EWR 15 (2016), Nr. 4 (Juli/August)

Rolf Werning / Meltem Avci-Werning
Herausforderung Inklusion in Schule und Unterricht
Grundlagen, Erfahrungen, Handlungsperspektiven
Seelze: Klett Kallmeyer 2015
(190 S.; ISBN 978-3-7800-4820-2; 24,95 EUR)
Herausforderung Inklusion in Schule und Unterricht Der Praxisband „Herausforderung Inklusion in Schule und Unterricht“ von Werning und Avci-Werning thematisiert Grundlagen, Erfahrungen und Handlungsperspektiven schulischer Inklusion. Das Buch richtet sich an Lehrkräfte, Schulleitungen und andere im schulischen Feld pädagogisch Professionelle. Die Autor/innen erheben den Anspruch „aktuelle wie historische, nationale wie internationale Entwicklungen, vorliegende Forschungsergebnisse und konkrete Praxiskonzepte [zu] beschreiben“ (11) sowie Widersprüche und Perspektiven aufzuzeigen (11). Selbstreflexive Anschlussmöglichkeiten der unterschiedlichen empirischen, theoretischen und konzeptionellen Überlegungen bieten Werning und Avci-Werning über die jedem Kapitelende angefügte „Einladung zum Mitdenken“. Dort werden offene Anschlussfragen gestellt, die den Bezug der vorangegangenen Überlegungen auf die eigene (schul-) pädagogische Praxis anregen.

Im ersten Kapitel zeigen die Autor/innen die unterschiedlichen Facetten des Inklusionsbegriffs auf. Dazu führen sie neben theoretischen Positionen auch die rechtliche Verankerung von Inklusion durch die UNESCO und die Bundesrepublik Deutschland auf. Nach Ansicht der Autor/innen bewege sich die aktuelle Auseinandersetzung mit schulischer Inklusion immer stärker dahin, grundlegende Fragen des Umgangs mit Verschiedenheit zu behandeln (17). Insofern werde der bislang sehr eng auf die Platzierung bestimmter Schüler/innen bezogene schulpädagogische Inklusionsdiskurs durch ein umfassenderes Verständnis erweitert.

Kapitel zwei widmet sich dem Begriff Heterogenität. Die Autor/innen verstehen Heterogenität dabei als „schulstrukturelle Herausforderung“ (21), die sich aus der pädagogischen Antinomie von Gleichheit und Verschiedenheit (22f) ergibt. Aus einer recht breiten Rezeption empirischer Studien zu den Auswirkungen des unterschiedlichen Umgangs mit Heterogenität auf die Lern- und Leistungsentwicklung, die nachschulische sowie soziale und emotionale Entwicklung, folgern die Autor/innen, dass es „keine nachhaltigen und überzeugenden empirischen Argumente gegen Inklusion“ (30) gäbe. Zugleich führe erhöhte Heterogenität im Unterricht aber nicht von selbst zu einer Verbesserung der Lernbedingungen.

Eine konzeptionelle Konkretisierung des Umgangs mit Heterogenität findet dann in Kapitel drei nicht wie zumeist anhand der Differenzdimension Behinderung, sondern in Bezugnahme auf interkulturelle Arbeit statt.

Im Hinblick auf die inklusive Schulentwicklung werden in Kapitel vier zunächst die Qualitätssicherung durch (Bildungs-)Standards, deren Output-Orientierung und die grundsätzliche Schwierigkeit der Bestimmung von Qualität kritisch betrachtet. Demgegenüber werden auf empirischen Studien basierte Kennzeichen guter inklusiver Schulen aufgeführt. Schulentwicklung müsse dabei immer an konkreten Problemstellungen und deren Verbesserung ansetzen, um gelingen zu können (62). Für die praktische Umsetzung werden zwei bestehende Instrumente der inklusiven Schulentwicklung vorgestellt: zum einen der „Index für Inklusion“ (64), zum anderen ein Bewertungsraster schulischer Integrationsprozesse (67).

Kapitel fünf beleuchtet die Entwicklung von Unterricht unter dem Anspruch von Inklusion. Dies geschieht zunächst einleitend über allgemeine empirische Befunde und Konzepte guten Unterrichts. Als spezifische Anforderung inklusiven Unterrichts zeigen die Autor/innen insbesondere den Umgang mit Leistungsunterschieden auf (84f) und benennen als unterrichtliche Spannungsfelder die Balance zwischen Individualisierung vs. Gemeinsamkeit sowie zwischen Offenheit vs. Strukturierung. Ein exemplarisches Unterrichtskonzept zu Lernlandschaften in der Sekundarstufe I gibt Anregungen zur Umsetzung im eigenen Unterricht. Die Autor/innen führen darüber hinaus in „kooperatives Lernen als didaktisches Konzept für den inklusiven Unterricht“ (95ff) ein.

Werning und Avci-Werning beleuchten in Kapitel sechs die Kooperation pädagogisch Professioneller innerhalb und außerhalb des Unterrichts. Sie nennen empirische Erkenntnisse bspw. der Auswirkungen von Kooperation auf die Verbesserung der Unterrichtsqualität (106) und zeigen unterschiedliche Kooperationsformen und Faktoren auf, die zum Aufbau kooperativer Beziehungen führen (112). Betont wird die Notwendigkeit der schulstrukturellen Verankerung unterschiedlicher Kooperationsformen. In Bezug auf außerunterrichtliche Kooperation stellen sie das Konzept der kooperativen Lernbegleitung der Laborschule Bielefeld und die kollegiale Fallarbeit in Teams vor.

Ebenso wie die Zusammenarbeit der Professionellen als Kernelement von Inklusion wird die Notwendigkeit zur Einbindung von Eltern bzw. Personensorgeberechtigten in Kapitel sieben herausgestellt. Schwierig sei diese Einbeziehung insbesondere, so Werning und Avci-Werning, aufgrund der schulischen Selektionsfunktion, der damit einhergehenden Notwendigkeit zur Bewertung und der so vorhandenen strukturellen Hierarchie zwischen Eltern und Lehrpersonen (136). Sie zeigen mögliche Formen der Eltern-Schule-Beziehung sowie Perspektiven für die Zusammenarbeit auf und stellen verschiedene Praxiskonzepte dar.

Was Beratung und Unterstützung von Professionellen in Schulen bedeutet und was ein je schulspezifisch installiertes Beratungskonzept beinhalten sollte, beleuchtet Kapitel acht des Buchs. Davon unterschieden wird die professionelle Beratungsarbeit, u.a. durch externe Einrichtungen. Die Autor/innen stellen drei konkrete Beispiele der Beratungsarbeit (Struktur-Lege-Technik, Gespräche am runden Tisch und videobasierte Unterrichtsbeobachtung) einführend vor.

Das Buch endet mit einem kurzen Fazit der Autor/innen (173-176). Hierin resümieren sie: „Inklusion bedeutet die Minimierung von Separation, von Ausgrenzung und von Diskriminierung. Dieses Ziel kann immer nur annäherungsweise erreicht werden. Aber es können konkrete Schulentwicklungsprojekte (...) eingeleitet werden, die das Ziel verfolgen (...) Das bedeutet auch: Um mit der Umsetzung von Inklusion zu beginnen, muss man nicht warten, bis optimale Rahmenbedingungen vorliegen“ (174). Das vorliegende Buch stellt in diesem Sinne, trotz der Anerkennung struktureller Paradoxien und Unklarheiten, einen Praxisleitfaden für die Umsetzung von Inklusion bereit.

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die Autor/innen sich einerseits als Befürwortende inklusiver Bildung positionieren, andererseits zugleich ihr Bestreben benennen, aus kritischer Distanz auf Schwierigkeiten und Widersprüchlichkeiten hinzuweisen (11). Neben dem Aufzeigen von Spannungsfeldern versuchen sie diesem Anspruch dadurch gerecht zu werden, dass sie Schlussfolgerungen für die Entwicklung schulischer Inklusion auf der Basis bestehender Studien formulieren. Dies ist in Anbetracht der noch unbefriedigenden Forschungslage kein leichtes Unterfangen und kann nur annäherungsweise gelingen.

Insbesondere an den Überlegungen zu inklusiver Schulentwicklung und inklusiver Unterrichtsentwicklung wird dabei deutlich, dass es keine eindeutigen Unterschiede zwischen guten Schulen und guten inklusiven Schulen sowie gutem Unterricht und gutem inklusiven Unterricht gibt. Dies gilt gerade dann, wenn ein weites Inklusionsverständnis zugrunde gelegt wird, das nicht nur die Positionierung von Schüler/innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf ins Zentrum rückt, sondern gleichzeitig auch den differenzlinienübergreifenden Umgang mit Verschiedenheit reflektiert. Was das Spezifische an Inklusion in Schule und Unterricht ist und ob es eine solche Spezifik überhaupt gibt, bleibt deshalb weitestgehend unklar. Dies ist allerdings eine grundsätzliche Unschärfe des gegenwärtigen schulischen Inklusionsdiskurses, für welche auch die Autor/innen trotz differenzierter Überlegungen in dem vorliegenden Werk keine eindeutige Unterscheidung entwickeln. In jedem Fall ist es begrüßenswert, dass der vorliegende Praxisband zur schulischen Inklusion auch auf bestehende Erkenntnisse der Schulforschung Bezug nimmt.
Thorsten Merl (Köln)
Zur Zitierweise der Rezension:
Thorsten Merl: Rezension von: Werning, Rolf / Avci-Werning, Meltem: Herausforderung Inklusion in Schule und Unterricht, Grundlagen, Erfahrungen, Handlungsperspektiven. Seelze: Klett Kallmeyer 2015. In: EWR 15 (2016), Nr. 4 (Veröffentlicht am 02.08.2016), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978378004820.html