EWR 18 (2019), Nr. 4 (Juli/August)

Daniel Hofstetter
Die schulische Selektion als soziale Praxis
Aushandlungen von Bildungsentscheidungen beim Ãœbergang von der Primarschu-le in die Sekundarstufe I
Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2017
(310 S.; ISBN 978-3-7799-1594-2; 34,95 EUR)
Die schulische Selektion als soziale Praxis Die in der Reihe Bildungssoziologische Beiträge veröffentlichte Dissertation von Daniel Hofstetter befasst sich mit dem beim Übergang von der Grundschule in die Sekundarstufe I ablaufenden Selektionsprozess. Um Einsichten in die Black Box schulischer Selektion zu gewinnen, wählte Hofstetter einen ethnografischen Zugang, mithilfe dessen er offenlegen möchte, „wie zwischen den beteiligten sozialen Akteurinnen und Akteuren im Verlauf der Zeit Bildungsentscheidungen getroffen werden“ (42). Das Buch ist in sieben Hauptkapitel untergliedert, die den Ablauf und die Ergebnisse der Studie klar strukturiert präsentieren.

Im ersten Kapitel werden verschiedene theoretische Ansätze zur Erklärung sozialer Ungleichheiten vorgestellt, wobei die Entwicklung der wissenschaftlichen Aufarbei-tung des Themenbereichs chronologisch nachgezeichnet wird. Hofstetter knüpft mit seiner Studie an die Arbeiten von Bourdieu/Passeron sowie Cicourel/Kitsuse an, die den Blick nicht primär auf die Perspektive individueller Akteure (Kinder und Eltern) richten, sondern vor allem auf die Seite der institutionellen Akteure (Lehrkräfte, Schuldirektoren) und strukturellen Rahmenbedingungen (Bildungssystem, Übergangsregelungen usw.).

Das zweite Kapitel stellt die methodische Anlage der Studie vor. Nach einem Überblick zu den derzeitigen Rahmenbedingungen des Übergangs von der Primarschule in die Sekundarstufe I im Schweizer Kanton Freiburg werden die zentralen Fragestellungen der Untersuchung vorgestellt und die Vorgehensweise der ethnografischen Datenerhebung detailliert dargelegt. Hofstetter begleitete 45 Kinder aus zwei Schulklassen über einen Zeitraum von drei Jahren hinweg auf ihrem Weg durch das Selektionsverfahren. Neben der kontinuierlichen Beobachtung von Interaktionen im Rahmen des Schulalltags und der Durchführung von Interviews mit Lehrkräften und weiteren Bildungsverantwortlichen dienten ihm auch Elternabende und Informationsveranstaltungen, Gespräche mit Eltern, Lehrkräften und Schuldirektoren sowie zahlreiche schriftliche Dokumente (u.a. Zeugnisse) als Informationsquellen. Mit dem gesammelten Datenmaterial rekonstruierte er die Schullaufbahnen der Kinder ab dem Eintritt in die Schule und bildete den dabei ablaufenden Klassifizierungsprozess im Zeitverlauf bis hin zur Übergangsentscheidung und dem Wechsel in die Sekundarstufe I ab.

Im dritten Kapitel wird die Entwicklung des Freiburger Bildungssystems hinsichtlich der für den Übergang relevanten Selektionskriterien von den 1970er Jahren bis 2011 skizziert. Besonders hervorzuheben ist dabei die Analyse der jeweils angestrebten sowie der tatsächlich realisierten Übertrittsquoten, welche sich trotz variierender Übergangskriterien als sehr zeitstabil herausstellen. Ferner zeigt Hofstetter anhand ausgewählter Fallbeispiele auf, dass einige Kinder bei gegebenen Leis-tungen je nach Verfahren einem anderen Bildungsgang zugewiesen würden.

Das vierte Kapitel befasst sich mit der sog. „Protoselektion“ (109), worunter Hofstetter die dem Übergang vorausgehende Phase im Bildungsverlauf versteht, in der das Schulpersonal Informationen über die Kinder sammelt und sie so bereits im Vorfeld des eigentlichen Selektionsverfahrens in eine Rangfolge bringt. Neben der Leis-tungsentwicklung des Kindes und den in Zeugnissen und Prüfungen dokumentierten Noten kommt dabei insbesondere der von den Eltern ausgeübten Berufstätigkeit ein besonderer Stellenwert zu, da die Lehrkräfte diese Information zur Konstruktion ihres Bildes von der elterlichen Bildungserwartung und den Unterstützungsmöglichkeiten der Kinder heranziehen. Mithilfe ihrer Wahrnehmung der Eltern antizipieren die Lehrkräfte potenzielle Konflikte um die Positionierung des Kindes. Die so-ziale Stellung der Familie beeinflusst zudem die Machtverhältnisse (d.h. Dominanz bzw. Unterordnung) im Elterngespräch, was Hofstetter anhand stimmig ausgewählter Gesprächsausschnitte eindrucksvoll veranschaulicht. Die aus den gesammelten Informationen resultierenden Deutungen der Lehrkräfte werden sowohl bei der Vorbereitung von Elterngesprächen als auch für Entscheidungen über die Durchführung pädagogischer Maßnahmen berücksichtigt und bilden zugleich die Basis für eine erste Einsortierung der Kinder. Im Laufe der Zeit findet so nach und nach der Protoselektionsprozess statt, infolgedessen „die Kinder bereits vor Beginn des offiziellen Übertrittverfahrens im Hinblick auf die gegliederten Abteilungen der Sekundarstufe I klassifiziert sind“ (150).

Der Phase am Ende der Grundschulzeit (und damit dem offiziellen Selektionsverfahren) ist das fünfte Kapitel gewidmet. Hofstetter zeigt hier zunächst auf, dass die von diesem Verfahren hochgradig überzeugten Akteure und Akteurinnen lediglich ein geringes Bewusstsein für die de facto vorhandene soziale Selektivität des Verfahrens haben. Weiterhin macht er transparent, dass die Lehrkräfte offenbar dazu neigen, ihre bereits im Vorfeld getroffenen Vorentscheidungen zu bestätigen – mitunter auch bei solchen Kindern, deren veränderte Leistungsentwicklung eigentlich eine Revision der Vorentscheidung erwarten lassen würde. Zahlreiche Gesprächsausschnitte illustrieren, auf welche Weise die Entscheidungsfindung bei den Lehrkräften abläuft und wie die resultierende Empfehlung mit Eltern kommuniziert wird. Insbesondere bei Kindern, deren Leistungen nicht eindeutig einem bestimmten Bildungsgang zuordenbar sind und somit Ermessensspielräume bestehen, werden zusätzliche Entscheidungskriterien (z.B. sozialer Vergleich mit anderen Kindern, Wunsch des Kindes, Meinung der Eltern, Einschätzung der Schulpsychologin) hin-zugezogen, um zu einem Urteil zu gelangen. Für einen Großteil der Kinder steht das Ergebnis des Selektionsprozesses damit bereits vor Absolvieren der finalen Prüfung fest.

Im sechsten Kapitel wird der Abschluss des Zuweisungsprozesses für die unklaren Fälle (von Hofstetter als „Manövriermasse“ (237) bezeichnet) untersucht. Die Kinder absolvieren zu Beginn des zweiten Halbjahres im letzten Grundschuljahr eine Prüfung, von deren Ergebnis die Zuweisung der offenen Fälle abhängt. Hofstetter schildert detailliert, wie nach Vorliegen der Prüfungsergebnisse mithilfe von Simulationen der resultierenden Verteilungen über die Festlegung der Punktschwellen entschieden wird und auf welche Weise anschließend für die weiterhin unklaren Fälle die Zuweisung vorgenommen wird. In Rücksprache mit den Lehrkräften entscheidet hierbei der Direktor der jeweils aufnehmenden Schule, in welchem Bildungsgang diese Kinder zu platzieren sind. Von zentraler Bedeutung sind an die-ser Stelle des Selektionsprozesses in erster Linie organisatorische Bedürfnisse (d.h. die Klassengrößen), während am Meritokratieprinzip orientierte Merkmale (z.B. Leis-tungsfähigkeit) allenfalls noch eine marginale Rolle spielen. In ähnlicher Weise wird am Ende des ersten Halbjahres in der Sekundarstufe I über Bildungsgang-wechsel entschieden.

Das siebte Kapitel fasst die im Laufe der Arbeit zusammengetragenen Einsichten abschließend zusammen, wobei Hofstetter seine eigenen Beobachtungen mit den Erkenntnissen anderer Forschungsarbeiten zusammenführt und die abgeleiteten Implikationen diskutiert.

Insgesamt leistet die Studie einen wertvollen Beitrag zur Offenlegung der Genese sozialer Ungleichheiten bei Übergangsentscheidungen im Bildungssystem. Wenngleich sich wohl nicht alle erzielten Befunde ohne Weiteres auf andere Schulen oder Bildungssysteme übertragen lassen, ermöglicht das qualitative Längsschnittdesign eine tiefgründige und detailgetreue Erfassung der über einen langen Zeit-raum ablaufenden Entscheidungs- und Sortierungsprozesse. Der hierfür von Hofstetter genutzte Zugang zu den sich üblicherweise hinter verschlossenen Türen abspielenden schulischen Beurteilungsgesprächen eröffnet einmalige Einblicke in die institutionelle Seite der Selektion und macht dabei eindrucksvoll deutlich, dass nicht nur Eltern oder Kinder, sondern auch die Organisation Schule als Akteur aufzufassen ist, der eigene Interessen verfolgt und entsprechende Handlungen generiert.
Florian Wohlkinger (München)
Zur Zitierweise der Rezension:
Florian Wohlkinger: Rezension von: Hofstetter, Daniel: Die schulische Selektion als soziale Praxis, Aushandlungen von Bildungsentscheidungen beim Ãœbergang von der Primarschu-le in die Sekundarstufe I. Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2017. In: EWR 18 (2019), Nr. 4 (Veröffentlicht am 20.11.2019), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978377991594-1.html