EWR 23 (2024), Nr. 4 (Oktober)

Dagmar Hänsel
Historiographie der Sonderpädagogik
Kontinuitäten im Wandel von der Hilfsschul- und Heilpädagogik zur inklusiven Pädagogik
Mit Online-Materialien
Weinheim: Beltz Juventa 2024
(236 S.; ISBN 978-3-7799-7758-2; 38,00 EUR)
Historiographie der Sonderpädagogik Dagmar Hänsel legt mit ihrer „Historiographie der Sonderpädagogik“ ein Buch vor, welches den Anspruch vertritt, eine kritische Metageschichte zur etablierten sonderpädagogischen Geschichtsschreibung zu sein. Insbesondere möchte sie eine bislang vernachlässigte Kontinuität zwischen der Sonderpädagogik in der Zeit des Nationalsozialismus bis in die Gegenwart herausarbeiten. Ihr Versuch basiert auf der Annahme, dass die bisherige Historiografie der Sonderpädagogik aus der Disziplin heraus selbst oft einen apologetischen Charakter gegenüber den eigenen disziplinären Entwicklungen habe und eine grundlegende Kritik an der historischen Entfaltung und gegenwärtigen Praktiken der Sonderpädagogik vernachlässige. Aber der Autorin geht es um mehr:

Sie möchte nicht nur bislang wenig beleuchtete Entwicklungen sichtbar machen, sondern den kritischen Blick auf die Sonderpädagogik als selbstreferentielle Disziplin richten und die „Geschichtskonstruktionen der Sonderpädagogik zur NS-Zeit [als] Mythenerzählungen” (14) dekonstruieren. Kritisch betrachtet sie auch die Etablierung der Disziplin als von der allgemeinen Pädagogik unabhängige Wissenschaft mit eigenen Schwerpunkten und die mit dieser Entwicklung verbundene Frage nach der gesellschaftlichen Ausgrenzung von Kindern und Jugendlichen, die durch sonderpädagogische Diagnostik als behindert klassifiziert werden – eine Ausgrenzung, die durch die disziplinäre Positionierung erst ermöglicht würde. Damit reiht sich ihre Publikation ein in eine Reihe von Forschungen, die in der disziplinären Ordnung von sonder- und allgemeiner Pädagogik einen Pfeiler von Exklusion behinderter Menschen betrachten.[1] Und tatsächlich ist diese besondere Ausdifferenzierung der Sonderpädagogik ein spannendes historisches Forschungsfeld, insbesondere vor dem Hintergrund, dass diese in dieser Form international durchaus nicht üblich ist. Ob die Differenzierung in verschiedene Fachrichtungen und eine allgemeine Sonderpädagogik jedoch typisch für Deutschland ist, wie es das Buch suggeriert, kann mit Blick etwa auf die von der Defektologie beeinflussten Entwicklungen in Osteuropa bis in die 1990er Jahre hinterfragt werden. Aber dies nur am Rande.

Der Schwerpunkt auf einer Analyse der Kontinuität zwischen NS-Sonderpädagogik und der gegenwärtigen Ausrichtung des Faches ist durchaus neu und endet mit dem Fazit, dass „die NS-Zeit als Dreh- und Angelpunkt in der Entwicklung der Sonderpädagogik“ gelten könne, insofern in dieser zentrale Forderungen des Hilfsschullehrerverbandes aus dem 19. Jahrhundert in die Praxis umgesetzt, Begriffe wie „behindert“ und „Sonderpädagogik“ im Diskurs als zentral gesetzt wurden und die Ausgestaltung sonderpädagogischer Fachrichtungen zementiert wurde (150f.). Ob diesem Befund zugestimmt werden kann, kann jedoch angesichts des methodischen Vorgehens der Autorin bezweifelt werden. Dazu später mehr.

Der grundsätzliche Aufbau des Buches ist plausibel und orientiert sich im Wesentlichen an einer chronologischen Darstellung. In der Einleitung und im zweiten Kapitel werden wesentliche Merkmale der Sonderpädagogik in Deutschland herausgearbeitet. Dabei ist anzumerken, dass eigentlich nur die Geschichte der bundesdeutschen Sonderpädagogik im Mittelpunkt steht, denn die Autorin vermeidet es im gesamten Buch, vergleichende Perspektiven, etwa auf die Entwicklung der Rehabilitationspädagogik in der DDR, einzunehmen. Das dritte Kapitel widmet sich insbesondere der Frage der Diagnostik und Klassifikation von Kindern in verschiedenen Zeitabschnitten. Dabei unterscheidet Hänsel vier Perioden: die Entstehung der Sonderpädagogik als eigenständige Disziplin vom späten 19. Jahrhundert bis in die 1920er Jahre und die anschließende Einbindung in die rassenhygienische Praxis des Nationalsozialismus, gefolgt von der Etablierung der Sonderpädagogik in der Nachkriegszeit bis in die 1990er Jahre und dem seitdem zu beobachtenden Wandel der Sonderpädagogik hin zu einer dem inklusiven Gedanken verpflichteten Pädagogik. In den Kapiteln 4, 5 und 6 werden die als zentral erachteten Entwicklungen in der Zeit des Nationalsozialismus, die bis heute das fachliche Leitbild der Disziplin prägen sollen, relativ ausführlich behandelt. Hier knüpft die Autorin auch an die in verschiedenen anderen Forschungen, insbesondere aus dem Bereich der Disability History, geübte Kritik an der pädagogischen Diagnostik an und bringt diese mit der Verfestigung des gegliederten Sonderschulsystems in Verbindung. Kapitel 7 greift die bereits angesprochene Metaebene einer sonderpädagogischen Geschichtsschreibung auf und setzt sich kritisch damit auseinander, dass diese zur Stabilisierung eines eigenen, eher positiv wahrgenommenen Blicks auf die Disziplin unter anderem die Kontinuitäten zum Nationalsozialismus weitgehend ausblendet.

Das Grundanliegen des Buches ist durchaus nachvollziehbar und wichtig. Insofern mit der Ausdifferenzierung sonderpädagogischer Expertise ein sich verstetigendes System geschaffen wurde, das massiven Einfluss auch auf die aktuelle Bildungspolitik und die Biografien von Menschen hat, ist ein kritischer Blick auf das Selbstverständnis dieser Disziplin in ihren verschiedenen Verzweigungen notwendig. Warum die hier versammelte Kritik meines Erachtens aber nicht ausreichend tief greift, hat mehrere methodische Gründe. Zu Recht weist die Autorin darauf hin, dass eine Bildungsgeschichte der Sonderpädagogik, die aus der Sonderpädagogik heraus geschrieben wird, kritisch betrachtet werden müsse. Denn die Forschenden könnten einem Bias unterliegen. Auch die Frage, ob es für eine bildungsgeschichtliche Rekonstruktion ausreicht, wenn historisch interessierte Sonderpädagog:innen eine Disziplingeschichte schreiben, ohne die Standards der Geschichtswissenschaft gründlich zu nutzen, ist berechtigt.

Tatsächlich tut Dagmar Hänsel aber nichts anderes. Ihre Quellen sind spannend, entstammen aber selbst vor allem dem sonderpädagogischen Diskurs. Es wird kaum Bezug genommen auf geschichtswissenschaftliche Arbeiten der letzten Jahre, die Behinderung und die Konstruktion von Behinderung in einen größeren gesellschaftlichen Kontext stellen.[2] Ebenso wenig finden sich im Literaturverzeichnis Arbeiten zu den gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen des Nationalsozialismus und der frühen Nachkriegszeit. Die von der Autorin beklagte Selbstreferenzialität führt sie also selbst durch, indem sie ausgewählte Quellen des sonderpädagogischen Diskurses referiert, ohne diese in einen größeren historischen Kontext einzubetten. Ein gewisser Quellenpositivismus durchzieht somit die gesamte Arbeit. Auch der sprachliche Duktus des Textes ist von unzulässigen Verallgemeinerungen und persönlichen Meinungsäußerungen geprägt. So wird durchgängig von „der Sonderpädagogik“ gesprochen, als sei diese Disziplin ein monolithischer Block, der mit einer Stimme spricht und von einer Mehrheitsposition abweichende Perspektiven aktiv unterdrückt. Dies ist nicht der Fall, wenn man sich die sonderpädagogische Fachliteratur der letzten Jahrzehnte ansieht. In den einleitenden, eher normativen Teilen, in denen die Autorin das sonderpädagogische System der Bundesrepublik kritisch einordnet, finden sich zudem nur wenige Literaturhinweise. Viele Aussagen müssen einfach ´geglaubt´ werden. Auf einer sehr persönlichen und meinungsbezogenen Ebene argumentiert die Autorin, wenn auf Seite 20 auf ein Habilitationsverfahren verwiesen wird, das angeblich deswegen (fast) gescheitert sei, weil die betreffende Person die Rolle der Sonderpädagogik im Nationalsozialismus anders als ´üblich´ dargestellt habe. Hier nennt die Autorin namentlich den Verfasser des negativen Gutachtens und den Namen des Habilitanden, ohne jedoch auf die inhaltliche Qualität oder den Inhalt der Arbeit einzugehen und damit zu verdeutlichen, warum diese letztlich doch angenommene Habilitationsarbeit kontrovers diskutiert wurde.

Im Gesamt also löst das Buch nicht das ein, was es zu Beginn verspricht: einen bildungsgeschichtlichen Metadiskurs, der die Historiografie der Sonderpädagogik auf eine neue Ebene hebt. Gleichwohl kann die Arbeit als Anstoß für eine vertiefte Historiografie der deutschen Sonderpädagogik im NS betrachtet werden.

[1] Beispielsweise Pfahl, L. (2011). Techniken der Behinderung: Der deutsche Lernbehinderungsdiskurs, die Sonderschule und ihre Auswirkungen auf Bildungsbiografien. Bielefeld: Transcript.
[2] Stoll, J. (2017). Behinderte Anerkennung? Interessenorganisationen von Menschen mit Behinderungen in Westdeutschland seit 1945. Frankfurt/M.: Campus.
Sebastian Barsch (Köln)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sebastian Barsch: Rezension von: Hänsel, Dagmar: Historiographie der Sonderpädagogik, Kontinuitäten im Wandel von der Hilfsschul- und Heilpädagogik zur inklusiven Pädagogik. Mit Online-Materialien. Weinheim: Beltz Juventa 2024. In: EWR 23 (2024), Nr. 4 (Veröffentlicht am 12.11.2024), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978377997758.html