen Sexualentwicklung entstandenen Befriedigungsmuster Sozialisationserfahrungen in den Körper einschreiben. Während des Lebenslaufs wird die Sexualität in Folge psychischer und sozialer Faktoren fortlaufend neu- und umgestaltet, also im Sinne einer „Umschrift“ ausgebildet (42).

Eine dezidierte Darstellung der historischen Entwicklung der Psychoanalyse sowie der Genese wissenschaftlicher Diskurse über die kindliche Sexualität liefern die Beiträge von Gunter Schmidt und Julia König. Beide Aufsätze diskutieren die Modelle von Albert Moll (homologe Position) und Sigmund Freud (heterologe Position). Schmidt betont die Unterkomplexität des Mollschen Ansatzes und betont, dass sich das heterologe Modell in der Sexualwissenschaft durchgesetzt hat. Die Bedeutung von sozialen Erfahrungen, einhergehend mit Ängsten und Konflikten, wird in den Konzepten der „intrapsychischen sexuellen Skripte“ und „Lovemaps“ gefasst, die Strukturen des Verlangens beschreiben und sich von Geburt an entwickeln, aber ab der Pubertät sexualisiert werden. Mit Hilfe dieser Ansätze kann auch die unterschiedliche Bedeutung von Pornografie für Jugendliche erklärt werden: diese Bilder treffen auf bereits vorhandene Strukturen und erzeugen somit keine eigenen Skripte (68). König verweist auf die Problematiken bei der Erforschung des sexuellen Verhaltens von Kindern, das immer nur aus der Perspektive Erwachsener interpretiert werden könne, aber keine Aussagen zum inneren Erleben der Kinder zulasse. Sie schlägt deshalb vor, eine Theoretisierung kindlicher Sexualität durch eine Vermittlung des Körperkonzepts von Judith Butler sowie der Kulturtheorie Alfred Lorenzers vorzunehmen. Kindliche Sexualität wäre demnach von Beginn an durch gesellschaftliche Machtbeziehungen hergestellt und ließe sich zugleich begreifen als „der psychische Niederschlag des lebenspraktischen Interagierens zwischen den Bedürfnissen des Kindes und der sozialen Praxis, welche elterliche Bezugspersonen an das Kind herantragen“ (107).

Auf das Problem des erwachsenenzentrierten Sexualitätsbegriffs geht auch Michael Sebastian Honig ein. Aus der Perspektive der „childhood studies“ macht er den Begriff der „verkörperten Kindheit“ stark, um Sexualität nicht länger als „Tatsache der inneren Natur“ zu interpretieren, sondern als soziale und kulturelle Praxis, die hergestellt wird – und zwar von Kindern in body reflexive practices (53f).

Den zweiten Teil des Buches eröffnet Ulrike Schmauch, die darauf aufmerksam macht, dass sich homosexuelle Gefühle bereits im Kindesalter entwickeln können. Um Kinder in ihrer Genese – unabhängig davon, ob sie homo- oder heterosexuelles Begehren zeigen – zu stärken, sei es wichtig, dass in pädagogischen Einrichtungen gleichgeschlechtliche Lebensweisen und Gefühle als ebenso selbstverständlich angenommen und kommuniziert werden wie heterosexuelle.

Im Rahmen der negativen Seiten der Sexualität wird auch immer wieder auf das Problem grenzverletzender Kinder und Jugendlicher verwiesen. Bettina Schuhrke stellt in ihrem Artikel Forschungsergebnisse zu diesem Themenkomplex vor und verweist zugleich auf die Schwierigkeit, „normales“ und „problematisches“ sexuelles Verhalten zu definieren und voneinander abzugrenzen. Anja Tervooren zeigt anhand einer Studie wie 10-13 Jährige ihre sexuelle Identität innerhalb von Freundschaften und Cliquen bei gleichzeitiger Abgrenzung vom anderen Geschlecht aufbauen, einüben und sich dabei dem Muster der Heterosexualität annähern.

Den Abschluss des Bandes bildet ein Beitrag von Volkmar Sigusch zum sexuellem Missbrauch, der für eine stärkere Differenzierung der Täter, Opfer und Folgen plädiert, um dem breiten Spektrum des Missbrauchs gerecht werden zu können, aber auch für eine Enttabuisierung des Themas kindliche Sexualität, da nur so die sexuelle Gewalt zukünftig verhindert werden könne (219).

Insgesamt spannt der Sammelband einen breiten thematischen und interdisziplinären Bogen, der sowohl theoretische Diskurse als auch Aspekte der pädagogischen Praxis umfasst und damit einen gelungenen Einblick in den Themenkomplex der kindlichen Sexualität bietet. Der Anspruch der Autoren, Strategien und Modelle für die pädagogische Praxis zu liefern, hätte stärker verwirklicht werden können. Dennoch kann das Buch Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftlern sowie pädagogischen Fachkräften ein Grundwissen zur kindlichen Sexualität und damit mehr Sicherheit im pädagogischen Alltag vermitteln.

[1] Burian-Langegger, Barbara (Hrsg.) (2005): Doktorspiele. Die Sexualität des Kindes. Wien: Picus Verlag
Christin Sager (Hildesheim)
Zur Zitierweise der Rezension:
Christin Sager: Rezension von: Quindeau, Ilka / Brumlik, Micha (Hg.): Kindliche Sexualität. Weinheim / Basel: Juventa 2012. In: EWR 11 (2012), Nr. 6 (Veröffentlicht am 28.11.2012), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978377991552.html