EWR 22 (2023), Nr. 4 (Oktober)

MarĂ­a do Mar Castro Varela/Natascha Khakpour/Jan Niggemann (Hrsg.)
Hegemonie bilden
PĂ€dagogische AnschlĂŒsse an Antonio Gramsci
Weinheim: Beltz Juventa 2023
(320 S.; ISBN 978-3-7799-6073-7; 26,00 EUR)
Hegemonie bilden Der italienische Marxist Antonio Gramsci gilt heute als zentraler Denker der III. Kommunistischen Internationale. WĂ€hrend seiner Kerkerhaft in den 1920er und -30er Jahren wird Italien unter Mussolini zum faschistischen Staat. In seinen GefĂ€ngnisheften, die er wĂ€hrend seiner Haft fĂŒllt, widmet sich Gramsci u.a. der Frage, wie die so vielversprechende sozialistische Bewegung scheitern konnte. Seine Antwort: sie hat es nie geschafft, die gesellschaftliche Hegemonie zu erlangen. An diese Diagnose schließen Fragen der Bildung und Erziehung unmittelbar an, denn: „Jedes VerhĂ€ltnis von Hegemonie“, so Gramsci, „ist notwendigerweise ein pĂ€dagogisches VerhĂ€ltnis“ [1].

Dieser nun beinahe ein Jahrhundert zurĂŒckliegenden Diagnose nehmen sich die Herausgeber:innen von ‚Hegemonie bilden‘ an und gehen der Frage nach, welche Überzeugungskraft Gramscis Konzepte heute noch haben. Dabei schließt der Band bĂŒndig an vorangegangene Publikationen der Herausgeber:innen an [2], die zweifellos die zentralen Bezugspunkte der deutschsprachigen pĂ€dagogischen Gramsci-Rezeption darstellen. Nach der LektĂŒre – so viel sei vorweggenommen – wird klar: Gramscis politisch-pĂ€dagogische Analysen sind nicht nur hinsichtlich des immer schon politischen Gehalts von Erziehung brandaktuell; sie eröffnen auch die Möglichkeit, noch einmal neu ĂŒber den integralen Zusammenhang von PĂ€dagogik mit Herrschaft in bĂŒrgerlichen Gesellschaften nachzudenken. Es ist das Markenzeichen liberaler Demokratien, dass Erziehung und Bildung nicht auf Schulen beschrĂ€nkt bleiben; vielmehr bilden sie, so die Herausgeber:innen in der Einleitung, „auf dem gesamten Terrain der Zivilgesellschaft die pĂ€dagogische Dimension staatlicher Regierung aus“ (22). Gerade weil die pĂ€dagogischen Dimensionen der Hegemonie so vielgestaltig sind, besticht der Band durch seine diversen AnschlĂŒsse an internationale Diskurse und Rezeptionen Gramscis. Diese sind in drei Abschnitte unterteilt.

Den ersten Teil zu ‚BildungsverstĂ€ndnissen‘ im Anschluss an Gramsci eröffnet ein Interview mit Spivak, die von Gramsci den Begriff der Subalternen ĂŒbernimmt und ihn in ‚Can the Subaltern speak?‘ [3] fĂŒr die postcolonial studies rezipiert. Das GesprĂ€ch vermag Gramscis Begriffe der Subalternen und der organischen Intellektuellen in ihren Ambivalenzen zu beleuchten, setzt jedoch ob seiner KomplexitĂ€t eine gewisse Grundkenntnis zu Spivak voraus. Dankenswerterweise fĂ€ngt Dhawans anschließender Beitrag dies ein und ordnet Spivaks Gedanken im Hinblick auf die Haltung der Subalternen zum Staat. Sie zeigt, dass Gramscis PĂ€dagogik auf RegierungsfĂ€higkeit zielt und Erziehung die „Subalterne als BĂŒrger:innen produziert“ (62). Im dritten Beitrag vergleicht Mayo Gramscis Begriff der Hegemonie mit Freires Konzept der kulturellen Invasion. Er zeigt, wie Herrschaft anhand der Differenzkategorie, ‚race‘ durchgesetzt wird, indem diese die beherrschte Gruppe spaltet. Die Spaltung bezieht sich dabei nicht allein auf biologisierte Unterschiede, sondern ebenso auf die kulturelle Durchsetzung von HomogenitĂ€t durch die Etablierung einer nationalen Standartsprache. Ebenso vergleichend geht Srivastava vor und setzt Gramscis Konzept des Organischen Intellektuellen in Bezug zu Fanons „autochthonen Intellektuellen“ (78) in ‚Die Verdammten dieser Erde‘ [4] und Padmores ‚Pan-Africanism or Communism?‘ [5]. Dabei werden die beiden letztgenannten als Denker einer „antikolonialen Gegenhegemonie“ (84) gelesen, die eine neue Hegemonie der Subalternen anstreben. Im fĂŒnften Beitrag widmet sich Castro Varela Gramscis Erziehungsbegriff, der als Bearbeitung des Alltagsverstands gefasst wird. Ihr Ziel ist es, das „Narrativ einer bĂŒrgerlichen Bildungstheoriegeschichte zu unterbrechen“, d.h. „die grundlegenden Ideen von dem, was Bildung ist und wer wie erzogen werden soll, zu hinterfragen“ (96). Besonders hervorzuheben ist die umfassende Einbettung der gramscianischen Konzepte in den historischen Kontext, da gerade mit ihrer Historisierung die Frage nach ihrer AktualitĂ€t beantwortbar scheint. So wird die in liberalen Demokratien existenzielle Rolle gesellschaftlichen Konsenses fĂŒr die Transformation des Alltagsverstands verdeutlicht. Hieran schließt Apitzsch‘s Beitrag bĂŒndig an, der Erziehung sowohl in der staatlichen Institution Schule als auch in der Zivilgesellschaft und hier in der Produktionsweise verortet. Apitzsch zeigt, wie Gramscis BildungsverstĂ€ndnis gerade fĂŒr die Erwachsenenbildung fruchtbar sein kann, um deren gegenwĂ€rtiges Strukturnarrativ des ‚Lebenslangen Lernens‘ als „Anpassung an neue ökonomische Erfordernisse“ (127) kritisch zu analysieren. Den Abschluss des ersten Teils bildet Niggemanns Beitrag, der „das widersprĂŒchliche VerhĂ€ltnis von PĂ€dagogik und Politik als fĂŒr hegemoniale Herrschaft spezifisch“ (129) ausleuchtet. Er zeigt, dass der Kern bĂŒrgerlich-liberaler Hegemonie darin besteht, Konsens unter den beherrschten Massen zu organisieren und PĂ€dagogik dabei das zentrale Werkzeug darstellt. Der liberale, in Gramscis Worten: integrale Staat, erzieht, insbesondere indem er die „Erziehenden erzieht“ (132).

Der zweite Teil zu ‚Historisieren, rezipieren‘ wird durch ein fiktives GesprĂ€ch zwischen den Autor:innen Hirschfeld und Mezzasalma mit Niggemann, Altvater und dem Herausgeber der GefĂ€ngnishefte Haug eröffnet, die ĂŒber die deutschsprachige Gramsci-Rezeption debattieren. Hier lernen die Lesenden viel ĂŒber die divergierenden Diskussionen zu Gramsci im ehem. Ost- und Westdeutschland und weshalb er in der ehem. DDR gerade kein bedeutsamer Denker des Staatssozialismus sein konnte. Im zweiten Beitrag legt Pato den Fokus auf Arbeit als zentrale pĂ€dagogische Kategorie, in der insbesondere NormalitĂ€tsvorstellungen von weiblichen und mĂ€nnlichen Rollenbildern ausgehandelt werden. In diesem Lichte erscheint Bildung dialektisch sowohl als „Instrument der Hegemonie“ sowie als „Feld der hegemonialen Konstruktion, in dem die sozialen Akteur:innen den Sinn der Welt [
] schaffen, bekĂ€mpfen und artikulieren“ (182). Einen Ă€hnlichen Einsatz unternimmt AtzmĂŒller, der Gramscis These, wonach „die Hegemonie aus der Fabrik komme“, (185) durchdenkt und mit ihm die Transformation des Kapitalismus nach der sog. ‚Finanzkrise‘ 2008 untersucht. Er kommt zu dem Ergebnis, dass der zwangsförmige Panzer der Hegemonie im Neoliberalismus stĂ€rker ausgeprĂ€gt ist als noch zu Zeiten des Fordismus. Im Zuge einer „PĂ€dagogisierung der gesellschaftlichen Probleme und WidersprĂŒche“ (192) werden die Subjekte zur anhaltenden SelbstverĂ€nderung angerufen, um im Sinne einer passiven Revolution die Produktion zu transformieren.

Schwerdtner schließt im vierten Beitrag an Gramscis Rolle als Zeitschriftenredakteur an und diskutiert die bildungspolitische Bedeutung sozialistischer Zeitschriften. Den Abschluss des zweiten Teils bilden GlĂ€ser und Kater, die die Bildungs- und Bewegungsstrategien der sog. ‚Neuen Rechten‘ (NR) und der ‚IdentitĂ€ten Bewegung‘ (IB) untersuchen, die ihre gesellschaftspolitischen Taktiken an Gramsci ausrichten. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass hier nicht von einer subalternen Position die Rede sein kann. NR und IB erschaffen sich das Zerrbild einer „bĂŒrgerlichen ‚neuen Rechten‘“ (216), wĂ€hrend sie die analytischen Kategorien Gramscis gleichzeitig verwĂ€ssern.

Den abschließenden dritten Teil zu ‚Schule, Sprache und KĂŒnsten‘ eröffnet Khakpour mit einer Analyse der „Schule als Schauplatz sowie als Ergebnis des Ringens um Hegemonie“ (223). Im Anschluss an Brode und Mecheril [7] kommt sie zu dem Ergebnis, dass eine nach gegenwĂ€rtigen MaßstĂ€ben organisierte institutionelle Bildung an der Normalisierung von Ein- und AusschlĂŒssen anhand rassistischer Ordnungen partizipiert. Nach dem Beitrag von Marchi, die anschaulich praktische Bildungsarbeit in Gramscis Geburtsort Ales auf Sardinien schildert, ist es eben jener Mecheril, der gemeinsam mit Rangger Gramscis Perspektive um die „impliziten wie expliziten natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeitsordnungen“ ergĂ€nzt, die „nicht lediglich auf Fragen des Klassenkampfs zu reduzieren sind“ (257). Mit einem kulturalistischen Rassismusbegriff im Anschluss an Balibar [8] verorten die Autoren die Reproduktion nationaler Ideologie in den Schulen und schließen mit einem ‚normativen Modell‘ einer rassismuskritischen Lehrerin in der Migrationsgesellschaft. Im folgenden Beitrag widmen sich Khakpour und Strasser der Rolle von Sprache in Gramscis Denken als „zentrales Element der Bewusstseinsbildung“ (275). In einer Analyse der „affirmative[n] VerknĂŒpfung von Nation und Sprache“ (278) entwickeln sie ĂŒberzeugend eine „ideologiekritische Perspektive auf sprachliche VerhĂ€ltnisse“ (279). In den beiden nĂ€chsten BeitrĂ€gen widmen sich einerseits Pohn-Lauggas und andererseits Haghighat der Bedeutung der Aneignung von Kunst und Kultur durch die Subalternen. Als „Kampffeld der Hegemonie“ (305) ist Kunst dialektisch und sowohl Ort der Reproduktion als auch der potenziellen Infragestellung der Hegemonie. Am Ende des Bandes steht ein Einwurf Buetis und Verwoerts, die eine grundsĂ€tzliche Kritik an pĂ€dagogischer ReprĂ€sentation ĂŒben und davor warnen, Menschen zur vermeintlich ‚richtigen‘ Emanzipation erziehen zu wollen.

Der Mehrwert, den der vorliegende Band fĂŒr eine sich als politisch verstehende PĂ€dagogik und Erziehungswissenschaft birgt, ist erheblich. Einzig hinsichtlich der Begriffe Bildung und Erziehung wĂ€re eine Systematisierung wĂŒnschenswert: So werden die Begriffe teils synonym, teils explizit getrennt verwendet, wobei Gramsci selbst zwischen ihnen differenziert [9]. Dennoch wird der Band seinem Anspruch, die AktualitĂ€t der gramscianischen Konzepte fĂŒr die Gegenwart und insbesondere fĂŒr die PĂ€dagogik herauszuarbeiten, mehr als gerecht, denn er bietet einen multiperspektivischen historisch-systematischen Zugang zu den GefĂ€ngnisheften. Wer sich pĂ€dagogisch mit Gramscis Denken auseinandersetzen will, kommt an diesem Band nicht vorbei. Er kann uneingeschrĂ€nkt Allen empfohlen werden, die sich praktisch wie theoretisch mit der politischen Rolle der PĂ€dagogik befassen.

[1] Gramsci, A. (1991–2002): GefĂ€ngnishefte. Kritische Ausgabe in 10 BĂ€nden. Hrsg. von K. Bochmann, W. Fritz Haug und Peter Jehle. Argument, hier S. 1335, H10/2 §44.
[2] Becker, F., Candeias, M., Niggemann, J., Steckner, A. (2013) (Hrsg.). Gramsci lesen. Einstiege in die GefĂ€ngnishefte. Argument; Niggemann, J. (2016): Wozu brauchen die das? Bildung als gelebte Philosophie der Praxis. In: Geuenich, S./Krenz-Dewe, D./Niggemann, J./PfĂŒtzner, R./Witek, K. (Hrsg.). Wozu brauchen wir das? Bildungsphilosophie und pĂ€dagogische Praxis. WestfĂ€lisches Dampfboot, S. 58–71; Niggemann, J. (2022). Der diskrete Charme der AutoritĂ€t? Elemente pädagogischer Autorität und Autorisierungen aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive. Beltz Juventa.
[3] Spivak, G. C. (2008). Can the Subaltern speak? PostkolonialitÀt und subalterne Artikulation. Turia + Kant.
[4] Fanon, F. (1981). Die Verdammten dieser Erde. Vorwort von Jean-Paul Sartre. Suhrkamp.
[5] Padmore, G. (1971): Pan-Africanism or Communism? The Coming Struggle for Africa. Doubleday
[6] Freire, P. (1973): PĂ€dagogik der UnterdrĂŒckten. Bildung als Praxis der Freiheit. Hier S. 105 ff.. Rowohlt.
[7] Brode, A., Mecheril, P. (2010). Rassismus bildet. Einleitende Bemerkungen. In: Brode, A., Mecheril, P. (Hrsg.): Rassismus bildet. Bildungswissenschaftliche BeitrĂ€ge zu Normalisierung und Subjektivierung in der Migrationsgesellschaft (S. 7–26). transcript.
[8] Balibar, É. (2019). Gibt es einen ‚neo-Rassismus‘?. In: Balibar, É., Wallerstein, I.: Rasse, Klasse, Nation. Ambivalente IdentitĂ€ten (S. 23–38). Argument.
[9] Bernhard, A. (2006). Antonio Gramscis VerstĂ€ndnis von Bildung und Erziehung. In: UTOPIEkreativ. Diskussion sozialistischer Alternativen, H. 183 (Januar), S. 10–22.
Daniel Lieb (Jena)
Zur Zitierweise der Rezension:
Daniel Lieb: Rezension von: Varela, MarĂ­a do Mar Castro / Khakpour, Natascha / Niggemann, Jan (Hg.): Hegemonie bilden, PĂ€dagogische AnschlĂŒsse an Antonio Gramsci. Weinheim: Beltz Juventa 2023. In: EWR 22 (2023), Nr. 4 (Veröffentlicht am 20.10.2023), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978377996073.html