EWR 17 (2018), Nr. 5 (September/Oktober)

Anna Fangmeyer/ Johanna Mierendorff (Hrsg.)
Kindheit und Erwachsenheit in sozialwissenschaftlicher Forschung und Theoriebildung
Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2017
(200 S.; ISBN 978-3-7799-1559-1; 29,95 EUR)
Kindheit und Erwachsenheit in sozialwissenschaftlicher Forschung und Theoriebildung Analysen zur sozialen und zur pädagogischen Konstruktion von Erwachsenheit sind nach wie vor eine Seltenheit. Angesichts der Breite und Differenziertheit etablierter Ansätze erziehungswissenschaftlicher und soziologischer Kindheits-, Jugend- und Alter(n)sforschung stößt dieser Umstand immer wieder auf Verwunderung und auf Kritik (vgl. etwa [1] oder [2]). Dass sich mit dem vorliegenden Tagungsband nun ausgerechnet die Sektion „Soziologie der Kindheit“ der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) mit Konstruktionen der Erwachsenheit befasst, mag auf den ersten Blick erstaunen. Die Perspektive aus der heraus diese Thematisierung erfolgt, ist allerdings bei näherem Hinsehen naheliegend und in der Art und Weise, wie sie in den 10 Beiträgen zum Band facettenreich entfaltet wird, erweist sie sich zudem als ausgesprochen produktiv und weiterführend.

Bestimmt man Erwachsenheit, wie die Herausgeberinnen des Bandes überzeugend argumentieren, als die notwendig immer mitgeführte andere Seite der Differenzfigur Kinder|Erwachsene – „Kind ist, wer kein Erwachsener ist – und umgekehrt“ (7) –, so wird es gerade auch für methodologische Reflexionen der Kindheitsforschung unverzichtbar, die eigene Verwobenheit in dieses Differenzverhältnis systematisch in den Blick zu nehmen. Eine solche kritische Befragung des Umgangs mit der Differenz von Kindheit und Erwachsenheit sei – so die Herausgeberinnen – für die Kindheitsforschung keineswegs gänzlich neu, im Rahmen des vorliegenden Bandes wende sie sich aber erstmals dezidiert auch der anderen Seite der Unterscheidung – eben der Erwachsenheit – zu.

Die im Band versammelten, häufig anhand empirischer Daten ausgeführten Überlegungen sind in ihrer Prägnanz und Sorgfalt nicht nur für eine solche Reflexion theoretisch interessierter empirischer Kindheitsforschung aufschlussreich. Die Art und Weise, in der die Kindheitsforschung in diesem Band versucht, ihren blinden Fleck auszuleuchten, bietet darüber hinaus auch vielfältige Anregungen für eine nach wie vor ausstehende soziologische und erziehungswissenschaftliche Erwachsenheitsforschung.

In ihrer Befassung mit der zunächst fast simpel anmutenden binären Unterscheidung von Erwachsenheit und Kindheit erarbeiten die Autor_innen des Bandes vielfältige Thematisierungsperspektiven. Die Differenz wird von unterschiedlichen Seiten und aus unterschiedlichen Standpunkten in den Blick genommen.

Am einen Ende des weit aufgespannten Thematisierungsfeldes stehen Beiträge, in deren Mittelpunkt dezidiert Figuren der Erwachsenheit ausgemessen werden. Heinz Hengst befasst sich mit dem „Leben der Anderen“, wobei er hier nicht etwa die Kinder, sondern die Erwachsenen als die unbekannten Fremden näher betrachtet. Er rezipiert neuere englischsprachige Diskussionen, die sich kritisch mit Vorstellungen einer „standard adulthood“ auseinandersetzen und empirisch nach der pluralen Gleichzeitigkeit koexistierender „Wege des Erwachsenseins“ fragen. Hengst stellt heraus, dass die in solchen Studien untersuchten grundlegenden Veränderungen von Erwachsenheit auch in der Kindheitsforschung mitberücksichtigt werden müssen. Sonst könnten Beobachtungen als kindheitstypisch missinterpretiert werden, die eigentlich aus lebensalterübergreifenden Wandlungsprozessen resultieren. Dies illustriert er am Beispiel der Expansion populärer Jugendkultur über Lebensalter und Milieus hinweg, vor deren Hintergrund sich neue Distinktionspraxen unter Erwachsenen entwickeln, die nicht länger entlang der Differenz von Hochkultur vs Populärkultur zu fassen sind.

Den gegenüberliegenden Pol des Thematisierungsfeldes bilden Beiträge, die sich vor dem Hintergrund der Differenz Erwachsenheit|Kindheit gerade einer Klärung des Verständnisses von Kindheit zuwenden. So beschäftigt sich Theresa Berends in einer rechtstheoretischen Analyse mit der Form der Kinderrechte. Sie vertritt die These, dass die in der gegenwärtigen Diskussion gängige Analogisierung zwischen Erwachsenen und Kindern als Rechtsubjekte zu kurz greift und zeigt überzeugend auf, dass die scheinbar stattfindende Adultisierung des Rechtsstatus von Kindern bei genauerem Hinsehen keineswegs eine Aufhebung, sondern vielmehr eine veränderte Form der Reproduktion der Differenz von Kindheit und Erwachsenheit bedeutet.

Zwischen diesen Polen bewegen sich Beiträge die sich dezidiert dem wechselseitigen Bezogen-Sein von Kindheits- und Erwachsenheitskonstruktionen zuwenden. In mehreren Beiträgen wird nach der Hervorbringung des Verhältnisses von Erwachsenheit und Kindheit in Interaktionssituationen im frühpädagogischen Feld gefragt.

Helga Kelle und Anja Schweda-Möller befassen sich mit der methodologischen Frage, wie es möglich wird, im empirischen Analysen zur Kindheitsforschung die Differenz Kindheit|Erwachsenheit einerseits nicht zu reifizieren, andererseits aber auch nicht zu negieren. Ihr Vorschlag, die Prozesse der Herstellung dieser Differenz gerade dadurch in den Blick zu nehmen, dass diese nicht unmittelbar in den Mittelpunkt der Analyse gestellt werden, ist überzeugend. Indem zunächst die je situativen Praktiken der Hervorbringung pädagogischer Situationen in den Blick genommen werden und erst dann nach der Bedeutsamkeit (oder auch Nicht-Bedeutsamkeit) von Altersgruppendifferenzen gefragt wird, kann deutlich gemacht werden, dass solche Differenzen nie allein für sich relevant werden, sondern dass sie erst im Zusammenspiel mit weiteren Differenzen und Differenzierungen ihre Wirksamkeit entfalten. Sascha Neumann untersucht anhand empirischen Materials, wie in frühpädagogischen Interaktionen im Sinne eines „doing adulthood“ Erwachsene als Erwachsene hervorgebracht werden. Über diese kindheitstheoretisch zunächst abseitig erscheinenden Beobachtungen skizziert er ein Verständnis von Kindheit, das Kinder gerade als diejenigen betrachtet, die noch nicht so sind, wie Erwachsene, an die aber die Erwartung herangetragen wird, dass sie zu solchen werden (sollen). Oliver Schnorr und Claudia Seele untersuchen die Frage, welche Rolle Praktiken des Schreibens für die Verhandlung von Erwachsenen-Kind-Verhältnissen in frühpädagogischen Interaktionen zukommt. Methodisch interessant ist, dass sie hierfür systematisch auch den Umgang mit Differenzen zwischen Erwachsenen aufgreifen, nämlich zwischen der Erwachsenheit des pädagogischen Personals und der Erwachsenheit der teilnehmend Beobachtenden, die sich beide durch ihren Umgang mit Schrift von den Kindern abheben, sich aber in der Art und Weise ihres Umgangs auch noch einmal voneinander unterscheidbar machen. In einer lebenslauftheoretisch aufschlussreichen Analyse zeigt Christoph Burmeister am Beispiel emotionaler Kompetenz die diskursive Verwobenheit von Praktiken biographischer Reflexion Erwachsener mit Praktiken des präventiven Beobachtens von Kindern auf.

Im Band finden sich darüber hinaus auch Beiträge, die sich gezielt der Frage zuwenden, welche Bedeutung der Differenz von Erwachsenheit und Kindheit für die Konstitution von Kindheitsforschung zukommt. Torsten Eckermann fokussiert Möglichkeiten und Grenzen, die sich mit der Verwendung der Unterscheidung von Kindheit und Erwachsenheit als einer Beobachtungskategorie ergeben. Anna Fangmeyer befragt die für Kindheitsforschung konstitutive Problematisierung des Verhältnisses von Erwachsenheit der Forschenden und Kindheit der Beforschten auf die in ihr selbst eingelagerten vorgängigen Implikationen. Florian Eßer befasst sich mit Lesarten des Wandels hin zu einer „neuen“ neuen (sic!) sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung, ohne allerdings explizit auf Konstruktionen der Differenz zwischen Kindheit und Erwachsenheit einzugehen.

Schließlich finden sich auch Aufsätze, die für eine Dethematisierung der Differenz plädieren. Markus Kluge fragt nach der Bedeutung der Akteurs-Netzwerk-Theorie für veränderte Konstruktionen von Kindheit und argumentiert dafür, diese Bedeutung dezidiert jenseits einer generationalen Einordnung zu untersuchen.

Angesichts der durchgängig hohen Qualität der einzelnen Beiträge, der fokussierten Themenstellung und dennoch kontrastreichen Vielfalt aufgeworfener Perspektiven, sei der Band zwei Leserschaften empfohlen. Kindheitsforscherinnen und -forschern bietet er eine Erweiterung des Horizonts der in diesem Feld ohnehin schon differenzierten und reflektierten methodologischen Diskussion. Darüber hinaus bietet er Anregungen für all diejenigen Erziehungswissenschaftlerinnen und Erziehungswissenschaftler, die sich mit Lebensalters- und Generationskonstruktionen befassen, dies sowohl auf der gegenstandstheoretischen, insbesondere aber auch auf der methodologischen Ebene. Die immer wieder neu erfrischenden Irritationen von Selbstverständlichkeiten von Erwachsenheitsvorstellungen enthalten Anregungen für weitere theoretische und empirische Analysen, so dass dem Band angesichts des drängenden Bedarfs an teildisziplinübergreifenden erziehungswissenschaftlichen Forschungen zu Lebensalterkonstruktionen eine breite Rezeption zu wünschen ist.


[1] Dinkelaker, J. / Kade, J. (2013): Stichwort: Der Erwachsene. In: DIE - Zeitschrift fĂĽr Erwachsenenbildung 4/2013, S. 16-17.
[2] Wolf, G. (2014): Zur Konstruktion des Erwachsenen. Grundlagen einer erwachsenenpädagogischen Lerntheorie. 2. Auflage. Wiesbaden: Springer VS.
Jörg Dinkelaker (Halle/Saale)
Zur Zitierweise der Rezension:
Jörg Dinkelaker: Rezension von: Fangmeyer, Anna / Mierendorff, Johanna (Hg.): Kindheit und Erwachsenheit in sozialwissenschaftlicher Forschung und Theoriebildung. Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2017. In: EWR 17 (2018), Nr. 5 (Veröffentlicht am 31.10.2018), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978377991559.html