EWR 22 (2023), Nr. 1 (Januar)

Claudia Machold / Carmen Wienand
Die Herstellung von Differenz in der Grundschule
Eine Langzeitethnographie
Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2021
(215 S.; ISBN 978-3-7799-6191-8; 29,95 EUR)
Die Herstellung von Differenz in der Grundschule „Die Herstellung von Differenz in der Grundschule. Eine Langzeitethnographie“ ist eine 2021 erschienene Monographie von Claudia Machold und Carmen Wienand. Die Studie basiert auf einem von der DFG geförderten Forschungsprojekt mit dem Titel „Ethnische HeterogenitĂ€t und die Genese von Ungleichheit in Bildungseinrichtungen der (frĂŒhen) Kindheit“ (DFG-314127891). HierfĂŒr wurden Kinder sieben Jahre auf ihrem Weg durch die Bildungseinrichtungen KindertagesstĂ€tte und Grundschule ethnographisch begleitet. Die Studie lĂ€sst sich in der mittlerweile etablierten rekonstruktiv-ethnographischen, schulischen Differenzforschung verorten. Mit einem kultursoziologischen VerstĂ€ndnis [1] interessiert sich diese Forschungsrichtung fĂŒr die PerformativitĂ€t des Sozialen hinsichtlich der Herstellung von Differenz. Der DFG-Projekttitel verrĂ€t dabei auch den fĂŒr diese Forschungsrichtung meist weitergehenden Anspruch: Differenz und Differenzierungen – in der Publikation sind es „Praktiken des Unterscheidens“ – sollen nicht lediglich in ihrer situativen PerformativitĂ€t in den Blick geraten, sondern dies soll auch Aussagen zur „Genese von Bildungsungleichheit“ (10) ermöglichen.

Die Publikation erscheint aufgrund ihrer meines Wissens einmaligen Datenbasis (siebenjĂ€hrige Langzeitethnographie, von der KindertagesstĂ€tte bis zur weiterfĂŒhrenden Schulformempfehlung und -wahl) besonders fĂŒr den Gegenstand Differenz sowie die Genese von Ungleichheit ertragreich. Die vorliegende Rezension wird deshalb einen Schwerpunkt auf die Darstellung und Reflexion des Forschungsdesigns legen.

So könnten Lesende erwarten, dass die Studie aufgrund ihrer jahrelangen Begleitung von (Schul-)Kindern diejenigen Prozesse nachzeichnen könne, die zu dem bekannten Effekt der persistenten Bildungsungleichheit fĂŒhren. Allerdings kann diese Erwartung aus methodologischen GrĂŒnden nur enttĂ€uscht werden. Denn hinsichtlich der Aussageebene ‚gesellschaftliche Ungleichheitsstrukturen‘ ist „die qualitative Beobachtungspraxis [
] mit dem Problem eines fĂŒr sie methodisch ‚unsichtbaren‘ Beobachtungsgegenstandes“ konfrontiert [2, S. 111]. Dieser Limitierung sind sich die Autor*innen bewusst (9f., 203). Entsprechend beansprucht die Studie, einen „plausiblen Zusammenhang von Praktiken des Unterscheidens und Bildungsungleichheit“ (9f.) darzulegen, nicht aber die Effekte der systematischen Benachteiligung und Privilegierung selbst aufzeigen zu können. Die womöglich bestehende Erwartung, hier sozusagen die ‚smoking gun‘ der schulischen Produktion von Bildungsungleichheit geboten zu kommen, muss damit aus methodologischen GrĂŒnden enttĂ€uscht werden.

Was die Studie stattdessen leistet, ist die Darstellung eines plausiblen Zusammenhangs, „in welchem VerhĂ€ltnis die re-konstruierten Praktiken des Unterscheidens zur Genese von Ungleichheit stehen“ (203). Dieses Ziel verfolgen nicht wenige Studien im o.g. Forschungsfeld, allerdings besteht mit der vorliegenden Publikation eine Studie, die diesen Anspruch in einer Systematik, mit einem Datenkorpus und einer methodologischen Innovation bearbeitet, wie es meines Erachtens fĂŒr die schulisch-rekonstruktive Differenzforschung einmalig ist.

Der Studie liegt die Annahme zugrunde, dass die Genese von Ungleichheit langfristig durch wiederholte, sich aufschichtende „Praktiken des Unterscheidens“ (131) geschieht. Entsprechend kombiniert die Studie „die VerschrĂ€nkung einer synchronen Perspektive, in der es galt, systematisch dem Gegenstand pĂ€dagogische Unterscheidungspraktiken in spezifischen Momenten nachzugehen, mit einer diachronen Perspektive [
], die ihre Bedeutung fĂŒr BildungsverlĂ€ufe von Kindern in den Blick nehmen sollte. Indem Kinder auf ihrem Weg – ĂŒber sieben Jahre hinweg – durch die KindertagesstĂ€tte und Grundschule begleitet wurden, sollte genau diese VerschrĂ€nkung analytisch zugĂ€nglich gemacht werden und so die Aufschichtung pĂ€dagogischer Unterscheidungspraktiken im zeitlichen Verlauf in den Blick kommen.“ (131).

Rekonstruiert wurden deshalb in einem ersten Schritt ethnisch codierte (Kap. 4), leistungsbezogene (Kap. 5) und weitere – wie sie es nennen – „backgroundbezogene“ (Kap. 6) Unterscheidungen. „Zum Gegenstand wurde letztlich eine ethnisch codierte Normalerwartung der Schule“ (28) sowie „weitere Dimensionen von Herkunft“ und „leistungsbezogene Normalerwartungen“ (28). Auf dieser Basis kann die Studie die Herstellung einer schulischen Differenzordnung plausibel und fundiert darlegen. Eine Ordnung, die den Anschein von kultureller NeutralitĂ€t, von HerkunftsunabhĂ€ngigkeit und Leistungsgerechtigkeit wahrt und deshalb von allen Beteiligten (SchĂŒler*innen, LehrkrĂ€fte, Eltern) mit hervorgebracht wird.

Vor dem Hintergrund dieser Differenzordnung(en) ist die zweite, „diachrone Perspektive“ auf die sich vollziehende Aufschichtung der Unterscheidungen in Bildungsbiographien zu betrachten (vgl. hierzu insb. die Forschungsnotiz III, Kap. 8). Aufschichtung meint dabei weniger eine von den Forscher*innen vorgenommene Addition, sondern eine Rekonstruktion der Feldlogik: Es ist zentral fĂŒr die schulische Logik, „an ein persönlichkeits- und leistungsbezogenes Werden von SchĂŒler*innen zu ‚glauben‘“ (135). Aufschichtung wird also als eine Praxis des Feldes analysiert: Das Feld selbst vollzieht eine „Arbeit an der Bildungsbiographie“ von SchĂŒler*innen (134). Schulzeugnisse implizieren beispielsweise nicht nur eine Logik des Leistungsverlaufs bzw. der Leistungsentwicklung, sondern sie bringen ĂŒber die Jahre hinweg eine Bildungskarriere hervor. Deutlich wird die Herstellung von Bildungsbiographien im Feld auch, wenn LehrkrĂ€fte „Schulformempfehlungen ĂŒber die Konstruktion von individueller KontinuitĂ€t begrĂŒnden“ (134). Es sind also die beteiligten Akteur*innen selbst, die an der Aufschichtung arbeiten, indem sie „an Praktiken der Temporalisierung und Biographisierung partizipieren und so gemeinsam an der Idee der Bildungsbiographie praktisch“ arbeiten (136). Diese Biographisierungspraxis des Feldes stellt die Studie in ein VerhĂ€ltnis mit der zuvor herausgearbeiteten schulischen Differenzordnung (Kap. 9 und Kap. 10). In vier datenbasierten Portraits zeigt die Studie die Logik der Aufschichtung, die sich in der die Biographisierung von Schulkindern vollzieht (Kap. 9), und dazu fĂŒhrt, dass „am Ende der Grundschulzeit die Empfehlung fĂŒr die weiterfĂŒhrenden Schulen durch die LehrkrĂ€fte, aber auch die Wahl durch Familien und Kinder als fĂŒr alle legitime, auf die Leistung und Persönlichkeit des Kindes zurĂŒckfĂŒhrbare Entscheidung plausibilisiert werden konnte“ (202).

Die Individualisierung und Dekontextualisierung von Leistung und die Produktion des Anscheins einer ethnisch neutralen, herkunftsunabhÀngigen, nach Leistung differenzierenden schulischen Ordnung bei gleichzeitig faktisch bestehender Relevanz von ethnisch codierter Zugehörigkeit und weiteren Herkunftsfaktoren bilden zentrale Momente zur ErklÀrung des Zusammenhangs von situativer Differenzierung und der Genese von Bildungsungleichheit. Die Plausibilisierung eines Zusammenspiels von situativer Differenzierung und biographisierender Aufschichtung als Modus der Genese von Ungleichheit herauszuarbeiten ist das Verdienst der Studie.

Offen bleibt dabei leider, in welchem VerhĂ€ltnis ethnische Unterscheidungen zu jenen stehen, die in der Studie meist als „weitere backgroundbezogene Unterscheidungen“ (122) bezeichnet werden und inwiefern mit ‚background‘ nicht letztlich in den Blick gerĂ€t, was ĂŒblicherweise als klassistische Unterscheidungen bzw. als sozio-ökonomische Herkunft gilt. WĂŒnschenswert wĂ€re eine KlĂ€rung des VerhĂ€ltnisses dieser Unterscheidungen gewesen, weil quantifizierende Schulleistungsstudien ja gerade nahelegen, dass vorrangig der sozio-ökonomische Hintergrund und weniger die ethnische Zugehörigkeit die zentrale Kategorie zur ErklĂ€rung von Bildungsungleichheit bildet.

[1] Reckwitz, A. (2016). Die neue Kultursoziologie und das praxeologische Quadrat der Kulturanalyse. In ders. (Hrsg.), KreativitÀt und soziale Praxis: Studien zur Sozial- und Gesellschaftstheorie (S. 23-48). transcript Verlag.
[2] Emmerich, M. & Hormel, U. (2017). Soziale Differenz und gesellschaftliche Ungleichheit: Reflexionsprobleme in der erziehungswissenschaftlichen Ungleichheitsforschung. In I. Diehm, M. Kuhn & C. Machold (Hrsg.), Differenz - Ungleichheit - Erziehungswissenschaft: VerhÀltnisbestimmungen im (Inter-)DisziplinÀren (S. 103-121). Springer VS.
Thorsten Merl (Marburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Thorsten Merl: Rezension von: Machold, Claudia / Wienand, Carmen: Die Herstellung von Differenz in der Grundschule, Eine Langzeitethnographie. Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2021. In: EWR 22 (2023), Nr. 1 (Veröffentlicht am 26.01.2023), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978377996191.html