Der vorliegende Band widmet sich neueren Entwicklungen der Identifizierung und Bearbeitung abweichenden Verhaltens, die sich am Begriff „Risiko“ orientieren. Damit sind Ansätze gemeint, die bereits im Vorfeld abweichenden Verhaltens Risiken erkennen und ihnen präventiv begegnen sollen, wobei „der Bevölkerungsschutz, die Interessen von Opfern, statistisch begründete Kennzahlen oder das Management von Gefährdungen aufgewertet werden“ (7). In einem der einleitenden Beiträge interpretiert Axel Groenemeyer diese Entwicklung zum „Risikomanagement“ als Ausdruck unserer „Sicherheitsgesellschaft“, in der es zu einer veränderten Wahrnehmung von Gefährdungen gekommen sei: Es gehe um die Idee, „dass letztlich alle Risiken entdeckt, messbar und dadurch kontrollierbar gemacht werden können“ (13). Dieser Risikodiskurs greift auf eine ganze Reihe populärer Diagnosen zurück, die u.a. mit den Namen Robert Castel, Michel Foucault, Susanne Krasmann und Ulrich Bröckling verbunden sind. Als zentraler Aspekte dieser risikoorientierten Sicht- und Bearbeitungsweise abweichenden Verhaltens gilt die Attribuierung individueller Verantwortung – sowohl auf Seiten der Abweichenden als auch der Kontrollinstanzen. Dem gegenüber stünden individuelle Ursachen abweichenden Verhaltens nicht mehr im Fokus der Betrachtung. Bei der Orientierung am Konzept „Risiko“ würde von moralischen Bewertungen abgesehen, stattdessen richte sich die Aufmerksamkeit auf eine rationale Kalkulation und effektive Beseitigung von Risiken, die anhand der Zugehörigkeit zu abstrakten Risiko-kategorien bestimmt werden (36ff).
Der vorliegende Band versammelt 16 Beiträge, die nicht alle an diesem spezifischen Verständnis von Risiko ansetzen, stattdessen aber verdeutlichen, dass man abweichendes Verhalten und Risiken im Rahmen sozialwissenschaftlicher Forschung ganz unterschiedlich konzipiert und dass damit ganz unterschiedlich umgegangen wird. In zwei Einleitungen geht es zunächst um die Auseinandersetzung mit konzeptionellen Fragen, die für die Soziologie abweichenden Verhaltens (Groenemeyer) und die Sozialpädagogik (Dollinger) mit einer Orientierung an der Kategorie „Risiko“ verbunden sind. Während Axel Groenemeyer die Entwicklung dieses spezifischen Risiko-Ansatzes historisch und konzeptionell übersichtlich präsentiert, interpretiert Bernd Dollinger „Risiko“ breiter und zeichnet für die Sozialpädagogik Kontinuitäten der Bearbeitung von Risiken nach. Thematisch werden durch die Beiträge des Bandes im Folgenden dann ganz unterschiedliche Risikogruppen in den Blick genommen: Familien, die hinsichtlich des Kindeswohls als Risiko konzipiert werden (Oelkers; Burmeister), Migrant_inn_en, die als Risiko für die öffentliche Ordnung und Sicherheit angesehen werden (Cudak), Sexarbeiter_innen, mit denen gesundheitliche Risiken assoziiert werden (Löffler). Einige Beiträge prüfen und relativieren verschiedene Annahmen aus dem Risiko-Kontext: Dabei zeigt sich, dass Kriminalitätsfurcht und die Wahrnehmung von Risiken nur bedingt von abweichenden Situationen, d.h. von sogenannte „Incivilities“ abhängen (Häfele) und dass auch im Schulkontext die Wahrnehmung von Gewalt nur begrenzt von schulischen Akteur_inn_en beeinflusst wird (Moldenhauer). Beim Vergleich zweier Spezialdienste kann Stefanie Büchner unterschiedliche professionelle Selbstverständnisse und Bearbeitungsweisen im Umgang mit dem Risiken der Kindeswohlgefährdung herausarbeiten, die sich zumindest teilweise mit jeweils spezifischen institutionellen Positionen und Aufgaben in Zusammenhang bringen lassen (331f). Darüber hinaus zeigt sich, dass man das Risikoparadigma im Rahmen der sozialen Arbeit selbst dann nicht konsistent umsetzt, wenn die Rahmen¬bedingungen dafür günstig wären. In Bezug auf die in Österreich seit 2012 neu installierte Familiengerichtshilfe stellt Brita Kruscsay fest: „Risikofaktoren und Risikoeinschätzungen sind aber keine eindeutig zuordenbaren äußeren Merkmale, sondern vielmehr ein uneinheitliches Gemenge, in dem den äußeren Faktoren (Schichtzugehörigkeit, Einkommen, Alter) gegenüber psychosozialen Spezialkonstruktionen (wie etwa Bindung, Bindungsfähigkeit, Erziehungsfähigkeit) ein vergleichsweise geringes Gewicht zugemessen wird“ (166). Das von Bernd Dollinger diagnostizierte Potenzial zur Ent-Professionalisierung Sozialer Arbeit (vgl. 54) kommt zumindest in diesem Fall also nicht zum Tragen. Instruktiv ist auch die Analyse von Drogentestpraktiken im Arbeitskontext, die sehr anschaulich als „Technologien des Risikomanagements“ (184ff) präsentiert werden. Simon Egbert arbeitet heraus, wie Risikopotenziale vor allem in Teilen der Arbeiterschaft identifiziert („blue-collar-bias“), durch Drogentests ermittelt und kontrolliert werden sollen. Dabei wird allerdings weder zwischen verschiedenen Drogen differenziert, noch stellt man das tatsächliche Konsumverhalten in Rechnung (181). An diesem Beispiel wird auch das im Kontext des Risikodiskurses anzutreffende Spannungsverhältnis in Hinblick auf die moralische Bewertung abweichenden Verhaltens aufgezeigt: Einerseits stehen gemäß Egbert nicht moralische Verurteilungen im Vordergrund, andererseits zeige die Analyse der Kontrollpraxis, dass sie durch moralisch aufgeladene Bilder geprägt sei (185f).
Weitere Beiträge beziehen sich nicht unmittelbar auf Fragen der Konstitution und des Managements von Risiken, liefern aber gleichwohl interessante Einblicke in konkrete Felder und Praktiken der Sanktion abweichenden Verhaltens. Rafael Behr analysiert die Art und Weise, wie von polizeigewerkschaftlicher Seite Widerstand bzw. Gewalt gegen Polizist_inn_en präsentiert und dramatisiert wird. Daraus wird auf die Konstruktion eine moralische Kategorie der Nicht-Anerkennung staatlicher Autorität geschlossen, was zu einem roll back zu einer „Law-and-order-Polizei“ führe, was mit Garland als „punitive turn“ interpretiert wird (203) – eine These, die durch den Beitrag empirisch allerdings gar nicht gestützt werden kann. Der These gestiegener Punitivität wird in zwei weiteren Beiträgen widersprochen. Michael Lindenberg setzt ihr in Hinblick auf die Soziale Arbeit eine „Diversifizierungsthese“ gegenüber und Helge Peters zeigt auf, dass sie empirisch bisher generell nicht belegt ist (140ff). Stattdessen liefert er überzeugende Argumente dafür, dass neuere Entwicklungen des Sexualstrafrechts mit der These der Sakralisierung der Person erklärt werden können: Einerseits reagiere das Strafrecht „punitiver“ auf Gewalt, die mit körperlichen Verletzungen verbunden ist, andererseits sei eine Entkriminalisierung von Vergehen zu beobachten, die nicht mit solchen Verletzungen verbunden sei (143). Zwei Beiträge beschäftigen sich mit der Sanktionspraxis im Rahmen der stationären Jugendhilfe. Während auf Basis einer Evaluationsstudie Erziehungserfolge eines stark sanktionierenden Erziehungsstils konstatiert werden können (Böhle / Schrödter), beschäftigt sich Maximilian Schäfer auf der Grundlage ethnographischer Beobachtungen in einer stationären Jugendhilfeeinrichtung mit der interaktiven Herstellung von Sanktionen: Am Beispiel eines Sanktionsprozesses zwischen Jugendlichen wird sehr anschaulich herausgearbeitet, dass die einzelnen Beteiligten jeweils sowohl Sanktionierte als auch Sanktionierende sein können (238) und es wird deutlich, dass Sanktionen der wechselseitigen Bestätigung bedürfen.
Im Fokus des Sammelbandes steht zunächst also erst einmal ein komplexes Konglomerat konzeptioneller Aspekte, das unter einem spezifischen Begriff „Risiko“ gefasst wird. In einer ganzen Reihe von Beiträgen werden dann auch nicht alle eingangs erwähnten Merkmale der neuen Orientierung am Risiko geteilt, mitunter wird auch ein eher unspezifischer Risikobegriff verwendet. Und schließlich gibt es Beiträge, die sich gar nicht auf die Konzeption oder Bearbeitung von Risiken beziehen. In Hinblick auf seine konzeptionelle Orientierung am Risiko-Begriff zeichnet sich der vorliegende Band also durch erhebliche Inkonsistenzen aus. Das ist bei Sammelbänden nicht unüblich, doch hätten die Herausgebenden diese Unklarheiten im Rahmen einer Einleitung oder eines Resümees thematisieren und ordnen können, was den Lesenden die Orientierung erleichtert hätte. Zusammengenommen nähren diese Inkonsistenzen und die empirischen Ergebnisse, denen zufolge sich die Risiko-Konzeption in der Praxis gar nicht in der postulierten Form zeigt, den Verdacht, dass die Orientierung am „Risiko“ nicht wirklich für einen neuen Trend der Konstitution und der Bearbeitung abweichenden Verhaltens steht. Dessen ungeachtet ist es ein Verdienst des vorliegenden Bandes, dass interessante und neue Einblicke in ein breites Spektrum relevanter Felder abweichenden Verhaltens und seiner Bearbeitung sowie der wissenschaftlichen Thematisierung der damit verbundenen Fragen präsentiert werden.
EWR 16 (2017), Nr. 4 (Juli/August)
Devianz als Risiko
Neue Perspektiven des Umgangs mit abweichendem Verhalten, Delinquenz und sozialer Auffälligkeit
Weinheim / Basel: Beltz 2015
(340 Seiten; ISBN 978-3-7799-2959-8; 39,95 EUR)
Peter Rieker (ZĂĽrich)
Zur Zitierweise der Rezension:
Peter Rieker: Rezension von: Dollinger, Bernd / Groenemeyer, Axel / Rzepka, Dorothee (Hg.): Devianz als Risiko, Neue Perspektiven des Umgangs mit abweichendem Verhalten, Delinquenz und sozialer Auffälligkeit. Weinheim / Basel: Beltz 2015. In: EWR 16 (2017), Nr. 4 (Veröffentlicht am 02.08.2017), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978377992959.html
Peter Rieker: Rezension von: Dollinger, Bernd / Groenemeyer, Axel / Rzepka, Dorothee (Hg.): Devianz als Risiko, Neue Perspektiven des Umgangs mit abweichendem Verhalten, Delinquenz und sozialer Auffälligkeit. Weinheim / Basel: Beltz 2015. In: EWR 16 (2017), Nr. 4 (Veröffentlicht am 02.08.2017), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978377992959.html