EWR 23 (2024), Nr. 3 (Juli)

Evi Agostini / Agnes Bube / Stefan Meier / Sebastian Ruin (Hrsg.)
Profession(alisierung) und Erfahrungsanspruch in der Lehrer:innenbildung
Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2023
(163 S.; ISBN 978-3-7799-7654-7; 35,00 EUR)
Profession(alisierung) und Erfahrungsanspruch in der Lehrer:innenbildung Was ist „Erfahrung“, welche Bedeutung wird „Erfahrung“ und der Reflexion von Erfahrung im Diskurs um Professionalisierung von Lehrer:innen beigemessen und in welcher Weise schlagen sich bestimmte Annahmen in der Gestaltung von Aus- und Weiterbildungsordnungen der Lehrer:innenbildung nieder? An diesen Fragen setzt der Band „Profession(alisierung) und Erfahrungsanspruch in der Lehrer:innenbildung“ an, der 2023 von Evi Agostini, Agnes Bube, Stefan Meier und Sebastian Ruin in der Reihe Erfahrungsorientierte Bildungsforschung (Beltz Juventa Verlag) herausgegeben wurde. Die 163 Seiten des Bandes gliedern sich in acht Kapitel, wobei mit dem ersten und dem letzten Beitrag eine Rahmung der anderen sechs Beiträge durch die Herausgeber:innen erfolgt.

Unter Bezugnahme auf aktuelle Umbrüche und Umstrukturierungen der Lehrer:innenbildung im deutschsprachigen Raum eröffnen die Herausgeber:innen den Band mit der Frage nach dem Verständnis und der Bedeutung von „Erfahrung“ in Hinblick auf Professionalisierungsprozesse bei (angehenden) Lehrer:innen (7). Mit einer kurzen Verortung und Eingrenzung der mit dem Erfahrungsbegriff verbundenen Forschungslücken problematisieren die Herausgeber:innen, in den unterschiedlichen professionstheoretischen Perspektiven sei noch nicht ausreichend expliziert, was unter „Erfahrung“ verstanden und welche Bedeutung diesem Konzept jeweils beigemessen würde. In den sechs Beiträgen dieses Bandes realisieren Vertreter:innen möglichst unterschiedlicher Perspektiven nun Versuche der Explikation und Klärung, um die Vielstimmigkeit der Verständnisse abzubilden (12). Einen gemeinsamen Bezugsrahmen der Beiträge bietet eine exemplarische Szene aus einer videografierten Sportunterrichtsstunde (13). Die Leser:innen finden ein Transkript dieser Szene inklusive ausgewählter Bildausschnitte ganz hinten im Band.

In Folge werden zentrale Aspekte der sechs Beiträge zusammengefasst:
Marcus Syring misst dem Phänomen Erfahrung aus kompetenztheoretischer Perspektive eine zentrale Bedeutung bei: Die Entwicklung von Kompetenz bzw. Expertise komme vornehmlich durch Erfahrungslernen, die Reflexion von Erfahrungswissen und dessen Abgleich mit wissenschaftlichem Wissen zustande (31). Professionalisierung wird als Erwerb von Fähig- und Fertigkeiten (Wissen und Können) aufgefasst (20) – ein Prozess, der durch vielfältige Erfahrungen in Praktika, an der Hochschule, aber auch darüber hinaus maßgeblich geprägt sei und der sich in qualitätsvollem (und mit der Zeit routinisiertem) Handeln niederschlage (27).

Christa Markom und Veronika Wöhrer fassen Erfahrung aus machttheoretischer Perspektive als „Bestandteil des Habitus-Konzeptes“ und als prägend in Hinblick auf geschlechterspezifische Handlungsweisen auf (36). Die Erfahrung und Reproduktion von sozialkonstruierten Differenzen schlage sich im Lehrer:innenhandeln nieder (39). In Hinblick auf die Professionalisierung von Lehrer:innen plädieren die Autor:innen daher für eine Explikation und „Reflexion eigener Vorannahmen und Verhaltensweisen in Bezug auf Geschlecht – aber auch soziale Herkunft oder Ethnizität“, beispielsweise durch gezielte „Reflexionsübungen“ (43). Dabei könne „Theorie als wesentliche Linse für Selbstreflexion“ als auch die Reflexion herrschender Strukturen dienen (45f).

Andreas Wernet versteht die Handlungspraxis von Lehrer:innen aus handlungslogisch-strukturtheoretischer Perspektive als in sich widersprüchlich. Aus den Erfahrungen, die Lehrer:innen im Ringen mit diesen Widersprüchen machen, würden Handlungsroutinen gerinnen, die reflexiv zu bearbeiten seien (54). Die Entwicklung von Professionalität (als Gegenstück zur Laienhaftigkeit) und somit Habitustransformation könne in diesem Verständnis durch die (Selbst-)Reflexion von Erfahrung und zu Routinen geronnener Erfahrung zwar angestrebt, kaum aber vollständig eingeholt werden (71).

Sarah Drechsel und Hedda Bennewitz beleuchten Erfahrung aus praxistheoretischer Perspektive. Sie verstehen das Zusammenspiel aus Einlassung auf Erfahrung, Reflexion und Rückübersetzung in weiteres Handeln als konstitutiv für Professionalisierungsprozesse (73). Dabei könne die Analyse von Fällen („rekonstruktive Kasuistik“) einen Zugang zu (eigenen und fremden) Erfahrungen, weitgehend implizitem Handlungswissen als auch möglichen Ansprüchen eröffnen (77). Professionalität zeichne sich in diesem Sinn durch einen reflexiven bzw. analytischen Habitus aus (83).

Janina Bernshausen, Melanie Fabel-Lamla und Franziska Piva-Scholz verstehen Erfahrung aus (berufs-)biographischer Perspektive als „konstitutives Element der Biographieforschung“ (88). Da die biographische Wissensstruktur als Orientierungs- und Deutungsschema für den Handlungsvollzug diene (89), wird Professionalisierung in diesem Verständnis als lebenslanger Entwicklungs- und Lernprozess (oder auch als Entwicklungsaufgabe) angesehen. Unumgänglich sei dabei die (selbst-)reflexive Bearbeitung insbesondere krisenhafter Erfahrungen, die Lehrer:innen „haben“ und kontinuierlich „machen“ (88-91). Die Autorinnen plädieren für eine feste Verankerung der reflexiven Bezugnahme auf biographische Erfahrungen und Auseinandersetzung mit „habitualisierten Orientierungen“ in der Lehrer:innenbildung (98).

Severin Sales Rödel betrachtet Erfahrung aus phänomenologischer Perspektive im Spannungsfeld von aktiver Antizipation und passivem Widerfahren (107). So sei die Wahrnehmung eines Phänomens eine Erfahrung, die sich zwischen passiver Rezeption und aktiver Sinnzuschreibung entfalte (108). Auch wenn sich diese Prozesse je individuell und wiederum abhängig von vorangegangenen Erfahrungen gestalten und modifizieren würden, könne Erfahrung von anderen nachvollzogen bzw. miteinander geteilt werden. Die Distanzierung und Reflexion von Erfahrungen im Austausch mit anderen ermögliche die Annäherung an unterschiedliche Formen des Wahrnehmens und Urteilens (115-118). Professionalisierung zeichne sich vor dieser Folie durch eine „Offenheit“ und „reflexive Haltung“ aus (109), die individuelles Erfahrungswissen und Handeln stetig in Frage stelle, um sich im Umdeuten zu erproben (119).

Um den Leser:innen die Orientierung im Band und Gegenüberstellung der Perspektiven ein Stück weit zu erleichtern, schließen die Herausgeber:innen den Band mit einer Zusammenschau. Darin arbeiten sie die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der jeweils behandelten Perspektiven entlang von vier Strängen heraus: (1.) in Hinblick auf den Erfahrungsbegriff in den Beiträgen (124-129), (2.) den jeweiligen Blick auf Profession, Professionalität und Professionalisierung (130-135), (3.) die Analysen des Video-Beispiels (136-140) sowie (4.) das je zugrundeliegende Verständnis um das Verhältnis von Theorie und Praxis (140-145). Die Herausgeber:innen weisen durchaus kritisch auf konkrete Schwachstellen der sechs Beiträge in Hinblick auf die Präzisierung von Begriffsverwendungen und Explikation von gesetzten Normen oder impliziten theoretischen Annahmen hin.

Der Band veranschaulicht in lebendiger Weise, dass der Begriff der „Erfahrung“ im wissenschaftlichen Diskurs zwar vielfach verwendet, darunter allerdings Unterschiedliches verstanden wird und die verschiedenen Verständnisse immer wieder verschwimmen. Die Zusammenstellung der Beiträge kann insofern dazu dienen, die Illusion zu erschüttern, dass Wissenschaftler:innen im Bereich der Lehrer:innenbildung, die sich auf „Erfahrung“ beziehen, mit diesem Begriff auch das gleiche meinen. Durch die Zusammenstellung der Beiträge zeichnen sich vielfältige Perspektiven auf die Thematik (sowie auf das Videobeispiel), wobei ausnahmslos alle Autor:innen die Bedeutung der „Reflexion von Erfahrung“ betonen. Wodurch sich diese Reflexion jeweils auszeichnet, wird nur teilweise präzisiert. Der Band kann als Auftakt begriffen werden, die Aufmerksamkeit für die Bezugnahme auf „Erfahrung“ und „Reflexion von Erfahrung“ in der Lehrer:innenbildung zu schärfen sowie den Diskurs auch weiterhin darauf zu fokussieren, was in unterschiedlichen Positionen und Strömungen darunter verstanden wird. Da sich auf die Fragen nach „Wissen“, „Können“, der Entstehung von „Könnerschaft“ und der dafür als notwendig erachteten Bedingungen höchst unterschiedliche Paradigmen herausgebildet haben [1], darf nicht unterschätzt werden, welch weitreichende Folgen sich aus bestimmten Auffassungen von „Erfahrung“ und deren Stellenwert für die Gestaltung von Qualifizierungs- und Professionalisierungsangeboten für (angehende) Lehrer:innen ergeben.

[1] Neuweg, G. H. (2022). Lehrerbildung. Zwölf Denkfiguren im Spannungsfeld von Wissen und Können. Waxmann.
Bernadette Strobl (Wien)
Zur Zitierweise der Rezension:
Bernadette Strobl: Rezension von: Agostini, Evi / Bube, Agnes / Meier, Stefan / Ruin, Sebastian (Hg.): Profession(alisierung) und Erfahrungsanspruch in der Lehrer:innenbildung. Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2023. In: EWR 23 (2024), Nr. 3 (Veröffentlicht am 14.08.2024), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978377997654.html