EWR 16 (2017), Nr. 4 (Juli/August)

Sammelrezension zum Thema informelles Lernen

Marius Harring / Matthias D. Witte / Timo Burger (Hrsg.)
Handbuch informelles Lernen
Interdisziplinäre und internationale Perspektiven
Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2016
(830 Seiten; ISBN 978-3-7799-3295-6; 68,00 EUR)
Matthias Rohs (Hrsg.)
Handbuch Informelles Lernen
Wiesbaden: Springer VS 2016
(674 Seiten; ISBN 978-3-658-13001-5; 59,99 EUR)
Handbuch informelles Lernen Handbuch Informelles Lernen Informelles Lernen hat spätestens in diesem Jahrhundert einen festen Platz im Begriffsrepertoire auch der deutschsprachigen Erziehungswissenschaften erobert. Die erziehungswissenschaftliche Debatte kennzeichnet einerseits ein Ringen um diesen Begriff und andererseits seine eher pragmatische Anwendung in empirischen Studien. Im Jahr 2016 sind die beiden o.g. Handbücher zum informellen Lernen erschienen. Die Herausgeber verfolgen mit dem Format des Handbuches jeweils das Ziel einer systematischen Darstellung. Im breiten und nur schwer überschaubaren Diskurs um informelles Lernen scheint genügend Raum für zwei sich unterscheidende aber auch ergänzende Handbücher gegeben. Die jeweils gewählte Systematik und Stoßrichtung der Handbücher offenbaren die intradisziplinäre Verortung der Herausgeber. Marius Harring, Matthias Witte und Timo Burger forschen und lehren in der Schul- oder Sozialpädagogik und damit bezogen auf das Kindes- und Jugendalter. Matthias Rohs ist der Erwachsenenbildung zuzuordnen und hat zudem einen – wiederum im Handbuch erkennbaren – Arbeitsschwerpunkt im E-Learning. Den Nutzer_innen der Handbücher werden, je nach eigener (erziehungswissenschaftlicher) Verortung, die Herangehensweise der Herausgeber etwas näher sein sowie die Themen und Autor_innen der Einzelbeiträge vertrauter.

Im Handbuch von Marius Harring, Matthias Witte und Timo Burger folgen auf die Einführung der Herausgeber, die sich mit Einzelbeiträgen im Verlauf des Handbuches zusätzlich beteiligen, sieben Kapitel. Nach definitorischen, theoretischen und internationalen Zugängen werden Altersphasen sowie in dem mit zwanzig Beiträgen größten Kapitel „Akteure – Kontexte – Dimensionen“ behandelt. Die beiden letzten Kapitel sind forschungsmethodischen Zugängen und Ausblicken vorbehalten. Das Handbuch schließt mit dem Service eines Autor_innenverzeichnisses.

Matthias Rohs beginnt sein Handbuch mit einem Vorwort und stellt im ersten Beitrag im ersten Kapitel die Genese des Begriffs „Informelles Lernen“ dar. Die nächsten der insgesamt zehn Kapitel richten sich auf pädagogische Handlungsfelder und Diskurse, andere disziplinäre Zugänge, Lebensphasen sowie Kontexte, Inhalte und Förderung informellen Lernens. Das folgende Kapitel ist überschrieben mit „Informelles Lernen mit digitalen Medien“. Bis hierher sind die Kapitel mit jeweils drei oder vier Beiträgen besetzt. Die letzten beiden Kapitel behandeln in jeweils zwei Beiträgen die Anerkennung informell erworbener Kompetenzen und forschungsmethodische Zugänge.

Auf der Ebene dieser Kapitelüberschriften werden viele, in beiden Handbüchern aufgerufene Themen deutlich. In beiden Publikationen werden die historische Genese des informellen Lernens sowie theoretische und disziplinäre Anschlüsse verfolgt. Während im Handbuch von Marius Harring, Matthias Witte und Timo Burger ein Augenmerk auf einzelnen Theorien, wie z.B. dem Capabilities Approach oder der Systemtheorie und ihren Bezugsmöglichkeiten auf informelles Lernen liegt, diskutieren Beiträge im Handbuch von Matthias Rohs disziplinäre Zugänge. Dabei halten über pädagogische Handlungsfelder, wie z.B. die Berufsbildung und die Medienpädagogik, erziehungswissenschaftliche Teildisziplinen Einzug. Wirtschaftswissenschaft, Philosophie und Psychologie sind in diesem Handbuch als andere Disziplinen und deren Bezug zum informellen Lernen vertreten. Die interdisziplinären Perspektiven, die das Handbuch von Marius Harring, Matthias Witte und Timo Burger in seinem Untertitel verspricht, wurden – weiterhin auf der Ebene der Systematik der Handbücher und ironischerweise – stärker im Handbuch von Matthias Rohs verfolgt.

Die internationalen Perspektiven, die der Untertitel von Marius Harring, Matthias Witte und Timo Burger ebenso in Aussicht stellt, werden für neun nationalstaatliche Kontexte in englischsprachigen Beiträgen vorgestellt. Vor dem Hintergrund der Begriffsgeschichte informellen Lernens, in der die Entwicklungszusammenarbeit einen wichtigen Platz einnimmt, sind Beiträge aus afrikanischen oder lateinamerikanischen Staaten [1] zu vermissen. Zumindest ergeben sich hieraus Fragen, die eine Begründung der Auswahl hätte beantworten können. In den Beiträgen des Kapitels werden je nach Autor_innen deren favorisiertes theoretisches Verständnis von „informal learning“, eigene empirische Forschung oder eine Übersicht des nationalen Forschungsstandes präsentiert. In der Gesamtschau der „internationalen Zugänge“ wird augenscheinlich, in welcher Breite informelles Lernen gedacht und erforscht werden kann. Teilweise wird die Unbestimmtheit des Begriffs von den Autor_innen problematisiert [2]. Inwiefern die nationalstaatlichen Kontexte die deutlich werdenden, unterschiedlichen Begriffsverständnisse und Anwendungskontexte überhaupt bedingen, bleibt offen. In gewisser Weise „reagiert“ auf dieses Erkenntnisinteresse der englischsprachige Beitrag im Handbuch von Matthias Rohs, in dem verschiedene, vor allem durch politische Organisationen geprägte Definitionen in diversen Nationalstaaten zusammengestellt werden. [3] Die Suche nach einem Hinterfragen der nationalstaatlichen Rahmungen führt zu und endet bei dem Beitrag zur Globalisierung [4] – nun wieder im Handbuch von Marius Harring, Matthias Witte und Timo Burger. Die „globale Ausdehnung der Moderne“ [5] annehmend wird zum einen die Weltgesellschaft zum Kontext des informellen Lernens junger Menschen erklärt und zum anderen wird die weltweite Homogenisierung von Bildungsverständnissen und -organisationen in Bezug auf die Schule – allerdings nicht im Hinblick auf informelles Lernen „in line with the rest of the world“ [6] – ausgeführt.

Für die weiteren Handbuchteile bleibt es bei Überschneidungen und wertvollen, wechselseitigen Ergänzungen der Handbücher. Die Lebensphasen Jugendalter, Familie und ältere Erwachsene im Handbuch von Matthias Rohs decken sich oder werden komplettiert mit den Altersphasen Kindheit, Jugendalter, Erwachsenenalter und Alter im Handbuch von Marius Harring, Matthias Witte und Timo Burger. Dort wird Familie den Kontexten informellen Lernens zugeordnet.

Davon ausgehend dass informelles Lernen immer und überall stattfindet, überrascht die lange Liste der Kontexte, Dimensionen und Inhalte informellen Lernens, die beide Handbücher gemeinsam hervorbringen, kaum. Beiträge zu Familie, Schule, Sport, Beruf / Arbeitsgestaltung sowie freiwilligem Engagement / gemeinnütziger Tätigkeit doppeln sich in den Handbüchern. Im parallelen Lesen dieser Beiträge zeigen sie sich maximal als zweieiige Zwillinge. Natürlich überlappen sich Bezugnahmen, wie etwa auf den heimlichen Lehrplan zum informellen Lernen in der Schule [7]. Aber auch unterschiedliche Perspektiven auf das gleich gestellte Thema erwarten die Leser_innen, wenn – weiterhin am Beispiel Schule – in einem der Beiträge [8] neben Schüler_innen auch Lehrer_innen als Subjekte des informellen Lernens gedacht werden. Für die anderen Beiträge zu „Informelles Lernen und […]“ bzw. „[…] und informelles Lernen“ wird am Handbuch von Marius Harring, Matthias Witte und Timo Burger eine gewisse Jugendzentrierung erkennbar. So werden z.B. Peers, Konsum, Musik und Sexualität als jugendspezifische Felder informellen Lernens behandelt. Im Handbuch von Matthias Rohs beziehen sich diese Beiträge stärker auf Lernorte (formale und non-formale) und eher auf das Erwachsenenalter.

Digitale Medien, die im Handbuch von Marius Harring, Matthias Witte und Timo Burger in einem Beitrag thematisiert werden, werden im Handbuch von Matthias Rohs zu einem eigenen Schwerpunkt mit vier Beiträgen. Wiederum über verschiedene Lernorte (Schule, Hochschule und Unternehmen) werden diese relationiert. Nicht nur in diesem Kapitel, sondern im ganzen Handbuch bzw. sogar für beide Handbücher kommt dem Beitrag zur digitalen Spaltung [9] ein besonderer Stellenwert zu. Hier wird die Verwobenheit von sozialer Ungleichheit und informellem Lernen hervorgehoben und grundlegend diskutiert, während andere Beiträge dies nur am Rande zum Thema machen (können) [10]. Im Beitrag zu Migration und informellem Lernen [11] erstaunt die fehlende Verbindung zu Migration als Dimension sozialer Ungleichheit.

Die Forschungsmethoden zur Erfassung informellen Lernens beschränken sich im Handbuch von Matthias Rohs auf quantitative Verfahren. Die große Bedeutung der qualitativen Forschung zu informellem Lernen spiegelt sich im Handbuch von Marius Harring, Matthias Witte und Timo Burger wider. Neben je einem Beitrag zu quantitativer und qualitativer Bildungsforschung werden mit Ethnographie, dokumentarischer Methode und Biographieforschung einzelne qualitative Forschungsmethoden und ihr bisheriger Einsatz und ihre Einsatzmöglichkeiten im Forschungsfeld informelles Lernen dargelegt. Zudem wurde die Evaluationsforschung in dieses Kapitel aufgenommen. Die bestehenden Lücken und Herausforderungen im Bereich der Forschungsmethoden, aber auch -themen arbeitet der – für das 800 Seiten starke Handbuch von Marius Harring, Matthias Witte und Timo Burger knappe – Bilanzbeitrag heraus [12]. Dieser hilfreiche, da in der thematischen Breite des informellen Lernens orientierende Überblick folgt auf einen weiteren ausblickenden Beitrag zur Anerkennung informellen Lernens. Dieser zentrale Aspekt der Entwicklung informellen Lernens wird ähnlich auch im Handbuch von Matthias Rohs verfolgt.

Als Fazit ist gerade ein vom einen zum anderen Handbuch mäanderndes Lesen gewinnbringend. Es lohnt sich, Beiträge aus beiden Handbüchern für das konkrete Leseinteresse heranzuziehen. In der Einzelbetrachtung der Handbücher überzeugt das Handbuch von Marius Harring, Matthias Witte und Timo Burger dadurch, dass es in sich „rund“ ist. Im Handbuch von Matthias Rohs wurden einige der Kapitel nicht vollständig besetzt, sodass es weniger gut ohne das andere Handbuch auskäme.

[1] Overwien, B.: Informelles Lernen – zum Stand der internationalen Diskussion. In: Rauschenbach, T. / Düx, W. / Sass, E. (Hrsg.): Informelles Lernen im Jugendalter. Vernachlässigte Dimensionen der Bildungsdebatte. Weinheim / München: Juventa 2007, 35-62.
[2] Werquin, P.: Informal learning in France – Recognition of informal learning outcomes for lowly qualified individuals. In: Harring, M. / Witte, M. D. / Burger, T. (Hrsg.): Handbuch informelles Lernen: Interdisziplinäre und internationale Perspektiven. Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2016a, 184-203; Kersh, N. / Evans, K.: Informal learning in UK – The significance of adult informal learning for economic and social life in the United Kingdom. In: Harring, M. / Witte, M. D. / Burger, T. (Hrsg.): Handbuch informelles Lernen: Interdisziplinäre und internationale Perspektiven. Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2016, 204-216; Norqvist, L. / Leffler, E. / Jahnke, I.: Sweden and informal learning – Towards Integrated Views of Learning in a Digital Media World. A Pedagogical Attitude? In: Harring, M. / Witte, M. D. / Burger, T. (Hrsg.): Handbuch informelles Lernen: Interdisziplinäre und internationale Perspektiven. Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2016, 204-216.
[3] Werquin, P.: International Perspectives on the Definition of Informal Learning. In: Rohs, M. (Hrsg.): Handbuch Informelles Lernen. Wiesbaden: Springer VS 2016b, 39-64.
[4] Witte, M. D.: Globalisierung und informelles Lernen. In: Harring, M. / Witte, M. D. / Burger, T. (Hrsg.): Handbuch informelles Lernen: Interdisziplinäre und internationale Perspektiven. Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2016, 675-692.
[5] Ebd., 676
[6] Smith, L.: Informal learning in Australia. In: Harring, M. / Witte, M. D. / Burger, T. (Hrsg.): Handbuch informelles Lernen: Interdisziplinäre und internationale Perspektiven. Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2016, 289-300.
[7] Coelen, T. / Gusinde, F. / Lieske, N. / Trautmann, M.: Informelles Lernen in der Schule. In: Rohs, M. (Hrsg.): Handbuch Informelles Lernen. Wiesbaden: Springer VS 2016, 325-342; Rohlfs, C. / Hertel, S.: Informelles Lernen in Schule und Unterricht. In: Harring, M. / Witte, M. D. / Burger, T. (Hrsg.): Handbuch informelles Lernen: Interdisziplinäre und internationale Perspektiven. Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2016, 633-646.
[8] Coelen, T. / Gusinde, F. / Lieske, N. / Trautmann, M.: Informelles Lernen in der Schule. In: Rohs, M. (Hrsg.): Handbuch Informelles Lernen. Wiesbaden: Springer VS 2016, 325-342.
[9] Iske, S. / Klein, A. / Verständig, D.: Informelles Lernen und digitale Spaltung. In: Rohs, M. (Hrsg.): Handbuch Informelles Lernen. Wiesbaden: Springer VS 2016, 567-584.
[10] Sabine Andresen: Familie und informelles Lernen. In: Harring, M. / Witte, M. D. / Burger, T. (Hrsg.): Handbuch informelles Lernen: Interdisziplinäre und internationale Perspektiven. Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2016, 401-415; Meyer-Drawe, K. / Grabau, C.: Diskurse des informellen Lernens und deren Bedeutung im gesellschaftlichen Kontext. In: Harring, M. / Witte, M. D. / Burger, T. (Hrsg.): Handbuch informelles Lernen: Interdisziplinäre und internationale Perspektiven. Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2016, 62-72; Düx, W. / Rauschenbach, T.: Informelles Lernen im Jugendalter. In: Rohs, M. (Hrsg.): Handbuch Informelles Lernen. Wiesbaden: Springer VS 2016, 261-284; Düx, W. / Sass, E.: Informelles Lernen im freiwilligen Engagement. In: Rohs, M. (Hrsg.): Handbuch Informelles Lernen. Wiesbaden: Springer VS 2016, 365-378; Harring, M.: Freizeit und informelles Lernen. In: Harring, M. / Witte, M. D. / Burger, T. (Hrsg.): Handbuch informelles Lernen: Interdisziplinäre und internationale Perspektiven. Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2016, 416-438.; Iske, S.: Digitale Medien und informelles Lernen. In: Harring, M. / Witte, M. D. / Burger, T. (Hrsg.): Handbuch informelles Lernen: Interdisziplinäre und internationale Perspektiven. Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2016, 510-532.
[11] Diehm, I. / Stošić, P.: Migration und informelles Lernen. In: Harring, M. / Witte, M. D. / Burger, T. (Hrsg.): Handbuch informelles Lernen: Interdisziplinäre und internationale Perspektiven. Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2016, 533-545.
[12] Rauschenbach, T.: Informelles Lernen – Bilanz und Perspektiven. In: Harring, M. / Witte, M. D. / Burger, T. (Hrsg.): Handbuch informelles Lernen: Interdisziplinäre und internationale Perspektiven. Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2016, 803-816.
Vicki Täubig (Siegen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Vicki Täubig: Rezension von: Harring, Marius / Witte, Matthias D. / Burger, Timo (Hg.): Handbuch informelles Lernen, Interdisziplinäre und internationale Perspektiven. Weinheim / Basel: Beltz Juventa 2016. Matthias Rohs (Hrsg.): Handbuch Informelles Lernen. Wiesbaden: Springer VS 2016 In: EWR 16 (2017), Nr. 4 (Veröffentlicht am 02.08.2017), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978377993295.html