
Die vorliegende Publikation beginnt mit einer Einleitung der Herausgeberinnen sowie einem Essay, das die von den Autorinnen Yandé Thoen-McGeehan und Beyza Kacmaz erlebten, biografischen Erfahrungen mit Rassismus in den Mittelpunkt stellt. Der Sammelband gliedert sich in vier Überkapitel, denen insgesamt 15 Beiträge zugeordnet werden. Diese analysieren Machtkritische Perspektiven auf „verandernde Theoriebildung“ (I), „verandernde Systeme und Strukturen“ (II), „verandernde schulische Praxis“ (III). Kapitel IV schließt den Sammelband mit „[m]achtkritischen Perspektiven auf veranderungssensible Lehrer*innenbildung“.
In der Einleitung beschreiben Susanne Leitner und Ramona Thümmler, dass die Erziehungswissenschaft in ihrer Heterogenität zunehmend auf (macht)kritische Theorien zurückgreife und sich mit Fragen der eigenen gesellschaftlichen Positionierung auseinandersetze. Gleichzeitig bestünden in pädagogischen Räumen Optimierungsansätze fort, die durch erwachsene Professionelle angeleitet und von den adressierten Kindern und Jugendlichen ausgeführt werden sollen. Durch Festlegungen, wer auf welche Art und Weise innerhalb der Sonderpädagogik als betreuungspflichtig adressiert wird, hat die pädagogische Praxis Anteil „an der Tradierung von binär strukturierten und potenziell diskriminierenden Gesellschaftsordnungen“ (9f.) Der schulische Leistungs- und Optimierungsdruck verstärkt die Ungleichheitserfahrungen von Schüler*innen, die, etwa aufgrund von Behinderung oder sich überschneidenden Diskriminierungsformen, bereits als „anders“ festgeschrieben und entsprechend pädagogisiert werden. Die Sonderpädagogik nimmt daher eine doppelte, widersprüchliche Rolle ein, indem sie einerseits junge Menschen fördern möchte und sie andererseits institutionell und diskursiv ein-ordnet. Die Autorinnen plädieren dafür, die normierenden Macht- und Ordnungsverhältnisse für die Betroffenen sichtbar zu machen, zum Beispiel in Form von Powersharing.
Ich möchte in dieser Rezension insbesondere das Phänomen hervorheben, dass Kinder und Jugendliche, die migrantisch markiert werden, überproportional häufig als „förderungsbedürftig“ adressiert und in sonderpädagogischen Einrichtungen untergebracht bzw. unterrichtet werden. Ich werde im Folgenden also primär auf jene Beiträge rekurrieren, die sich explizit mit der Situation migrantisch und rassistisch markierter Schüler*innen in der Sonderpädagogik beschäftigen.
Thema und Tenor dieses Schwerpunkts geben die Autorinnen Yandé Thoen-McGeehan und Beyza Kacmaz vor. Sie stellen an den Anfang ihres Essays „Worte finden“ eigene biografische Erfahrungen innerhalb der Dominanzgesellschaft. Das Thematisieren biografischer Erfahrungen mit Diskriminierung und Rassismus zeigt auf, dass es sich hierbei nicht um individualisierende Einzelerfahrungen, sondern um strukturell bedingte Macht- und Gewaltverhältnisse handelt. Diese Verhältnisse durchdringen sämtliche Bereiche der Gesellschaft, spitzen sich jedoch in der Adressierung migrantisch gelesener Kinder als eine potenziell „förderungsbedürftige“ Gruppe zu. Diese Zuschreibung ist unter anderem das Resultat historisch tradierter Vorannahmen und negativer Diskurse über migrantische Schüler*innen, die teilweise noch in der Gegenwart tradiert und reproduziert werden. Diese Schüler*innen werden in der Feststellung eines sonderpädagogischen Bedarfs auf die (familiale) Herkunft reduziert und davon ausgehend entindividualisiert und als Teil einer Gemeinschaft, die wiederum mit spezifischen (fehlenden) Kompetenzen assoziiert wird, festgeschrieben. Das heißt, die individuellen Fähigkeiten und Besonderheiten des Kindes sind nicht per se ausschlaggebend, um die Entscheidung eines sonderpädagogischen Bedarfs zu begründen, sondern die von Professionellen zugewiesene migrantische Gruppenidentität. Die im Schulalltag vielfach gestellte Frage nach der „eigentlichen“ Herkunft, die Problematisierung des Tragens eines Hijab oder die alltägliche Hierarchisierung bestimmter Sprachen, sind nur einige der Beispiele, die veranschaulichen, dass die (Nicht)Zugehörigkeit zur Gesellschaft und die Zuweisung von Förderbedarf an rassistischen Faktoren festgemacht wird. Diesen Umstand in Worte zu fassen, ist eine biografische Herausforderung und „ein lebenslanger Prozess.“ (21).
Im Beitrag „»Not quite/not white« Eine Critical Whiteness-Perspektive auf die Rehabilitationspädagogik” leitet Martina Tißberger historisch ab, wie Rassismus wissenschaftlich erfunden und „Intelligenz“ zum Parameter wurde, „um Menschen entlang von Rasse*, Geschlecht* oder ‚sozialer Klasse‘ einzuteilen und diese Gruppierung als natürliche Ordnung erscheinen zu lassen“ (34f.). Die Autorin unterstreicht, dass IQ-Tests nach wie vor als diagnostische Instrumente genutzt werden, um konstruierte rassistische Gruppenmerkmale zu bestätigen und „Whiteness“, wie im historischen Sinne intendiert, als hierarchisch überlegene und dominante Norm in Abgrenzung zum „Anderen“ zu bestätigen. Dabei geht es zum einen um die Legitimation von „Whiteness als Machtstruktur“ (26) und zum anderen um die Aufrechterhaltung einer Rehabilitationspädagogik, die auf einer „Überrepräsentation von migrantisch und rassistisch markierten Menschen“ (39) fußt und somit „für die Materialisierung dieser kolonisierenden Episteme“ (ebd.) mitverantwortlich ist. Da weder Intelligenz objektiv messbar ist noch IQ-Tests sachlich, faktenbasiert oder allgemeingültig sind, dienen die Messinstrumente vor allem dazu, spezifische kulturelle Wissensarten, Praktiken und Fähigkeiten sowie normative gesellschaftliche Vorannahmen zu privilegieren und in der Folge bestehende Machtverhältnisse zu bestätigen. Das mögliche schlechtere Abschneiden marginalisierter Gruppen bei IQ-Tests wird nicht als Effekt struktureller Ungleichheit, Diskriminierung oder kultureller Unterschiede interpretiert, sondern als Beweis für ihre Unterlegenheit. Dadurch wird Whiteness als Norm für Intelligenz weiter gefestigt.
Britta Hüls analysiert im Beitrag „Bildungsteilhabe auch für Rom*nja?! Schulabsentismus als Aspekt der strukturellen Bildungsbenachteiligung“, wie antiziganistische Ressentiments innerhalb der gesamten Gesellschaft fortbestehen und insbesondere als Rom*nja markierte Schüler*innen auf ihren Bildungswegen behindern können. Den Schüler*innen werden innerhalb des Schulsystems, das als Ordnungs- und Normierungsapparat fungiert, pauschal kulturelle Passungsprobleme zugeschrieben. Den Familien werden Bildungsaspirationen und das Interesse am schulischen Fortkommen der Kinder abgesprochen. Hüls arbeitet anhand von Interviews mit Sozialarbeiter*innen heraus, dass die „gesamtgesellschaftliche Bekämpfung von Antiziganismus Voraussetzung für die Verbesserung der Lebens- und Bildungssituationen sein muss und nicht andersherum.“ (102) Des Weiteren müsse die sozialräumliche Situation der Familien in der Analyse der Schulabstinenz der Schüler*innen berücksichtigt werden, denn die soziale und sozioökonomische Lage wird intergenerational tradiert.
Stine Albers nimmt in dem Artikel „… bis die Bombe platzt. Institutionalisierte Machtverhältnisse in Schule durch militarisierte Beziehungsgestaltung“ Bezug auf eine Übung im Klassenzimmer, die sie im Zuge eines explorativen Aufenthalts an einer Schule beobachtete. Die Schüler*innen werden von der Lehrerin dazu aufgefordert, unter Zeitdruck ein Nomen zu nennen, das den aktuellen Schultag beschreibt. Kann das adressierte Kind kein solches nennen, wird es „angezählt“ bis schließlich die sinnbildliche „Bombe platzt“. Albers erklärt, dass es sich hierbei um einen Akt der Demütigung handle, der vor allem die als „schulisch leistungsschwach markierten“ (158) Schüler*innen betrifft. Diese zeige sich durch eine „unterwürfige Haltung“ (ebd.), die die Betroffenen einnehmen würden. „Das Militarisierte an der Beziehungsgestaltung“ (159), das sich im Ausüben von emotionalem und zeitlichem Druck, von Leistungsdruck und einer hierarchischen Abhängigkeit gegenüber der Lehrperson konkretisiert, steht im Widerspruch zu einem Schulsystem, das sich als der Rationalität verpflichtet beschreibt. Die Lehrerin geht mit den leistungsstarken Schüler*innen eine Art Kompliz*innenschaft ein, indem sie ihre Befehlsgewalt „im Sinne von Herrschen durch Teilen“ (ebd.) maximiert.
Im Beitrag „Über die Bedeutung des „Ich“ in der Lehrer*innenbildung für eine machtkritische Perspektive auf die Sonderpädagogik“ beschreibt Susanne Leitner, dass die Sonderpädagogik auf der machtvollen Konstruktion einer Wir-Gruppe, der die vermeintlich Anderen gegenübergestellt werden, aufbaut. Das professionalisierte ‚Wir‘ ist zumeist weiß, privilegiert und bildungsbürgerlich ausgerichtet und rezipiert einen eben solchen Kanon. Als ‚die Anderen‘ werden die Schüler*innen im sonderpädagogischen Setting adressiert. Ihr festgelegter Förderbedarf aufgrund einer klinischen Diagnose oder einer sonstigen „Passungsschwierigkeit“ kann durch die zusätzliche Zuschreibung, nicht-weiß zu sein, verschärft werden. Die Dekonstruktion dieser binären Gruppen-Identitäten benötige ein (professionalisiertes) „Ich“, das gleichzeitig dazu in der Lage ist, sich als Ich zu ermächtigen und einen achtvollen Umgang eingeht mit den „Adressat*innen und Kolleg*innen, die von Rassismus […] betroffen sind.“ (214)
Der hier vorliegende Sammelband befasst sich mit aktuellen erziehungswissenschaftlichen Diskurssträngen und gesellschaftsrelevanten Fragestellungen. Die Beiträge fallen durch machtkritische, teilweise gegenhegemoniale Perspektiven und eine sprachsensible Reflexion positiv auf. Die Konzeption des Sammelbandes ist durchdacht und die einzelnen Artikel sind wissenschaftlich richtungsweisend. Die Struktur, der Aufbau und die Zuordnung der Artikel zu vier „Machtfeldern“ der Sonderpädagogik sind wohlüberlegt.
Ich lese den Sammelband als eine stellenweise explizite bzw. implizite Aufforderung, die eigene Positioniertheit im pädagogischen Raum unter Berücksichtigung von etwa postkolonialen Theorien oder Ansätzen von Critical Whiteness selbstreflexiv zu hinterfragen. Die Publikation überzeugt dadurch, dass die komplexen Zusammenhänge von dominanter Wissensvermittlung nicht simplifiziert werden, sondern als Resultat eines historischen Macht-Wissens-Komplexes analysiert werden.
Die Publikation qualifiziert sich für eine Leser*innenschaft, die im Feld der Erziehungswissenschaft, der Sonderpädagogik oder interdisziplinär arbeitet. Der Versuch, eine eurozentrische Perspektive zu durchbrechen, gelingt größtenteils. Es wäre wünschenswert gewesen, zusätzlich Autor*innen zu gewinnen, die selbst biografische Bezüge zu Veranderung in den besprochenen Handlungsfeldern haben. Der Sammelband ist insgesamt innovativ und überzeugt durch die wissenschaftliche Expertise der Beitragenden, durch die Heterogenität der inhaltlichen Setzungen, die kritische Rezeption der diskutierten Themen sowie eine gute Lesbarkeit.