
Die Publikation erscheint aufgrund ihrer meines Wissens einmaligen Datenbasis (siebenjährige Langzeitethnographie, von der Kindertagesstätte bis zur weiterführenden Schulformempfehlung und -wahl) besonders für den Gegenstand Differenz sowie die Genese von Ungleichheit ertragreich. Die vorliegende Rezension wird deshalb einen Schwerpunkt auf die Darstellung und Reflexion des Forschungsdesigns legen.
So könnten Lesende erwarten, dass die Studie aufgrund ihrer jahrelangen Begleitung von (Schul-)Kindern diejenigen Prozesse nachzeichnen könne, die zu dem bekannten Effekt der persistenten Bildungsungleichheit führen. Allerdings kann diese Erwartung aus methodologischen Gründen nur enttäuscht werden. Denn hinsichtlich der Aussageebene ‚gesellschaftliche Ungleichheitsstrukturen‘ ist „die qualitative Beobachtungspraxis […] mit dem Problem eines für sie methodisch ‚unsichtbaren‘ Beobachtungsgegenstandes“ konfrontiert [2, S. 111]. Dieser Limitierung sind sich die Autor*innen bewusst (9f., 203). Entsprechend beansprucht die Studie, einen „plausiblen Zusammenhang von Praktiken des Unterscheidens und Bildungsungleichheit“ (9f.) darzulegen, nicht aber die Effekte der systematischen Benachteiligung und Privilegierung selbst aufzeigen zu können. Die womöglich bestehende Erwartung, hier sozusagen die ‚smoking gun‘ der schulischen Produktion von Bildungsungleichheit geboten zu kommen, muss damit aus methodologischen Gründen enttäuscht werden.
Was die Studie stattdessen leistet, ist die Darstellung eines plausiblen Zusammenhangs, „in welchem Verhältnis die re-konstruierten Praktiken des Unterscheidens zur Genese von Ungleichheit stehen“ (203). Dieses Ziel verfolgen nicht wenige Studien im o.g. Forschungsfeld, allerdings besteht mit der vorliegenden Publikation eine Studie, die diesen Anspruch in einer Systematik, mit einem Datenkorpus und einer methodologischen Innovation bearbeitet, wie es meines Erachtens für die schulisch-rekonstruktive Differenzforschung einmalig ist.
Der Studie liegt die Annahme zugrunde, dass die Genese von Ungleichheit langfristig durch wiederholte, sich aufschichtende „Praktiken des Unterscheidens“ (131) geschieht. Entsprechend kombiniert die Studie „die Verschränkung einer synchronen Perspektive, in der es galt, systematisch dem Gegenstand pädagogische Unterscheidungspraktiken in spezifischen Momenten nachzugehen, mit einer diachronen Perspektive […], die ihre Bedeutung für Bildungsverläufe von Kindern in den Blick nehmen sollte. Indem Kinder auf ihrem Weg – über sieben Jahre hinweg – durch die Kindertagesstätte und Grundschule begleitet wurden, sollte genau diese Verschränkung analytisch zugänglich gemacht werden und so die Aufschichtung pädagogischer Unterscheidungspraktiken im zeitlichen Verlauf in den Blick kommen.“ (131).
Rekonstruiert wurden deshalb in einem ersten Schritt ethnisch codierte (Kap. 4), leistungsbezogene (Kap. 5) und weitere – wie sie es nennen – „backgroundbezogene“ (Kap. 6) Unterscheidungen. „Zum Gegenstand wurde letztlich eine ethnisch codierte Normalerwartung der Schule“ (28) sowie „weitere Dimensionen von Herkunft“ und „leistungsbezogene Normalerwartungen“ (28). Auf dieser Basis kann die Studie die Herstellung einer schulischen Differenzordnung plausibel und fundiert darlegen. Eine Ordnung, die den Anschein von kultureller Neutralität, von Herkunftsunabhängigkeit und Leistungsgerechtigkeit wahrt und deshalb von allen Beteiligten (Schüler*innen, Lehrkräfte, Eltern) mit hervorgebracht wird.
Vor dem Hintergrund dieser Differenzordnung(en) ist die zweite, „diachrone Perspektive“ auf die sich vollziehende Aufschichtung der Unterscheidungen in Bildungsbiographien zu betrachten (vgl. hierzu insb. die Forschungsnotiz III, Kap. 8). Aufschichtung meint dabei weniger eine von den Forscher*innen vorgenommene Addition, sondern eine Rekonstruktion der Feldlogik: Es ist zentral für die schulische Logik, „an ein persönlichkeits- und leistungsbezogenes Werden von Schüler*innen zu ‚glauben‘“ (135). Aufschichtung wird also als eine Praxis des Feldes analysiert: Das Feld selbst vollzieht eine „Arbeit an der Bildungsbiographie“ von Schüler*innen (134). Schulzeugnisse implizieren beispielsweise nicht nur eine Logik des Leistungsverlaufs bzw. der Leistungsentwicklung, sondern sie bringen über die Jahre hinweg eine Bildungskarriere hervor. Deutlich wird die Herstellung von Bildungsbiographien im Feld auch, wenn Lehrkräfte „Schulformempfehlungen über die Konstruktion von individueller Kontinuität begründen“ (134). Es sind also die beteiligten Akteur*innen selbst, die an der Aufschichtung arbeiten, indem sie „an Praktiken der Temporalisierung und Biographisierung partizipieren und so gemeinsam an der Idee der Bildungsbiographie praktisch“ arbeiten (136). Diese Biographisierungspraxis des Feldes stellt die Studie in ein Verhältnis mit der zuvor herausgearbeiteten schulischen Differenzordnung (Kap. 9 und Kap. 10). In vier datenbasierten Portraits zeigt die Studie die Logik der Aufschichtung, die sich in der die Biographisierung von Schulkindern vollzieht (Kap. 9), und dazu führt, dass „am Ende der Grundschulzeit die Empfehlung für die weiterführenden Schulen durch die Lehrkräfte, aber auch die Wahl durch Familien und Kinder als für alle legitime, auf die Leistung und Persönlichkeit des Kindes zurückführbare Entscheidung plausibilisiert werden konnte“ (202).
Die Individualisierung und Dekontextualisierung von Leistung und die Produktion des Anscheins einer ethnisch neutralen, herkunftsunabhängigen, nach Leistung differenzierenden schulischen Ordnung bei gleichzeitig faktisch bestehender Relevanz von ethnisch codierter Zugehörigkeit und weiteren Herkunftsfaktoren bilden zentrale Momente zur Erklärung des Zusammenhangs von situativer Differenzierung und der Genese von Bildungsungleichheit. Die Plausibilisierung eines Zusammenspiels von situativer Differenzierung und biographisierender Aufschichtung als Modus der Genese von Ungleichheit herauszuarbeiten ist das Verdienst der Studie.
Offen bleibt dabei leider, in welchem Verhältnis ethnische Unterscheidungen zu jenen stehen, die in der Studie meist als „weitere backgroundbezogene Unterscheidungen“ (122) bezeichnet werden und inwiefern mit ‚background‘ nicht letztlich in den Blick gerät, was üblicherweise als klassistische Unterscheidungen bzw. als sozio-ökonomische Herkunft gilt. Wünschenswert wäre eine Klärung des Verhältnisses dieser Unterscheidungen gewesen, weil quantifizierende Schulleistungsstudien ja gerade nahelegen, dass vorrangig der sozio-ökonomische Hintergrund und weniger die ethnische Zugehörigkeit die zentrale Kategorie zur Erklärung von Bildungsungleichheit bildet.
[1] Reckwitz, A. (2016). Die neue Kultursoziologie und das praxeologische Quadrat der Kulturanalyse. In ders. (Hrsg.), Kreativität und soziale Praxis: Studien zur Sozial- und Gesellschaftstheorie (S. 23-48). transcript Verlag.
[2] Emmerich, M. & Hormel, U. (2017). Soziale Differenz und gesellschaftliche Ungleichheit: Reflexionsprobleme in der erziehungswissenschaftlichen Ungleichheitsforschung. In I. Diehm, M. Kuhn & C. Machold (Hrsg.), Differenz - Ungleichheit - Erziehungswissenschaft: Verhältnisbestimmungen im (Inter-)Disziplinären (S. 103-121). Springer VS.