Der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft, Armut und Bildungserfolg ist seit Langem ein zentrales Thema der erziehungswissenschaftlichen und bildungssoziologischen Forschung. Zahlreiche Studien zeigen, dass Kinder aus einkommensarmen und formal gering gebildeten Familien im Bildungssystem systematisch benachteiligt sind [1]. Was lange Zeit vor allem Gegenstand quantitativer und quantifizierender Forschungen war, wird in den letzten Jahren zunehmend durch qualitative Ansätze ergänzt. Diese Vorgehensweisen richten den Blick auf die sozialen Mechanismen, Machtasymmetrien und – mit Bourdieu gesprochen – die sozialen Kämpfe auf dem Spielfeld der Bildung.
Die beiden hier rezensierten Dissertationen von Anja Kerle („Armut im Blick?“) und Stephanie Simon („Armut, Bildung und Soziale Ungleichheiten“) widmen sich diesen Zusammenhängen aus einer qualitativ-rekonstruktiven Perspektive und fokussieren auf pädagogische Fachkräfte bzw. Organisationen der frühkindlichen Bildung. Unter ähnlichen theoretischen Vorannahmen, aber mit unterschiedlichen methodischen Ansätzen untersuchen sie jeweils die Deutungen von und den Umgang mit Armut durch pädagogische Fachkräfte. Im Folgenden werden beide Studien nacheinander vorgestellt und abschließend vergleichend diskutiert.
In 12 Kapiteln und auf 322 Seiten widmet sich Anja Kerle den Fragen, wie (1) Armut im Feld der Familienzentren mit einem „Early-Excellence-Ansatz“ (EEC) konstruiert wird und (2) welche feldspezifischen Umgangsweisen mit Armut sich beobachten lassen. Ihre Ethnographie umfasst neben teilnehmenden Beobachtungen Dokumentenanalysen und Interviews. Die Arbeit beginnt mit dem Kapitel „Ver(-un)gewisserungen“, welches das stetige Bemühen um kritische (Selbst-)Reflexion der angewandten Theorien, der Ergebnisse und der eigenen sozialen Positioniertheit im Feld verdeutlicht. Die Ansprüche qualitativer Forschung werden somit durchweg ernst genommen. Kapitel II bietet einen prägnanten, aber umfassenden Überblick über zentrale Begriffe und Zugänge der Arbeit:
Zusammenhänge zwischen Bildung und Ökonomisierung, Armut und Kindheitspädagogik sowie Konzepte von Familienzentren und der EEC-Ansatz werden eingeführt. Im Sinne der reflexiven Bemühungen von Anja Kerle wird das „Trilemma der Inklusion“ (Mai Anh-Boger) auf den eigenen Forschungsgegenstand in einem fünfseitigen „Zwischenruf“ angewendet (28-32). Aus den referierten Forschungen werden folgerichtig die obengenannten untersuchungsleitenden Fragestellungen abgeleitet.
Die method(olog)ischen Grundlagen werden auf 21 Seiten erläutert. Allerdings bleibt die „poststrukturalistische Perspektive“ auf Organisationen und ihre „praxeologische Einbettung“ untertheoretisch (41). Ein rein prozessuales Organisationsverständnis, das Organisationen als ständig neu erzeugte „Kultur“ begreift, unterschätzt die Persistenz bestehender Strukturen. Es vernachlässigt die materielle Einbindung von Organisationen und erklärt nicht ausreichend, warum manche Neuerungen nur schwer in bestehende Ordnungen integriert werden können. Durch die Überbetonung von Diskursen und Narrativen werden Organisationen als äußerst wandlungsfähig dargestellt, was der empirischen Realität – insbesondere von Bildungseinrichtungen – nicht gerecht wird. Dennoch sind die anschließenden diskurs- und dispositivanalytischen Schlussfolgerungen konsistent, die Wahl der konstruktivistischen bzw. „postmodernen“ Grounded Theory Methode ist gut begründet.
In ihrer Studie präsentiert Kerle eine umfassende Analyse der EEC-Programmatik und ihrer Umsetzung in einem Familienzentrum, mit besonderem Fokus auf den Umgang mit Armut. Die Autorin rekonstruiert durch Dokumentenanalysen und ethnografische Methoden die vorherrschenden Kinder- und Familienbilder sowie die daraus resultierenden pädagogischen Praktiken. Ein zentrales Ergebnis ist der „positive Blick“ auf das Kind, der sich durch eine starke Ressourcenorientierung auszeichnet. Das Kind wird als „exzellent“ und „vom Erwachsenen verstehbar“ (106) konzipiert, während das EEC-Konzept als „Mobilitätsagent“ (111) zur Lernoptimierung fungiert. Eltern werden dabei als „begrenzte“ Expert:innen (122) betrachtet, die aber in die pädagogische Arbeit einbezogen werden müssten.
Die Studie identifiziert eine Spannung zwischen dem Anspruch des Familienzentrums als „Gleichheitsort“ (237) und der tatsächlichen Praxis, die durch Zugangsregulierungen und Normierungsbestrebungen gekennzeichnet ist. Dies führt zu einer paradoxen Situation, in der Armut einerseits als von außen eingebracht wahrgenommen, andererseits aber innerhalb der Organisation unsichtbar gemacht wird. Kerle arbeitet heraus, wie die Fachkräfte auf „normverletzendes Verhalten der Eltern im Kontext von Armut“ (264) mit einer „Inszenierung des positiven Blickes“ (282) reagieren. Diese Strategie resultiert in Verschleierungen und Silencing-Effekten, die strukturelle Ungleichheiten in der Organisation verdecken. Als übergreifende Strategie identifiziert die Autorin das „Irrelevant-Sprechen“ von Armut, wodurch sich die Organisation „rhetorisch“ von Armut „entledigt“ (288). Diese Praxis wird kritisch in den Kontext hegemonialer meritokratischer und neoliberaler Diskurse eingeordnet.
Die Studie schließt mit Handlungs- und Entwicklungsempfehlungen für die pädagogische Praxis, EEC-Programme und zukünftige Forschungsvorhaben, die auf eine reflektierende und inklusive Herangehensweise an sozioökonomische Ungleichheiten in frühpädagogischen Kontexten abzielen.
Stephanie Simon legt eine Studie vor, die „dezidiert normativ ausgerichtet ist, empirisch gesättigt und von der praktischen Absicht geleitet, Ungerechtigkeit zu überwinden“ (Zit. von Fraser, 15). Auf über 500 Seiten befasst sie sich mit Deutungen und Praktiken der Reproduktion sozialer Ungleichheiten in der Kindheitspädagogik.
Hierfür führte sie Interviews mit pädagogischen Fachkräften in Kindertagesstätten. Die Arbeit gliedert sich in fünf Hauptkapitel. Zu Beginn nimmt sich die Autorin auf 15 Seiten Raum für Vorüberlegungen. Dort geht sie kritisch auf übliche Sprech- und Präsentationsakte in Wissenschaft und Öffentlichkeit ein. Zudem offenbart sie ihre eigene deutliche Positioniertheit und kritisiert die „Pädagogisierung sozialer Ungleichheiten“ (26).
Im Hauptkapitel II legt Stephanie Simon umfangreiche begriffliche Grundlagen der von ihr herangezogenen Konzepte dar: Professionsverständnisse, Armutsdefinitionen sowie sozialstrukturelle Begrifflichkeiten wie Milieu, Klasse oder Schicht. Außerdem präsentiert sie theoretische Konzeptionen von Bildung, Herrschaft und symbolischer Gewalt. Sie argumentiert „für eine Wiederbelebung und Reakzentuierung eines marxistischen Klassenbegriffs“ und damit verknüpfte „Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnisse“ (102). Dieser Teil besticht durch theoretische Sauberkeit und kann mit Genuss gelesen werden. Er überträgt zudem einen vielversprechenden Trend in den Sozialwissenschaften – die Rückkehr des Klassenbegriffs [2] – auf erziehungswissenschaftliche Fragestellungen. Dennoch erweisen sich Umfang und Tiefe für das empirische Vorhaben als nicht notwendig. In der Darstellung der Empirie wird dieser theoretische Überbau nicht entsprechend weiter aufgegriffen. Im Abschnitt IV „Methodologische Vergewisserungen“ (155) schließen sich die theoretischen Grundlagen an. Dort legt Simon ihr methodisches Vorgehen nach dem Deutungsmusteransatz dar, den sie wissenssoziologisch in Anschluss an Mannheim und Nachfolgende herleitet.
Hauptkapitel III widmet sich der Empirie. Dazu zählt Simon auch einen kommentierten Forschungsstand (198 ff.). Dieser ist sowohl umfassend als auch gut strukturiert, die einzelnen Forschungsarbeiten werden gelungen aufeinander bezogen und verknüpft.
Nach 278 Seiten präsentiert die Autorin die empirischen Ergebnisse zu „Deutungen pädagogischer Fachkräfte von Bildung und Armut“ (278 ff.) in sieben Teilkapiteln. Diese diskutiert sie anschließend vergleichend. Dafür nutzt sie Fokussierungsmetaphern der Gruppendiskussionen, anhand derer sie Idealtypen verdichtet (Abschnitt 5.2). Die Rekonstruktionen stellt sie umfassend transparent und intersubjektiv nachvollziehbar dar. In der Analyse kann sie auf diese Weise sieben Deutungsmuster voneinander unterscheiden, die von Naturalisierung und Biologisierung über verschiedene Formen neoliberaler Deutungsmuster bis hin zu einem kapitalismuskritischen Deutungsmuster reichen, das die Verteilungsungerechtigkeit im spätmodernen Kapitalismus einrechnet. Die jeweiligen Rekonstruktionen koppelt Simon dabei bereits in den Analysen an theoretische und empirische Diskussionen der Kindheits- und Sozialpädagogik, der Bildungssoziologie und Sozialphilosophie zurück. Ebenso wie andere Studien in diesem Feld [3] kommt Simon zu dem Schluss, dass die dominanten Deutungsmuster objektive sozialstrukturelle Lebenslagen vernachlässigen würden und vielmehr auf die jeweiligen Verhaltensmuster der „Betroffenen“ abzielten. Dies zeigt auch die zusammenfassende und sortierende Darstellung ihrer Ergebnisse in einem Koordinatensystem zwischen gesellschaftlich bis individuell (x-Achse) und dem Maß der pädagogischen Handlungsmächtigkeit (y-Achse) (404).
An dieser Stelle, wo sich bereits ein umfassendes Fazit und ein Ausblick auf kommende Forschungen anschließen könnten, zeigt die Autorin erneut, dass sie die Anforderungen rekonstruktiver qualitativer Forschung ernst nimmt. Sie zieht in Kapitel sechs eine weitere „reflexive Schleife" und hinterfragt dabei umfassend und selbstkritisch ihre Methoden, Vorannahmen, die Datenauswertung sowie ihre eigene Positioniertheit. Erst danach bindet sie ihre Arbeiten an professionstheoretische, wissenschaftstheoretische und ungleichheitstheoretische Anschlüsse zurück. Auf diese Weise schließt sie gekonnt den Bogen zu den eingangs dargelegten begrifflichen Grundlagen.
Abschließend präsentiert Simon in Kapitel acht „offene unbeantwortete Fragen“ (503 ff.) und macht in Anschluss an Winkler eine „erstaunliche Macht von Alltagstheorien“ als Ursache für die Persistenz sozialer und ökonomischer Ungleichheitsverhältnisse aus. Sie schließt mit der Frage: In welcher Gesellschaft wollen wir eigentlich leben (507)?
Beide Autorinnen betreiben „engagierte Sozialforschung“ und gehen offensiv mit ihren sozialen Positionierungen um. Diese Offenheit schmälert die Ergebnisse in keiner Weise, im Gegenteil: Beide hier besprochenen Dissertationen sind im Feld der qualitativen erziehungswissenschaftlichen Forschung hinsichtlich der methodischen Umsetzung besonders hervorzuheben. Die Anforderungen der gewählten methodischen Zugänge werden vollends eingelöst und gewonnene Erkenntnisse transparent und intersubjektiv nachvollziehbar dargestellt. Die empirischen Ergebnisse sind hoch anschlussfähig an weitere Studien im Feld der Deutungsmuster von (Kinder-)Armut und Bildung [4]: Sie ergänzen den vorliegenden Forschungstand um das Feld der Kindheitspädagogik und frühkindlichen Erziehung. Insofern leisten Anja Kerle und Stephanie Simon einen wichtigen Beitrag zu diesem Bereich. Die Kritikpunkte an den jeweiligen Arbeiten, wie der nicht vollends elaborierte poststrukturalistische Organisationsbegriff bei Kerle und die im Empirieteil nicht adäquat aufgegriffene theoretische Vorarbeit bei Simon, sind vor dem Hintergrund der Gesamtqualität zu vernachlässigen. Zu guter Letzt bleibt zu hoffen, dass sich die Autorinnen und andere in diesem Feld tätige Forscher:innen ihren jeweiligen Daten in Zukunft mit metaanalytischen Zugängen widmen, um die Erkenntnisse in den verschiedenen pädagogischen und politischen Feldern zu einer Gesamtschau gängiger Deutungsmuster von und Umgangsweisen mit (Kinder-)Armut zu verdichten.
[1] zusammenfassend siehe Ditton, H. (2019). Mechanismen der Selektion und Exklusion im Schulsystem. In G. Quenzel & K. Hurrelmann (Hrsg.), Handbuch Bildungsarmut (S. 157-181). Springer VS.
[2] zusammenfassend siehe Graf, J., Lucht, K., & LĂĽtten, J. (Hrsg.) (2022). Die Wiederkehr der Klassen. Theorien, Analysen, Kontroversen. Campus Verlag.
[3] vgl. z.B. Behrmann, L. (2021). Bildung und soziale Ungleichheit. Deutungen und Erfahrungen von Lehrer:innen an Gesamtschulen in West- und Ostdeutschland. Campus Verlag; Hübenthal, M. (2018). Soziale Konstruktionen von Kinderarmut. Sinngebungen zwischen Erziehung, Bildung, Geld und Rechten. Beltz Juventa; Koevel, A., Nerdinger, F. W., & Junge, M. (2021). „Verschuldete Armut ist für mich, wenn ich saufen gehe und nichts mehr mach“ – Eine Grounded Theory-Studie zu Armutskonstruktionen von Lehrpersonen. ZSE – Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation, 41(1): 57–72.
[4] ebd.
EWR 23 (2024), Nr. 3 (Juli)
Sammelrezension
Armut im Blick?
Eine Ethnographie zu Familienzentren nach dem Early-Excellence-Ansatz
Weinheim, Basel: Beltz Juventa 2023
(339 S.; ISBN 978-3-7799-7317-1; 48,00 EUR)
Armut, Bildung und Soziale Ungleichheiten
Deutungen und Bedeutungen im Feld der Pädagogik der Kindheit
Wiesbaden: Springer VS 2023
(588 S.; ISBN 978-3-6584-1014-8; 89,99 EUR)
Arne Koevel (Bremen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Arne Koevel: Rezension von: Kerle, Anja: Armut im Blick?, Eine Ethnographie zu Familienzentren nach dem Early-Excellence-Ansatz. Weinheim, Basel: Beltz Juventa 2023. In: EWR 23 (2024), Nr. 3 (Veröffentlicht am 14.08.2024), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978377997317.html
Arne Koevel: Rezension von: Kerle, Anja: Armut im Blick?, Eine Ethnographie zu Familienzentren nach dem Early-Excellence-Ansatz. Weinheim, Basel: Beltz Juventa 2023. In: EWR 23 (2024), Nr. 3 (Veröffentlicht am 14.08.2024), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978377997317.html