EWR 20 (2021), Nr. 1 (Januar/Februar)

Marc Grimm / Sandra Schlupp (Hrsg.)
Flucht und Schule
Herausforderungen der Migrationsbewegung im schulischen Kontext
Weinheim Basel: Beltz Juventa 2018
(162 S.; ISBN 978-3-7799-3849-1; 24,95 EUR)
Flucht und Schule Migration und Flucht sind im öffentlichen Diskurs omnipräsent und stellen einen Referenzrahmen zur Erklärung verschiedener gesellschaftlicher Problemlagen dar. So auch im deutschen Bildungssystem. Hier haben Problemanalysen im Kontext von Leistungsunterschieden zwischen Schüler*innen mit und ohne Migrationsgeschichte eine lange Tradition und sind nicht erst seit der sogenannten „Flüchtlingskrise“ im Jahre 2015 Gegenstand des bildungspolitischen und pädagogischen Diskurses. Marc Grimm und Sandra Schlupp verdeutlichen in ihrer Einleitung, dass die Debatte um Bildungsteilhabe in einer zunehmend diverser gewordenen Gesellschaft ähnlich kontrovers geführt wird, wie die um Migrationspolitik. Im Sammelband werden diese Parallelen und Verschränkungen im Migrations- und Bildungsdiskurs aufgegriffen und in elf Beiträgen problematisiert. Als zentraler Gegenstandsbereich werden „die spezifischen Herausforderungen, die die schulische Arbeit mit Kindern mit Flucht- und Migrationserfahrung mit sich bringt“ (10f) beschrieben und auf die Notwendigkeit der Überprüfung etablierter schulischer Konzepte und Strukturen hingewiesen.

Einen Einstieg bietet der Beitrag von Paul Mecheril und Oscar Thomas-Olalde, die auf ein symbiotisches Verhältnis des Migrationsdiskurses mit dem Begriff Integration verweisen. Sie machen auf den paradoxen Umstand aufmerksam, dass der Begriff „Integration“ keine eindeutige gesellschaftspolitische Bestimmung hat, gleichzeitig von ihm eine hohe normative Wirkung ausgeht (18). Die disparaten diskursiven Stränge und normativen Wirkungen des Begriffs werden an verschiedenen Beispielen aufgezeigt und seine Angemessenheit als „pädagogische Referenz“ (23) in Frage gestellt.

Der Beitrag von Thomas Quehl richtet den Blick auf den Umgang mit Mehrsprachigkeit im schulischen Kontext. Er geht davon aus, „dass unabhängig von der Organisation des Unterrichts […] der Umgang mit den Erstsprachen der Schüler_innen in Verbindung mit dem in der jeweiligen Schule insgesamt vorhandenen Umgang mit der lebensweltlichen Mehrsprachigkeit gesehen werden muss.“ (28) Schule sei ein Ort „sprachlicher Verhältnisse“ (39), welche sich in mehrsprachigen Bildungskonzepten zeigen könnten bzw. sollten.

Thomas Geier hebt in seinem Beitrag hervor, dass Migrationsbewegungen „nicht erst in Anbetracht der aktuellen Fluchtbewegungen die Funktionalität und Legitimität gesellschaftlicher Institutionen und Organisationen“ (43f.) infrage stellen. Er weist auf die Notwendigkeit hin, habitualisierte nationalgesellschaftliche Normalitätskonstruktionen in schulischen Strukturen und Selbstverständnissen diskriminierungskritisch zu hinterfragen und „in Bewegung zu setzen“ (44).

In Daniela Zettl’s Beitrag werden die schulische Situation und der Zugang zur Ausbildung von unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten aus der Perspektive eines pädagogischen Fachdienstes in einer Jugendwohneinrichtung beschrieben. Sie verdeutlicht die Widersprüche in den institutionellen Entscheidungspraxen, die insbesondere bei den Jugendlichen zu Verunsicherungen führen. In dem Aufbau von Netzwerken und einer regelmäßigen Kommunikation zwischen den relevanten Akteur*innen wird ein wichtiger Beitrag zur Förderung von Bildungsteilhabe gesehen.

Hanne Shah widmet sich in ihren Ausführungen dem speziellen Handlungsfeld der Unterstützung und Begleitung von traumatisierten Kindern und Jugendlichen. Neben grundsätzlichen Informationen zu Trauer, Trauma und den Auswirkungen von traumatischen Erlebnissen, formuliert sie konkrete Handlungsempfehlungen und geht auf Handlungsmöglichkeiten ein.

Der Beitrag von Anne Ulmen, Martin Gottsacker und Jonas Wipfler werden die weltweiten Flucht- und Migrationsbewegungen umrissen und relevante Fluchtursachen vorgestellt. Am Beispiel der Arbeit von MISEREOR werden Ansätze zur Entwicklungszusammenarbeit in der Fluchtursachenbekämpfung und in der Arbeit mit Geflüchteten vorgestellt und Einblicke in die Thematisierung von Flucht und Migration im schulischen Kontext gegeben.

Sandra Schlupp und Marc Grimm diskutieren in ihrem Beitrag, die Frage, wie sich unterschiedliche Zuständigkeitsbereiche auf die Umsetzung des Konzepts „Inklusive Schule“ auswirken und wie Lehrkräfte auf die damit in Verbindung stehenden Anforderungen reagieren. Auf der Grundlage von vier explorativen Interviews resümieren sie, dass die Beschulung von geflüchteten Kindern von den Lehrkräften als zusätzliche Belastung erfahren wird, sie dabei unterschiedliche Problemlösungsansätze verfolgen und sich mehr Unterstützung wünschen.
Kalle Krämer veranschaulicht, anhand von zwei Büchern, dass die Thematisierung von Flucht und Migration in der Kinder- und Jugendliteratur nicht losgelöst von gesellschaftlichen Narrativen betrachtet werden kann und somit, im Hinblick auf ihren Einsatz im Unterricht, kritisch überprüft werden muss.

Friederike Friedrichs Beitrag beschäftigt sich mit institutioneller Diskriminierung im deutschen Bildungssystem und richtet die Perspektive auf Ein- und Ausschlussmechanismen in Bildungsstrukturen, die zu Benachteiligung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund führen. Ausgehend von der Analyseperspektive der „institutionellen Diskriminierung“ (Gomolla/Radke 2009), hebt die Autorin hervor, dass sich Rassismus als ein gesellschaftliches Machtverhältnis in den Perspektiven von Lehrkräften gegenüber Schüler*innen mit Migrationshintergrund wiederfindet. Die Auswirkungen von rassistischen Unterscheidungspraxen zeigt sie am Beispiel eines biografischen Interviews mit einer Schülerin auf und formuliert Handlungsempfehlungen.

Der letzte Beitrag des Sammelbandes von Dominik Drexel und Anna Iliash greift die im Integrationsdiskurs kontrovers geführte Debatte über die Verschleierung muslimischer Mädchen und Frauen am Beispiel des Burkinis im deutschen Schwimmunterricht auf. Die Autor*innen kritisieren, dass negative sozialisatorische Folgen der islamischen Verschleierung aus einer pädagogischen und forschungstheoretischen Perspektive nicht ausreichend aufgegriffen werden. Dem möchten sie aus einer psychoanalytischen Betrachtungsweise etwas entgegenstellen und „eine Perspektive auf das weibliche infantile Begehren und seine Hindernisse in der islamischen Sozialisation“ (158) eröffnen. Zu problematisieren ist an diesem Beitrag, dass die Auseinandersetzung mit dem Burkini bzw. jeglichen Verschleierungsformen im Islam stigmatisierend wirkt und aktuelle einschlägige erziehungswissenschaftliche Literatur zu Religiosität und Subjektbildung ausgeblendet bleibt (Foroutan 2016, Kaddor 2011).

Insgesamt überzeugt der Sammelband durch die Vielschichtigkeit der Perspektiven und Kontroversen, die wichtige Einblicke in aktuelle Themen und Aufgabenstellungen im Handlungsfeld Schule in der Migrationsgesellschaft geben. Durch die konkreten Bezüge zur Praxis und Empfehlungen für die Unterrichtsgestaltung können die Herausgeber*innen ihrem anwendungsorientierten Anspruch gerecht werden. Der Band ist daher (angehenden) Lehrkräften sowie Fachkräften in pädagogischen Institutionen sehr zu empfehlen.

Foroutan, Naika 2016: „Religiöses Kapital als Element muslimischer Identitätsperformanzen“, in: Peter Antes/Rauf Ceylan (Hg.), Muslime in Deutschland. Historische Bestandsaufnahme, aktuelle Entwicklungen und Zukunftsfragen. Wiesbaden: Springer VS Verlag, S. 265–278.
Kaddor, Lamya 2010: Muslimisch - weiblich - deutsch! Mein Weg zu einem zeitgemäßen Islam. München: C. H. Beck Verlag
Ayça Polat (Kiel)
Zur Zitierweise der Rezension:
Ayça Polat: Rezension von: Grimm, Marc / Schlupp, Sandra (Hg.): Flucht und Schule, Herausforderungen der Migrationsbewegung im schulischen Kontext. Weinheim Basel: Beltz Juventa 2018. In: EWR 20 (2021), Nr. 1 (Veröffentlicht am 23.02.2021), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978377993849.html