EWR 17 (2018), Nr. 6 (November/Dezember)

Jens Beljan
Schule als Resonanzraum und Entfremdungszone
Eine neue Perspektive auf Bildung
Weinheim: Beltz Juventa 2017
(418 S.; ISBN 978-3-7799-3671-8; 34,95 EUR)
Schule als Resonanzraum und Entfremdungszone Jens Beljan verfasste das vorliegende Buch als Dissertation, eingereicht am Institut für Bildung und Kultur der Friedrich-Schiller-Universität Jena, betreut von Hartmut Rosa und Michael Winkler. Dem Autor geht es um die Frage, ob man die Schule „zu einem besseren Ort des Lernens und Lehrens machen“ (S. 395) könne, nicht allein gemessen an quantifizierbaren Leistungskriterien, sondern an dem qualitativen Kriterium eines Bildungsverständnisses, das als Resonanzgeschehen konzipiert werden soll. Die beiden aufeinander bezogenen Leitkonzepte Resonanz und Entfremdung übernimmt Beljan aus der großangelegten und viel beachteten Gesellschaftstheorie von Rosa, die sich in die Tradition der Kritischen Theorie stellt und als eine Soziologie des guten Lebens nicht nur eine kritische Analyse aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen unternimmt, sondern mithilfe des normativen Leitbegriffs „Resonanz“ Auswege aus gesellschaftlichen Krisenerscheinungen und Fehlentwicklungen aufzeigen will, die er als „Entfremdung“ charakterisiert. Auch das Bildungswesen, insbesondere die Schule, gerät in den Fokus von Rosas kritischen Diagnosen, und viele Ideen aus dem reformpädagogischen Traditionsfundus, gebündelt unter dem Titel „Resonanzpädagogik“, werden als probate Heilmittel empfohlen. Aber das geschieht bei Rosa eher oberflächlich und ohne vertiefte Kenntnis der pädagogischen Fachdiskurse. Genau diese fachliche Vertiefung leistet Beljans Dissertation.

Nun verspricht Beljans Untertitel eine „neue Perspektive auf Bildung“. In seiner Schlussbemerkung heißt es dazu: „Resonanzpädagogisch lässt sich Schulqualität (…) als Beziehungsgeschehen, dass auf einem solidarischen Schulleben, auf kooperativer Zusammenarbeit und auf schöpferische Begegnungen und Resonanzen mit Menschen, Dingen, Materialien und Sinnprovinzen basiert. Schulqualität bemisst sich somit weniger an der der Leistung (dem Outcome), als der der Resonanz- und Entfremdungssignatur, d.h. daran, ob eine Schule ein Resonanzraum oder einer Entfremdungszone ist.“ (S. 395). Die Frage drängt sich auf, was daran neu sein soll. Die Fachdiskussion der letzten 20 Jahre um ein historisch aktualisiertes, kritisches, materiales Bildungsverständnis als Gegenentwurf zur um sich greifenden Ökonomisierung und quantifizierenden Evaluationskultur sowie die schulpraktischen Konzepte und Diskurse darüber, was gute Schule, guten Unterricht, gutes Lehren und sinnvolles Lernen ausmache, zeigen, dass Beljan mit der Kombination der Begriffe von Resonanz und Entfremdung nicht etwas Neues oder Überraschendes entwickelt. Zwar greift Beljan die phänomenologisch begründete ästhesiologische Fundierung des Resonanzbegriffs auf, die es ermöglicht, den Bildungsbegriff systematisch um sinnlich-leibliche Dimensionen und Qualitäten zu erweitern, aber die genuin phänomenologisch-pädagogischen Forschungen zu leiblich-sinnlich fundierten Konzepten von Bildung, Didaktik, Lernen, Übung, Ästhetik, Früh- und Sonderpädagogik im deutschsprachigen Raum (u.a. Meyer-Drawe, Westphal, Loch, Brinkmann, Schultheiß, Stieve, Egon Schütz, Stenger, Stinkes, Lippitz) seit den 80iger Jahren des letzten Jahrhunderts bleiben – wenn überhaupt beachtet – sehr am Rande seines Blickfeldes.

Beljans Ansatz verbindet mit Rosa die Rekonstruktion der Anthropogenese von Resonanz als eines ursprünglichen Welt- und Selbstverhältnisses, das gegen Ökonomisierung, Technisierung und Optimierung in Stellung gebracht wird. Wie Rosa verknüpft Beljan diesen naturalisierenden Zugang mit dem Bildungsbegriff.

Das zeigt sich in den folgenden Kapiteln seiner Untersuchung. In seiner Einleitung „Schule und das gute Leben – Bildung: Ressource oder Resonanz“ (13ff.) verweist er einerseits auf die Krise der Schule, die an der durchgreifenden Ökonomisierung und Evaluationskultur sichtbar wird und andererseits auf die Umformulierung zu einem Bildungsbegriff, welcher Bildung als zu optimierende Ressource und Leistungssteigerung versteht. Dagegen sollte die Schule jedoch als eine wichtige Lebensform den Erfahrungsraum für die Vermittlung von Werten, Autonomie, Solidarität, Gerechtigkeit, Leistungsbereitschaft und Empathie darstellen und zugleich die Möglichkeiten eröffnen, dass SchülerInnen wie LehrerInnen „intrinsische Antwort- und Resonanzbeziehungen eingehen können“ (S. 36). Das macht ihre Qualität als „gute Schule“ aus.

Diese Beziehungen sind nicht mit bruchloser und krisenfreier Harmonie zu verwechseln. Vielmehr ereignet sich Bildung als Resonanzgeschehen dann, wenn sich die Bildungssubjekte „mit eigener Stimme“ mit der Andersheit und Fremdheit der Welt und ihrer Mitmenschen auseinandersetzen (S. 39)

Der Einleitung folgt der erste Teil „Vom Schweigen Schulwelt und der Sehnsucht“, der in zwei Kapitel unterteilt ist. Im ersten Kapitel „Trennung von Leben und Lernen“ illustriert Beljan an Zeugnissen aus Literatur, Musik und Film das Auseinanderdriften von Schule und Leben sowie das „Verstummen der Weltbeziehungen“ im schulischen Unterricht und das damit verbundene Leiden der SchülerInnen. Dagegen werden Beispiele gelungener Resonanzpädagogik gesetzt. Im zweiten Kapitel „Bildung als Antwort auf das Verstummen von Selbst und Welt“ werden „geisteswissenschaftliche Wurzeln bildender Weltbeziehungen“ vorgestellt (S. 56 ff.). Beljan geht mit Buck davon aus, dass Bildung in der Geistesgeschichte stets „als eine Antwort auf eine problematische Selbst-Welt-Beziehung entworfen wurde (S. 57). Anschließend werden mit Meister Eckhart, Herder, Humboldt, Schleiermacher, Bollnow, Dewey und Gruschka verschiedene Theorien in resonanztheoretischer Hinsicht gelesen und auf wesentliche Züge von Resonanz hin untersucht. Diese Bezüge sieht Beljan in einer sympathetischen, affektiven, auch sinnlich-leiblich dimensionierten individuellen Beziehung zur objektiven Welt und den gesellschaftlichen Bereichen: Kunst, Politik, Natur, in der sich Subjekt und Welt wechselseitig durchdringen (vgl. S. 79ff.).

Der zweite Teil des Buches „Resonanz und Entfremdung als Kriterien für Unterrichtsqualität“ (S. 120ff.) ist ebenso durch zwei Kapitel untergliedert. Das erste stellt am Didaktischen Dreieck (Sache-SchülerIn-Lehrperson) globale Kriterien gelingenden und misslingenden Unterrichts vor: (1) Indifferenz von SchülerInnen und LehrerInnen gegenüber dem Unterrichtsstoff und zueinander, verbunden mit Langeweile, Uninteressiertheit, Kälte, Künstlichkeit; (2) Repulsion als Frustration auf beiden Seiten durch unzumutbaren Unterrichtsstoff; (3) Resonanz als Wertschätzung der SchülerInnen, Charisma der LehrerInnen und Faszination beider durch eine ansprechende Sache. Im zweiten Kapitel „Resonanz und Entfremdung“ geht der Autor in ausführlichen Zitaten auf Rosas Resonanzkonzept ein und stellt fest: In der Bildung als Weltbegegnung antwortet und reagiert responsiv der zu Bildende. Resonante Bildung hat dann nicht nur Entfremdung im Sinne von Repulsion und Indifferenz als Gegenpol, sondern für sie ist Entfremdung im Sinne einer „transformierenden Anverwandlung“ (152ff.) strukturell wichtig. Jedoch versteht Beljan Entfremdung als „konstitutives Übergangsstadium“ (vgl. S.157) im Bildungsprozess, d.h. Entfremdungserfahrungen und fremde Ansprüche des Bildungsstoffes stören gewohnte Weltbeziehungen und führen zur Ausbildung neuer Resonanzverhältnisse. Diese Deutung von Entfremdung als Übergangsstadium verfehlt m.E. eine wesentliche Pointe des phänomenologisch orientierten Bildungsdiskurses (vgl. Meyer-Drawe, Brinkmann, Lippitz): Das Antwortgeschehen zwischen den Menschen untereinander und den Ansprüchen der Welt bleibt prekär, offen und unabschließbar, weil ihm strukturelle Fremdheit innewohnt. Insofern lassen sich Bildungsprozesse dann nicht als gegenseitige, letztlich resonante Anverwandlungen verstehen, sondern als ein Differenzgeschehen, in dem der Hiatus zwischen Ich und Anderem bzw. der Welt fortbesteht und so für ständige Spannung und Unabschließbarkeit von Erfahrungen sorgt. Abschließend führt Beljan eine kritische Diskussion von tradierten Bildungskonzepten wie Autonomie und Authentizität.

Der dritte Teil des Buches „Lernen und Lehren in Resonanzbeziehungen“ ist der umfangreichste und materialreichste. Im Fokus der drei Kapitel stehen „Die Lehrperson“ (1), „Die Schüler“ (2) und „Die Sache“ (3). Der normative Anspruch des Resonanzbegriffs wird entlang vieler Fall-Beispiele pädagogisch-praktisch in wichtigen Hinsichten konkretisiert: in einer ausführlichen Rezeption aktueller Schul- und Unterrichtsforschung zur guten Schule, zum Schulklima und gelingendem Unterricht. So entsteht im ersten Kapitel das tradierte, sicherlich auch heute noch wirksame Bild der charismatischen Lehrerperson, die mit „Resonanzverantwortung und Entfremdungstoleranz“ (S. 179ff.) hochmotiviert und von den Unterrichtsinhalten selbst überzeugt, die SchülerInnen für die Sache begeistert und lehrt. Zur Sprache kommen aber auch repulsive negative Faktoren wie Mobbing, Gleichgültigkeit, Burnout usw. Besonderes Gewicht erhält das Unterkapitel „Takt und Ton im Unterricht“ (206ff.), in dem Beljan resonanztheoretisch das Konzept des pädagogischen Taktes reformuliert. Im zweiten Kapitel kommen resonanzförderliche (etwa positive Schulatmosphäre usw.) wie auch resonanzfeindliche und repulsive Faktoren (etwa Gewalt, Ausgrenzung, usw.) zur Sprache. Was Rosa in seiner Resonanzsoziologie schon erwähnte, wird hier ebenfalls zum Thema: Es gibt einen Zusammenhang von sozialer Herkunft der Schülerschaft und ihrer Resonanzfähigkeit. Um dem entgegenzusteuern, bedarf es schulischer Angebote, die auch diese Kinder ansprechen, weil sie zu ihrer Lebenswirklichkeit gehören, wie „Boxclub, Graffity, HipHop-Musik, Mode, das Tatoo-Studio“. Dieser Rat klingt wenig durchdacht und ist wenig hilfreich angesichts der strukturell verursachten, kaum im schulischen Raum zu bewältigenden sozialen Ungleichheit. Das dritte Kapitel beleuchtet unter Resonanzgesichtspunkten das „Eigenrecht der Sache“. Sie soll als eigene Stimme mit eigenen Ansprüchen von SchülerInnen wie auch LehrerInnen gehört werden. Bloße Stoffbeherrschung oder reduktionistische Kompetenzorientierungen zeugen von stummen und entfremdeten Sachbeziehungen.

Unterrichtsfächer als Resonanzachsen sollen kognitiv ansprechen und auch affektiv berühren, Differenzerfahrungen, neue Weltperspektiven und Empfindungsweisen eröffnen und auch biographisch relevant sein (vgl. S. 285ff.). Beljan zeigt diese Resonanzqualitäten an Beispielen aus dem Kunst-, Geschichts-, Sport-, naturwissenschaftlichem und Philosophieunterricht.

Der vierte Teil „Leib, Raum, Zeit – Kernaspekte schulischer Weltbeziehungen“ (S. 303ff.) enthält schwerpunktmäßig eine vertiefende phänomenologisch-anthropologische Analyse der drei Resonanzdimensionen. Hierzu liegen seit zwei Jahrzehnten von der pädagogischen Seite aus viele einschlägige phänomenologisch orientierte Untersuchungen vor, die bis auf die empirischen Wirkungsanalysen schulischer Räume von Rittelmeyer von Beljan nicht berücksichtigt werden. Seine resonanzpädagogischen Analysen bringen angesichts dieser Forschungen grundsätzlich nichts Neues, aber sind im Detail durchaus anregend, dort wo er zum Beispiel Atem- und Schreibschulungen, gestische Ausdrucksmöglichkeiten der Hände u.v.m. beschreibt. Bildungsprozesse sind aus phänomenologisch-pädagogischer Sicht sinnlich-leiblich, zeitlich und räumlich dimensioniert und zeigen sich in Haltungen und habituellen Einstellungen des Lernens und Lehrens. Sie ereignen sich handgreiflich im Umgang mit den Dingen in besonders gestimmten Räumen und in mehr oder weniger förderlicher sozialer und räumlicher Lernatmosphäre (vgl. dazu S. 348ff.). Lernen und Lehren unter Zeitnot und damit verbundener Stoffhuberei ohne Rücksicht auf individuelle Eigenzeiten der SchülerInnen führen zu tiefgreifenden Entfremdungserfahrungen (vgl. S. 359ff.), statt Freiräume, Möglichkeiten der Umwege und des produktiven Irrtums im Lernen zu ermöglichen und so fruchtbare Momente durch Verzögerungen und Verlangsamung zu initiieren. In den Schlüsselerfahrungen des sozialen Kontaktes (Gesehen und Gehört werden) zeigen sich pädagogisch förderliche oder verhindernde Kommunikationsstrukturen zwischen LehrerInnen und SchülerInnen als jeweils besonders wirksame, aber oft übersehene „Resonanzeffekte“ (vgl. S.337ff.).

Das Fallbeispiel der „Deutschen SchülerAkademie“ als Ferienakademie für Hochbegabte stellt eine Institution vor, in der alle positiven Aspekte resonanter Bildung zum Tragen kommen. Kritisch einzuwenden wäre hier, dass die Akademie sicherlich alles andere als ein normaler Schulbetrieb mit seinen resonanzfördernden oder auch -hemmenden Strukturen ist.

Abschließend bleibt festzustellen: „Schule als Resonanzraum und Entfremdungszone“ ist eine klar gegliederte, sprachlich und begrifflich differenzierte, gut lesbare und materialreiche Studie über Möglichkeiten und Hindernisse für die Gestaltung einer guten Schule.

Neuigkeitswert besitzt sie jedoch nur für die LeserInnen, die weder Rosas Resonanzsoziologie noch die einschlägigen phänomenologisch-pädagogischen Forschungen zum Bildungsbegriff kennen. Letztere würden es ermöglichen, zum Konzept einer resonanten Bildung die m. E. fehlende kritische Distanz aufzubauen.
Wilfried Lippitz (Siegen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Wilfried Lippitz: Rezension von: Beljan, Jens: Schule als Resonanzraum und Entfremdungszone, Eine neue Perspektive auf Bildung. Weinheim: Beltz Juventa 2017. In: EWR 17 (2018), Nr. 6 (Veröffentlicht am 31.12.2018), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978377993671.html