EWR 19 (2020), Nr. 1 (Januar / Februar)

Tanja Betz/ Sabine Bollig/ Magdalena Joos/ Sascha Neumann (Hrsg.)
Gute Kindheit
Wohlbefinden, Kindeswohl und Ungleichheit
Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2018
(252 S.; ISBN 978-3-7799-1558-4; 34,95 EUR)
Gute Kindheit Der Sammelband widmet sich dem Thema „guter Kindheit“ in der bisherigen Kindheitsforschung. Ausgehend von der Perspektive einer sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung haben die Herausgeber*innen BeitrĂ€ge versammelt, die sich mit der Frage beschĂ€ftigen, in welcher Weise „gute Kindheit“ in „unterschiedlichen Forschungs-, Diskussions- und Praxisfeldern“ (11) implizit oder explizit thematisiert wird. Dabei fokussiert der Band drei Diskurse, die jeweils sowohl gesamtgesellschaftlich als auch wissenschaftlich bedeutsam sind und die als „Kristallisationspunkte“ (11) der Auseinandersetzungen um „gute Kindheit“ verstanden werden. In diese drei Schwerpunkte fĂŒhren die Herausgeber*innen in der Einleitung gekonnt ein, verbunden mit ausfĂŒhrlichen Zusammenfassungen der BeitrĂ€ge, die diese auch so weit wie möglich auf die Fragestellung des Bandes beziehen. In einer Pendelbewegung zwischen der zentralen Frage einerseits und der AnschlussfĂ€higkeit an die bereits bestehenden wissenschaftlichen Diskussionslinien andererseits ist mit der Einleitung in den Band ein höchst instruktiver Text entstanden, der den gegenwĂ€rtigen Stand zum Thema gut abbildet.

Der erste Teil beschĂ€ftigt sich mit ‚child well-being‘ bzw. dem Wohlbefinden von Kindern. Hier geht es um Sozialberichterstattungen ĂŒber Kinder und darauf bezogene Politiken in einem sowohl international als auch in Deutschland gefĂŒhrten Diskurs. Die Frage des Bandes stellt sich dabei in der Form, „welche Konstruktionen ‚guter Kindheit‘ den ForschungsansĂ€tzen, Indikatorenmodellen und Berichtssystemen zugrunde liegen und welche Funktionen und bisweilen auch Konsequenzen damit verbunden sind“ (13). In den Blick genommen werden die deutschen Kinder- und Jugendberichte (Joos), die internationalen Berichtssysteme von UNICEF und der OECD, das amerikanische KIDS COUNT (Betz) sowie unterschiedliche Well-being-Konzepte zwischen Forschung und Politik (Andresen).

Der zweite Teil beschĂ€ftigt sich mit dem Diskurs zum Kindeswohl in Deutschland. Den Herausgeber*innen zufolge ist dieser Diskurs vor allem auf die GefĂ€hrdung des Kindeswohls und den damit verbundenen Kinderschutz fokussiert. Als Ziel dieses Teils markieren sie folglich, „das Konzept Kindeswohl, seine AusprĂ€gungen, VerstĂ€ndnis- und Funktionsweisen“ sowie seine „Ambivalenzen und Paradoxien“ (17) herauszuarbeiten. Die hier versammelten BeitrĂ€ge stĂŒtzen sich zum einen auf Analysen rechtlicher Normen und ihrer Anwendung (Scheiwe; SutterlĂŒty) und zum anderen auf die Auseinandersetzung mit Problemstellungen im Kinderschutz (Seckinger/Pooch/Mairhofer; HĂŒnersdorf; Alberth).

Der dritte Teil fokussiert den Zusammenhang von „guter Kindheit“ und sozialer Ungleichheit. Es geht um die Frage, „wie die Vorstellungen einer ‚guten Kindheit‘ mit der gesellschaftlichen (Re-)Produktion ungleicher LebensverhĂ€ltnisse verknĂŒpft sind und welche Kinder davon auf welche Art und Weise in unterschiedlichen Kontexten [
] betroffen sind“ (21). Hier benennen die Herausgeber*innen eine Schwerpunktsetzung der BeitrĂ€ge auf theoretische und methodische ZugĂ€nge zu ungleichen Kindheiten. Die thematische Spannbreite reicht von Analysen der elterlichen Gestaltung von Bildungs- und Betreuungsarrangements (Knoll) ĂŒber die Problematisierung forscherischer ZugĂ€nge zu segregierten Kindheiten in Kindertageseinrichtungen (Hogrebe), theoretische und methodologische Sondierungen zur Erschließung des VerhĂ€ltnisses von Kindsein und Milieu (Kayser) sowie intersektionale Analysen zum Zusammenhang von Ungleichheitserleben und Wohlergehen (Hunner-Kreisel/MĂ€rz) bis hin zu vergleichenden Analysen des Sprechens ĂŒber Kinder in Kindertageseinrichtung und Grundschule mit Bezug auf Migration (Machold/Carnin).

Der Band stellt eine beachtenswerte BĂŒndelung aktueller kindheitsanalytischer Arbeiten aus den drei Diskursfeldern kindliches Wohlbefinden, Kindeswohl/Kinderschutz und ungleiche Kindheiten dar, wobei die BeitrĂ€ge durchgĂ€ngig eine hohe QualitĂ€t und gute Lesbarkeit aufweisen. Somit wird in dieser Weise erstmalig der gegenwĂ€rtige Stand von Analysen zu „guter Kindheit“ zusammengefĂŒhrt. Mit dieser Zusammenschau wird ermöglicht, den durchaus heterogenen Arbeitsstand zu diesem Topos in den aufgegriffenen thematischen Feldern zu erschließen, denn – so wird im Durchgang durch die BeitrĂ€ge deutlich – in den drei Forschungsbereichen selbst ist ein solcher Fokus auf „gute Kindheit“ bisher unterschiedlich stark ausformuliert. Diese heterogene Ausgangslage holen die Herausgeber*innen dergestalt ein, dass sie in ihrer Einleitung die gemeinsame Fragestellung des gesamten Bandes fĂŒr die drei Teile jeweils wie dargestellt konkretisieren. Angesichts dessen, dass hier drei bislang disparate Diskurse unter der Frage nach normativen Mustern „guter Kindheit“ miteinander verbunden werden, ist die Relevanz eines solchen BrĂŒckenschlages nicht zu unterschĂ€tzen.

Durch den Band wird auch deutlich, dass hier insgesamt ein recht großes Themenfeld eröffnet wird und das Zusammendenken der Frage nach Mustern „guter Kindheit“ mit vorliegenden Forschungsarbeiten nicht in allen FĂ€llen einfach zu leisten ist. Allgemein scheinen die einzelnen AufsĂ€tze diese zentrale Frage des Bandes in dreierlei Weise verfolgt zu haben. Erstens richten sich einige BeitrĂ€ge direkt darauf, Vorstellungen, Muster oder Konstruktionen „guter Kindheit“ in den jeweils betrachteten empirischen Materialien oder Diskursen herauszuarbeiten (Joos; Betz; Hogrebe; Machold/Carnin). Sie verfolgen die Frage nach „guter Kindheit“ also unmittelbar in den eigenen materialen Analysen. Zweitens dient die Frage nach kindheitsbezogenen Normativen als Rahmen, innerhalb dessen vorliegende Beobachtungen und Analysen (neu) gedeutet werden, die ausgehend von einer anderen Fragestellung erarbeitet wurden (Scheiwe; HĂŒnersdorf; Knoll). Drittens finden sich Arbeiten zu ‚child well-being‘, Kindeswohl oder ungleichen Kindheiten, die BeitrĂ€ge zu diesen jeweiligen Schwerpunkten formulieren, ohne selber einen direkten Bezug zur Frage nach Mustern „guter Kindheit“ herzustellen (Andresen; SutterlĂŒty; Seckinger/Pooch/Mairhofer; Alberth; Kayser; Hunner-Kreisel/MĂ€rz).

In den einzelnen BeitrĂ€gen ist somit zu beobachten, dass der Bezug auf die Frage nach „guter Kindheit“ unterschiedlich eng ausfĂ€llt. Das tut zwar dem Gesamtprojekt keinen Abbruch, verweist es doch vielmehr darauf, dass ein Nachdenken ĂŒber Konstruktionen und insbesondere normative Muster von Kindheit in den aufgerufenen Diskursfeldern und den diesbezĂŒglichen Analysen bislang in unterschiedlicher IntensitĂ€t vorzufinden ist. Schade ist dieser fehlende RĂŒckbezug auf die gemeinsame Fragestellung des Bandes in einigen BeitrĂ€gen dennoch, denn es wĂ€re gerade interessant, die reichhaltigen materialen Analysen und Überlegungen, die auch dort in dichter Form versammelt sind, unter der Perspektive zu lesen und weiterzudenken, welche Erkenntnisse ĂŒber Vorstellungen und Muster „guter Kindheit“ darin jeweils enthalten sind bzw. sich dahingehend zuspitzen lassen.

Mit dem Band wird schlussendlich zweierlei deutlich: Zum einen zeigt er das kritisch-reflexive Potenzial der analytischen Auseinandersetzung mit Kindheitskonstruktionen angesichts des spezifischen Gegenstands „guter Kindheit“. Zum anderen zeigt er, dass solcherlei Analysen noch keinesfalls umfassend ausformuliert sind. Es wird damit ein auch zukĂŒnftig relevantes Forschungsthema markiert, dem sich die Kindheitsforschung eingehender widmen sollte – sprich der NormativitĂ€t von KindheitsentwĂŒrfen, -vorstellungen und -mustern. Es wurde hier im Kontext der sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung entwickelt und konturiert und wird nachvollziehbarerweise von den Herausgeber*innen programmatisch auch zukĂŒnftig dort verortet.

In seiner Gesamtheit stellt der vorliegende Band einen wichtigen Beitrag zur Diskussion und reflexiven Einholung kindheitsbezogener normativer Konstrukte in drei diskursiven Feldern zwischen Wissenschaft und Forschung, Politik, Recht, Fachpraxis und Öffentlichkeit dar. Es ist zu wĂŒnschen, dass die enthaltenen VorschlĂ€ge und AnknĂŒpfungspunkte fĂŒr weiterfĂŒhrende Forschung zu „guter Kindheit“ aufgegriffen werden und so weitere Arbeiten entstehen, die zur stĂ€rkeren Reflexion der Kindheitsmuster in diesen und anderen Feldern beitragen.
Susanne Siebholz (Halle)
Zur Zitierweise der Rezension:
Susanne Siebholz: Rezension von: Betz, Tanja / Bollig, Sabine / Joos, Magdalena / Neumann, Sascha (Hg.): Gute Kindheit, Wohlbefinden, Kindeswohl und Ungleichheit. Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2018. In: EWR 19 (2020), Nr. 1 (Veröffentlicht am 18.03.2020), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978377991558.html