Unter dem Titel âParadoxien (in) der PĂ€dagogikâ legen Ulrich Binder und Franz Kasper Krönig im Wortsinn einen âSammelbandâ mit insgesamt 19 EinzelbeitrĂ€gen (+ Einleitung) in fĂŒnf Teilen vor. Die Tradition der Auseinandersetzung mit pĂ€dagogischen Paradoxien werde ânicht nur weitergefĂŒhrt, sondern auch reflektiert und modifiziertâ (9) â so der Anspruch, der zu einem Vektor nebst erkenntniskritischer Selbstthematisierung ausbuchstabiert wird:
âDie groĂe StoĂrichtung lautet, die Beschaffenheit, Situierung und Wirkung von Paradoxien zu reflektieren, aber gleichwohl sind BeitrĂ€ge matrixhaft situiert, wenn sie ebenso die Legitimation, Funktion und Leistungen von (solchen) Paradoxie-Forschungen befragen.â (ebd.)
Das VerhĂ€ltnis dieses Anliegens zu BeitrĂ€gen, Struktur oder Zustandekommen des Bandes kann die mit drei Seiten sehr knappe Einleitung leider kaum erhellen. So wird die generische Ordnung der Teile in âTheorie, Semantik, Interaktion, Profession und Organisationâ (9, 11) nicht nĂ€her erlĂ€utert. Der orientierenden Darlegung von vier Richtungen des Umgangs mit pĂ€dagogischen Paradoxien (âEruierung und Analyseâ, âRelativierungâ, âInfragestellenâ sowie âReformulierungâ) fehlen wiederum die bandinternen BezĂŒge. Und die Kurzdarstellung der BeitrĂ€ge erfolgt in einer zutreffend als âhoch reduktionistisch, somit riskant informativâ (ebd.) erkannten Form. In VerkĂŒrzung auf zwei bis fĂŒnf Wörter versuchen die Herausgeber auf den Punkt zu bringen, âwas die BeitrĂ€ge mit Paradoxien âmachenââ (ebd.) und verkennen den Zugriff dabei zumindest einmal grĂŒndlich.[1]
Die Herausgeber vergeben auf diese Weise die Möglichkeit, einleitend mit und aus den zusammengestellten BeitrĂ€gen etwas zu machen, das ĂŒber ihre (An)Sammlung unter einem Titel und einer Proklamation hinausweist.
Teil I Paradoxien pÀdagogischer Theorien
Ulrich Binder, Franz Kasper Krönig und Heinz-Elmar Tenorth stimmen thematisch wie erkenntnispolitisch ein: In der Hoffnung, âdamit einen Referenzraum fĂŒr VerstĂ€ndigungâ (15) zu eröffnen, zeichnen sie den historischen Gebrauch des Paradoxiebegriffs nach, argumentieren mit Luhmann fĂŒr eine âErforschung von Mustern der Entparadoxierungâ (24) und (re)konstruieren von A wie âAufhebungâ bis W wie âWachstum(-semantik)â acht theoriestrategische Formen der Entparadoxierung pĂ€dagogischer Paradoxien. Auch hier verschenken die Herausgeber durch ausbleibende Verweise das Potenzial, einen Referenzraum fĂŒr VerstĂ€ndigung bereits innerhalb des Bandes zu beleben.
Mit einer ârelativierendenâ EntschĂ€rfung ĂŒber Schleiermachers Figur der âDualeâ steigen Elmar Drieschner und Detlef Gaus ganz praktisch in die Entparadoxierung von Fremd- und Selbstbestimmung sowie NĂ€he und Distanz ein. Fokussiert auf âhistorische und biografische Balanceverschiebungenâ (57) ĂŒberfĂŒhre âdualistisches Denken die Analyse von Antinomien und Paradoxien in eine prozessuale und dynamische Perspektiveâ (65) â im Beitrag dann allerdings (auch grafisch) teils auf ein schlichtes Kontinuum zwischen zwei Polen reduziert.
Walter Herzog setzt hier mit einer âInfragestellungâ der Paradoxie von Autonomie und Heteronomie deutlich radikaler an: Sein Beitrag legt ĂŒberzeugend dar, wie âder Ausschluss der sozialen Interaktion aus den Begriffen Bildung und Erziehungâ (68) mittels kausaler Subjekt-Objekt-Schemata (von Kant bis Wimmer) dazu gefĂŒhrt habe, dass âErziehung ĂŒberhaupt als Paradoxie erscheinen kannâ (ebd.). PĂ€dagogische Wirksamkeit im Medium der Kommunikation hingegen habe âfaktische Autonomieâ (79) als Grundvoraussetzung.
Steffen Wittig folgt der âThese der ProduktivitĂ€tâ (83) von Paradoxien. Mit Wimmers Begriff vom âGrund-Rissâ betont er die âkonstitutive Bedeutung des Paradoxen fĂŒr das PĂ€dagogischeâ (ebd.) und zeigt mit Laclau dessen produktives Moment auf. Im RĂŒckgriff auf Masschelein/Simons entfaltet er schlieĂlich die âThese, dass dieser Grund-Riss die PĂ€dagogik zu einem (politischen) Experiment mutieren lĂ€sstâ (ebd.), das hegemonial besetzte pĂ€dagogische Problematiken fortwĂ€hrend dekonstruiert und situativ neu verhandelbar macht.
JĂŒrgen Oelkers unternimmt entlang zeitgenössischer Diskurse des 18. Jh. eine originelle âRousseau-Auslegungâ (100). Rousseau sei âein Stachel im Erziehungsdenken gebliebenâ (112), weil er âdie scharfe Waffe der Paradoxienâ (ebd.) benutzte. Seine âProvokationenâ (100) waren dabei auch im Wortsinn gegen (gr. para/ÏαÏÎŹ) die allgemeine Meinung (gr. doxa/ÎŽÏΟα): âOffen mit Paradoxien der Erziehung zu denken, war störend und verursachte KopfschĂŒtteln, also wirkte die Strategie genauso, wie von Rousseau beabsichtigtâ (102).[2]
Teil II Paradoxien pÀdagogischer Semantiken
Paul Vehse erörtert höchst konzis und stringent die Frage, âob die PĂ€dagogik in Fragen der Anerkennung [âŠ] mit einem Dilemma zu tun hat, ob und wie dieses Dilemma paradox strukturiert ist und welche Möglichkeiten einer Entparadoxierung angedeutet werdenâ (117). In einer komparativen âEruierung und Analyseâ bereichert Vehse damit das eingangs programmatisch hergeleitete (Forschungs-)Interesse an Mustern der Entparadoxierung.
Die âParadoxien der Sprachlernklassenâ mit ihrem Ansatz einer ââInklusion durch Exklusionââ (132) untersucht Serafina Morrin. In einem schlĂŒssigen Dreischritt zeigt sie auf, wie Begegnungen mit â[d]em paradoxen Fremdenâ (139) von einer âKrisenerfahrungâ (ebd.) in einen âĂ€sthetischen Resonanzraumâ (ebd.) zu âauthentische[n] Kooperationenâ (ebd.) ĂŒberfĂŒhrt werden können und so âTransformationen ermöglichen, die ein gemeinsames Wir hervorbringenâ (142).
Entlang einer elaborierten Kritik der âParadoxie der verkennenden Anerkennungâ (152) stellt Anke Redecker die âanerkennungstheoretische Paradoxie-Propagierungâ (148) pointiert âinfrageâ. Statt âkunstvolle Konstruktionskapriolen an die Stelle kritischer Reflexionâ (161) zu setzen, bestĂŒnde die âentscheidende Aufgabeâ (160) darin, âauch neuen Impulsen Raum zu geben, die das alte Spiel der spektakulĂ€ren Paradoxie-Inszenierung nicht mitspielen, sondern stattdessen nach praktikablen Antworten auf deren Herausforderungen suchen wollenâ (ebd.).
AndrĂ© Epp setzt sich mit der âkaum mehr zu ĂŒberschauende[n] Anzahl an theoretischen Konzeptenâ (167) im Rahmen der âForschungen zu individuellen Wahrheitsurteilen von LehrkrĂ€ftenâ (ebd.) auseinander. Der âparadoxe[n] Beschaffenheitâ (168), dass unterschiedliche Begrifflichkeiten âauf ein und denselben Sachverhalt verweisenâ (170), geht Epp in einer kursorischen, historischen Betrachtung nach, die das Wirken ânicht-wissenschaftliche[r] Faktorenâ (172) heraushebt.
Jochen Laub bestimmt anregend, jedoch begrifflich wie gedanklich nicht immer stringent, die âNormativitĂ€t des Nachhaltigkeitsbegriffes als pĂ€dagogische Herausforderungâ (184) mit â[i]nhaltliche[n] und strukturelle[n] Paradoxienâ (186). Anstatt âNachhaltigkeit zu einer Maxime zu erhebenâ (190), so das PlĂ€doyer, seien dessen Antinomien und Paradoxien vielmehr als didaktische Ausgangspunkte der Reflexion zu begreifen, âum ethische UrteilsfĂ€higkeit zu fördernâ (191).
Teil III Paradoxien pÀdagogischer Interaktionen
Ludwig Duncker zeigt an drei didaktischen DiskussionszusammenhĂ€ngen luzid und prĂ€gnant die âbegrenzte[] GĂŒltigkeit didaktischer Konzepteâ (198) sowie âdie Notwendigkeit einer dialektischen VerknĂŒpfung mit ihrem jeweiligen âGegenĂŒberââ (199) auf. Schleiermacher folgend werden polare Spannungsfelder âdamit nicht in einer Synthese aufgefangen [âŠ], sondern [mĂŒssen] als Gegensatz wahrgenommen, aufrechterhalten und in praktischer Hinsicht immer wieder neu ausbalanciert werdenâ (208).
In Ă€hnlicher StoĂrichtung skizziert Frank Beier eine âparadoxiesensible und reflexive Didaktikâ (229), die er auf Basis der Unterscheidung holistischer und atomistischer AnsĂ€tze didaktischen Paradoxiemanagements sowie zweier Fallanalysen paradoxaler Handlungsanforderungen entwirft. Gerade die empirisch gewonnenen Kategorien sollen Lehrpersonen dabei helfen âin actu zu reflektieren, auf welche Seite man gerade kipptâ (ebd.).
Imke Kollmer lĂ€sst die SelbstverstĂ€ndlichkeit des Referats fragil werden. Aus interaktionslogischer Perspektive reagierten Referate auf das âStrukturproblem potentiell ausbleibender Beteiligungâ (243), das in der Folge jedoch durch ein anderes Handlungsproblem ersetzt werde und so die WidersprĂŒchlichkeit seminaristischer Praxis nur âreformuliertâ: âdas fehlende oder zumindest stark reduzierte Aufwerfen der Fraglichkeit von GeltungsansprĂŒchenâ (ebd.).
Teil IV Paradoxien pÀdagogischer Professionen
Stefan Emmenenger nimmt âdie behauptete Relevanz und Unverzichtbarkeit von Antinomie/Paradoxie zum Anlass, die systematische, fachwissenschaftliche und ausbildungsbezogene Reichweite dieses Leitgedankens zu prĂŒfenâ (248). Seine eingĂ€ngige âInfragestellungâ resultiert in einem differenzierten Ausblick auf die âRelativierungâ des Stellenwerts von Antinomie/Paradoxie in der LehrkrĂ€ftebildung.
Auf Basis einer stringenten Diskussion von drei âsystematischen Schwachstellen in den bisherigen Perspektiven auf die pĂ€dagogischen Paradoxien von Freiheit und Zwang bzw. von FĂŒhren und Wachsenlassenâ (269) âreformuliertâ Ulf Sauerbrey das âallgemeine[] pĂ€dagogische[] Grundproblemâ (280) im RĂŒckgriff auf SĂŒnkel und Prange als Paradoxon einer âEinheit der Differenz von Zeigen und Lernenâ (ebd.) im Kontext âbisubjektive[n] Zusammenwirken[s]â (ebd.).[3]
Horst Zeinz und Henrike Kopmann diskutieren mit Helsper und in ârelativierende[r] Perspektiveâ (294) einige pĂ€dagogische Antinomien in den Bereichen âInklusion, Digitalisierung und Umwelterziehung / BNEâ (285). Ihr zumeist kursorischer Durchgang wird bisweilen auch erratisch, wenn etwa als Ziel âschulische[r] BeschĂ€ftigung mit Umweltthemenâ (293) ausgewiesen wird, dass âeine Liebe zur Natur angebahnt werden sollâ (ebd.).
Teil V Paradoxien pÀdagogischer Organisationen
Thomas Wendt arbeitet entlang von Paradoxien, âdie sich aus der organisationalen Struktur-Subjekt-DualitĂ€t ableitenâ (300) anschaulich die PĂ€dagogizitĂ€t von Management und FĂŒhrung heraus. âDie Erfahrung der Unmöglichkeit, fixe Zielstellungen durchzusetzen, ohne dabei unplanmĂ€Ăige Effekte zu produzierenâ(ebd.) bestimmt er dabei schlĂŒssig als âAntriebsfederâ (ebd.) fortwĂ€hrender Erneuerung von Konzepten in PĂ€dagogik wie Organisation.
Benjamin Betschart problematisiert treffend die ânicht-produktive[] Paradoxieâ (316), dass âQualitĂ€tsmanagement mittels Evaluationen in einem pĂ€dagogischen Gegenstandsfeld pĂ€dagogisches Denken und erziehungswissenschaftliches Wissen weitestgehend exkludiert resp. ignoriertâ (315). Seine Empfehlung zur Entparadoxierung: âAuf eine fĂŒr Bildungsinstitutionen unwĂŒrdige Vereinfachung [âŠ] verzichtenâ (326).
Niels Ă
kerstrĂžm Andersen, Hanne Knudsen und Jette Sandager beschlieĂen den Band mit der stichhaltig und materialgesĂ€ttigt entfalteten These, dass der Forschungs- und Technologiewettbewerb âFirst Lego League Challengeâ âein Medium fĂŒr die Potentialisierung des Potentials der Kinder anbietetâ (343). PotenzialitĂ€t werde damit â so das ausgemachte Paradoxon â sowohl Form als auch Medium und markiere dergestalt den âVersuch, den Begrenzungen der PĂ€dagogik zu entfliehenâ (353).
ResĂŒmee
Binder und Krönig ist es in der Gesamtschau gelungen, einen fĂŒr die Diskussion von âParadoxien (in) der PĂ€dagogikâ bedeutsamen Band vorzulegen, der seinem Anspruch der Reflexion und Modifikation vorangegangener (Theorie-)Traditionen gerecht wird. Der Band setzt sich weit ĂŒberwiegend aus lesenswerten BeitrĂ€gen mit ersichtlichen, wenn auch zu selten ausgewiesenen BezĂŒgen zu den eingangs aufgezeigten Richtungen der âEruierung und Analyseâ, âRelativierungâ, âInfragestellungâ und âReformulierungâ pĂ€dagogischer Paradoxien in einer thematisch vertrĂ€glich disparaten Breite zusammen.
Obgleich mehr herausgeberische Zuwendung dem Band ĂŒberaus zutrĂ€glich gewesen wĂ€re, verfĂŒgt dieser in den allermeisten BeitrĂ€gen wie in ihrer Zusammenstellung (weniger in der Teile-Ordnung) ĂŒber ein hohes Anregungs- und Anschlusspotenzial, das dem Umgang mit den âGrundfragen der PĂ€dagogikâ in paradoxiesensibler wie -kritischer Hinsicht neue Impulse zu geben vermag.
[1] Ludwig Duncker setzt sich in seinem Beitrag explizit vom Konzept dialektischer Aufhebung bei Hegel ab und rekurriert stattdessen auf Schleiermacher, âder das dialektische Denken mehr in unaufhebbaren Antinomien verortet" (208). Von den Herausgebern erhĂ€lt er dennoch das Label âdialektisch aufheben (Duncker)â (11).
[2] GetrĂŒbt wird Oelkers Beitrag leider durch fehlende Ăbersetzungen der zahlreichen französischsprachigen Zitate.
[3] In Anlage und Konklusion weist der Beitrag trotz differenter Theoriereferenzen zahlreiche Analogien zu den AusfĂŒhrungen Herzogs auf.
EWR 23 (2024), Nr. 3 (Juli)
Paradoxien (in) der PĂ€dagogik
Weinheim: Beltz 2021
(357S.; ISBN 978-3-7799-6488-9; 34,95 EUR)
Steffen Hamborg (Oldenburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Steffen Hamborg: Rezension von: Binder, Ulrich / Krönig, Franz Kasper (Hg.): Paradoxien (in) der PĂ€dagogik. Weinheim: Beltz 2021. In: EWR 23 (2024), Nr. 3 (Veröffentlicht am 14.08.2024), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978377996488.html
Steffen Hamborg: Rezension von: Binder, Ulrich / Krönig, Franz Kasper (Hg.): Paradoxien (in) der PĂ€dagogik. Weinheim: Beltz 2021. In: EWR 23 (2024), Nr. 3 (Veröffentlicht am 14.08.2024), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978377996488.html