EWR 7 (2008), Nr. 1 (Januar/Februar)

Kristin Westphal (Hrsg.)
Orte des Lernens
Beiträge zu einer Pädaogik des Raumes
(Koblenzer Schriften zur Pädaogik; hrsg. von Nicole Hoffmann, Norbert Neumann und
Christian Schrapper)
Weinheim: Juventa 2007
(264 S.; ISBN 978-3-7799-1618-5; 22,50 EUR)
Orte des Lernens Orte und Räume eröffnen aus einem pädagogischen Blickwinkel unterschiedlichste lern- und bildungstheoretische Zugänge, Einblicke und Ausblicke. Hier setzt der Band „Orte des Lernens“ an: Er bietet Raum für differente und variantenreiche Analysen der Relationierung von Orten, Lernen und Pädagogik. Dabei intendiert der Band vorrangig deren Gleichzeitigkeit, Beweglichkeit und Uneinheitlichkeit aufzuzeigen und fokussiert weniger systematische Zugangsmöglichkeiten. Die Herausgeberin versteht den unter der Mitarbeit von Nicole Hoffmann vorlegten Sammelband als „Beitrag zu einer Pädagogik des Raumes“. Sie zeigt, dass die Frage nach der Bedeutung von Raum und Räumlichkeiten, von Orten und Örtlichkeiten für eine pädagogische Orientierung und Reflexion von zentraler Bedeutung ist. Dass mit dem Buch ein umsichtiger pädagogischer Blick auf die Dimension „Raum“ gelungen ist, sei hier gleich vorweggenommen. Was dieser Blick birgt und entbirgt, was er aufdeckt, aber auch was sich ihm entzieht, soll im Folgenden skizziert werden. Der Sammelband umfasst 16 Beiträge von 17 Autorinnen und Autoren und bietet ein breites methodisches Analysespektrum von phänomenologischen über fachdidaktische bis hin zu medientheoretischen Überlegungen. Obwohl alle Beiträge die Frage nach dem Zusammenhang von Räumen, Orten, Institutionen und Lernen fokussieren, eröffnen sie unterschiedliche teils theoretisch, teils praktisch-exemplarisch orientierte Zugänge. Die Themenvielfalt wird im Band von Kristin Westphal und Nicole Hoffmann nach den beiden Leitkriterien der „institutionellen Überformung von Orten sowie der individuellen Biographisierung“ (12) gegliedert: Die Relationierung von institutionellen Räumen und Orten, ihre Topographie, Historizität und Sozialität wird im ersten Teil des Bandes erörtert. Hierbei wird das Spannungsfeld zwischen architektonischem und gelebtem Raum sowie dessen reflektierte und unreflektierte Pädagogisierung deutlich. Der zweite Teil des Bandes nimmt „individualisierte Orte“ in den Blick, wobei die „Biografisierung und Identitätsentwicklung in der Auseinandersetzung mit Räumen“ thematisiert wird.

Einen bemerkenswerten und gelungenen Einstieg in die Frage nach der Bedeutung von Raumbegriffen für unser Denken und Lernen leistet Jürgen Hasse in seinem Beitrag „In und aus Räumen lernen“. In diesem Beitrag differenziert er systematisch-kategorial „Ontologien von Raum und Räumlichkeit menschlichen Lebens“ (vgl. 16). Der Autor nimmt Theoreme unterschiedlicher Autoreninnen und Autoren auf, wobei er die Thesen des Leibphänomenologen Hermann Schmitz in besonderer Weise würdigt. Er skizziert fünf verschiedene Formen des Räumlichen: den mathematischen, den symbolischen, den sozialen, den leiblichen, den situativen Raum und den Denkraum. Weniger systematisch als exemplarisch widmet sich Winfried Rösler im darauf folgenden kurzen Text dem Lernort Bibliothek. Anhand seiner historischen Analyse erörtert er die Transformation „Von der Klosterbibliothek zum Studiolo“ (vgl. 43) als einen Entwicklungsgang von geschlossenen zu offenen Lern- und Bildungsräumen.

Die thematische Breite und Vielfalt des Bandes wird bei der Lektüre spätestens mit dem Beitrag von Michael Parmentier mit dem Titel „Was die Hülle erzählt und was der Bau vorschreibt. Der Bildungssinn der Museumsarchitektur“ deutlich. Die Frage, wie Raumsprache und Stimmen der Museumsarchitekturen erhört und gedeutet werden können, beantwortet der Autor mit einer Vielzahl an Beispielen von der Münchner Glypothek (vgl. 49) bis zum Kalifornischen Getty Center (vgl. 61). Einblicke in theatrale Lernräume, die „neue Formen des Lernens eröffnen“ (79) können, gewährt Patrick Primavesi in seinem Beitrag „Fliegen, Gehen, Fahren“ mit der Frage, „wie neuere Theaterformen ihre Zuschauer in Bewegung setzen“ (vgl. 79). Anhand gegenwärtiger Theaterformen und Produktionen beschreibt er das Theater als Ort des Spielens und Lernens aus einer theaterwissenschaftlichen Perspektive.

Dass „jeder Variante pädagogischer Raumgestaltung ideengeschichtlich begründete Unterstellungen zugrunde liegen“ (115), verdeutlicht und verbildlicht Johannes Bilstein unter dem Beitragstitel „Hör-Räume – Seh-Räume. Zur Real- und Imaginationsgeschichte von Schulbauten“. In seinem Streifzug durch die architektonischen Kompositionen von Schulen und Klassenräumen expliziert er die implizite Anthropologie pädagogischer Räume und Bauten. Dabei liest er aus den Anordnungen der Schulmauern den Konnex zwischen dem Schulraum und seinen (nicht nur bautechnischen) Vorbildern wie Klöstern, Kasernen, Nestern und Werkstätten heraus.

Wenn Rotraut Walden im anschließenden Beitrag die „Merkmale innovativer Schulbauten in Deutschland“ (vgl. 121) untersucht und ausgehend von ausgewerteten Interviews mit Architekten die Schule der Zukunft andenkt, dann wird ein weiterer entscheidender Aspekt der Schulraumkonzeption deutlich. Die Leitidee der Leistungsoptimierung, des sozialen Miteinanders und des Wohlbefindens der Schülerinnen, Schüler und Lehrenden scheint ihr als programmatische Folie des Schulbaues richtungweisend. Im Vergleich dazu zeigt Marcus Rauterberg in seiner Erörterung, dass eben nicht nur die Schularchitektur, sondern auch der inhaltliche Umgang mit und die theoretische Reflexion von Orten und Räumen im Unterricht bedeutsam sind. Unter dem Titel „Raum im Sachunterricht der Grundschule: Rückblick und fachdidaktischer Ausblick“ (vgl. 135) kritisiert er die curricular bedingte Orientierungslosigkeit eines lebensweltlichen Sachunterrichts und denkt einen fachdidaktisch sinnvolleren Umgang mit „Raum“ an. Auf den (universitären) Boden der Tatsache einer ökonomisch-praktischen Hochschularchitektur holt uns, den ersten Teil des Bandes abschließend, Petra Reinhartz zurück. Durch Interviews mit Studierenden und Architekten der Universität Flensburg lässt sie uns an Dialogen zwischen Räumen und Menschen teilhaben und verdeutlicht dabei am Beispiel „Lernort Universität“ (vgl. 151), inwiefern das leibliche Empfinden mit pädagogischem Verständnis und Raumwirkung korreliert und welche institutionell-räumlichen Visionen den Studierenden zukunftsweisend vorschweben.

Den zweiten Teil des Buches eröffnet der Beitrag von Susanne Lang mit dem Titel „‚Spacing’ als transkulturelle Praxis. Zur Konstitution von Bildungsräumen bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund“ (vgl. 161). Hier wird deutlich, wie eine solche individualisierte Verortung gedacht und analysiert werden kann. Anhand zweier Fallbeispiele zeigt sie, wie relationale Raumtheorien mit den biographischen Erfahrungswelten von Migrantenjugendlichen als transkulturellen Positionierungen korrespondieren. Ebenfalls eine Interviewanalyse mit zwei jungen Frauen und ihrer „räumlichen Inszenierung von Identität“ (175) beinhaltet der Beitrag von Wilfried Lippitz und Mitra Keller. Wie prekär das Recht auf Raum für Intimität und Geheimnisse bei der Identitätsbildung des Menschen ist, wird hier nicht nur theoretisch ergründet, sondern auch an der betitelnden Äußerung bestätigt: „Wenn ich alles so machen würde, wie mein Vater will, dann hätt’ ich ja gar kein Leben…“ (vgl. 173).

Zurück zum Raum „Schule“ führt in weiterer Folge der Beitrag von Heike de Boer mit dem Titel „Konfliktgespräche im Raum der schulischen Öffentlichkeit – Lernprozesse zwischen Selbstinszenierungen und Imagepflege“. Durch eine dargestellte Klassenratszene weist die Autorin auf die „Asymmetrie der pädagogischen Generationsbeziehung“ (193) hin und erörtert Spannungsfelder des öffentlichen Lernortes Schule. Auf die Positionen von Schülerinnen und Schüler im sozialen Lernraum des Unterrichts und in den impliziten „beziehungsbezogenen Ungleichheitsstrukturen“ (222) weist Roger Häußling hin. In seiner qualitativen Netzwerkanalyse „Zur Positionsvergabe im Unterricht. Interaktionen und Beziehungen in ersten Schulklassen und ihre Folgen“ deutet er die inkorporierten Ungleichheitsordnungen im Klassenraum. Wie der Klassenraum didaktisch sinnvoll gestaltet, angeordnet und bearbeitet werden könnte, skizziert Judith Sopp in ihrem Beitrag „Das Klassenzimmer – Raum zum Leben und Arbeiten oder nur eine Ortsangabe?“ (vgl. 225). Ihre konstruktiven raumdidaktischen Anregungen lassen jedoch eine differenzierte Erörterung ihrer impliziten Lerntheorie zu kurz kommen.

Eine explizit andere Art von Lernraum untersucht Thomas Metten im vorletzten Beitrag mit dem Titel „Von der virtuellen Realität zum symbolischen Handeln. Das Internet als Lernort zwischen medialer Vermittlung und ästhetischer Erfahrung“. Aus seiner umsichtigen medientheoretischen Perspektive fasst er das Internet als Schnittstelle von Schwellenerfahrungen auf, die aus „der Vermittlung symbolischen Handelns sowie der Interaktion mit Symbolstrukturen“ (243) resultieren. Hierbei legt er nicht nur ein innovatives Verständnis medialer Räume nahe, sondern setzt diese auch mit interaktiv-symbolischen Lernprozessen in Verbindung. Dass sich Raumerfahrungen in gelebten räumlichen Situationen und als Lebensverhältnisse einschreiben und auf unser leibliches Erleben zurückführen lassen, postuliert im abschließenden Beitrag Kristin Westphal. Die Herausgeberin schließt in ihrer raum-phänomenologischen Erörterung „Macht im Raum erfahren. Der Körper als Ursprung und Ort des Denkens von Raum“ an die unterschiedlichen Perspektiven und Thematiken des Bandes an und entwirft resümierend das Bildungsziel einer „reflexiven Raumkompetenz“ (261).

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass „Orte des Lernens“ einen gelungen Beitrag zu einer Pädagogik des Lernens darstellt. Bei der Lektüre der teilweise sehr unterschiedlichen Beiträge wird deutlich, wie zentral die Frage nach der Dimension Raum in der Pädagogik verhandelt sein sollte. Das Buch eröffnet einen lesenswerten Einstieg für „Raum-Unerfahrene“, da ein guter theoretischer wie praktischer Zugang zur Raumthematik ermöglicht wird. Aber auch Kenner und Kennerinnen finden anschlussfähige Analysen, zum Beispiel in den Beiträgen von Jürgen Hasse, Thomas Metten oder Kristin Westphal, oder in den empirisch-methodischen Zugängen von Johannes Bilstein, Petra Reinhartz, Susanne Lang, Wilfried Lippitz und Mitra Keller. Was der Band weniger in den Blick nimmt, sind lern- und bildungstheoretische Begriffsklärungen und Problematisierungen: Das Verhältnis zwischen den beiden prominenten Begriffen bleibt ungeklärt. So wird in den meisten Beiträgen der Frage nach pädagogischen Räumen und Orten viel Platz eingeräumt. Die Frage, welche Theorien des Lernens hier Erwähnung finden, kommt hingegen oft zu kurz: Das Wo des Unterrichtens verdeckt mitunter das Wie des Lernens.

Deutlich wird jedoch, dass die Analyse der Raumdimension und die Frage nach der Relationierung von Mensch, Ort, Raum und Bildung unverzichtbar ist und weitere raumtheoretische, aber auch lern- und bildungstheoretische Analysen erfordert. Besonders eine systematische Klärung der Relation von Raum, Lernen und Bildung ist an der Zeit. Das Buch kann also – ganz im Sinne seines Titels – als „Ort des Lernens“ empfohlen werden.
Konstantin Mitgutsch (Wien)
Zur Zitierweise der Rezension:
Konstantin Mitgutsch: Rezension von: Westphal, Kristin (Hg.): Orte des Lernens, Beiträge zu einer Pädaogik des Raumes (Koblenzer Schriften zur Pädaogik; hrsg. von Nicole Hoffmann, Norbert Neumann und Christian Schrapper). Weinheim: Juventa 2007. In: EWR 7 (2008), Nr. 1 (Veröffentlicht am 06.02.2008), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978377991618.html