EWR 6 (2007), Nr. 4 (Juli/August 2007)

Arnd-Michael Nohl
Konzepte interkultureller Pädagogik
Eine systematische EinfĂĽhrung
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2006
(252 S.; ISBN 978-3-7815-1495-1; 19,00 EUR)
Konzepte interkultureller Pädagogik Als Folge der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einsetzenden Arbeitsmigration blickt die ‚Interkulturelle Pädagogik’ auf eine mehr als zwanzigjährige Tradition zurück und ist inzwischen als erziehungswissenschaftliche Fachrichtung etabliert. Aus der Konfrontation pädagogischer Institutionen mit Bevölkerungsgruppen, die sich in Bezug auf staatsrechtlichen Status sowie sprachliche und religiöse Merkmale unterscheiden, entstand ein erheblicher Handlungsdruck, der sich in unterschiedlichen Konzeptionen des pädagogischen Umgangs mit Migranten kristallisiert. Erziehungswissenschaftliche Forschung untersucht in diesem Kontext, wie unterschiedliche pädagogische Akteure ihre Handlungsfelder beschreiben und mit welchen Lösungsstrategien und pädagogischen Programmen sie die differenzierten Herausforderungen in der Praxis zu bewältigen versuchen.

Vor diesem Hintergrund legt Arnd-Michael Nohl mit seiner Monographie eine systematische Einführung in die Konzepte ‚Interkultureller Pädagogik’ vor, die sich einerseits in eine Kette von bereits vorhandenen erziehungswissenschaftlichen Einführungen in das Feld einreiht und andererseits den Anspruch erhebt, die Defizite der beschriebenen Konzepte aufzugreifen, um sie in einem neuen Konzept einer „Pädagogik kollektiver Zugehörigkeiten“ (10) für den pädagogischen Umgang mit Minderheiten fruchtbar zu machen.

Die insgesamt 252 Seiten sind in sechs thematische Kapitel gegliedert, von denen das erste in das Themenfeld einleitet. Auf die Einleitung folgen drei Kapitel, die drei verschiedene Konzepte ‚Interkultureller Pädagogik’ analysieren: die „Ausländerpädagogik“, die „klassische interkulturelle Pädagogik“ und die „Antidiskriminierungspädagogik“. Für alle drei Programme arbeitet er in kritischer Auseinandersetzung zentrale Elemente der erziehungswissenschaftlichen Beschreibung des ‚Problems’ sowie des pädagogischen Umgangs mit diesem heraus. Der Blick beschränkt sich hierbei nicht nur auf die Strategien der PädagogInnen und pädagogischen Institutionen, sondern berücksichtigt historische Entwicklungen ebenso wie den Konzepten zu Grunde liegende Gesellschaftsmodelle. Das fünfte Kapitel beschäftigt sich mit „Weiterführungen der interkulturellen Pädagogik“. Im letzten Kapitel entwirft Nohl als Erweiterung der klassischen Konzepte eine „Pädagogik kollektiver Zugehörigkeit“.

„Ausländerpädagogik“ versteht er demnach als eine „erste Reaktion auf die Einwanderung von Arbeitsmigrant(inn)en und ihren Familien“ (42), deren Gegenstand in der Erziehungswissenschaft erst retrospektiv konstruiert wurde. Daran anschließend geht der Ansatz der „Ausländerpädagogik“ von einer sprachlich und kulturell „defizitären Primärsozialisation in der Familie“ (21) aus und lässt sich daher durch kompensatorische Förderungsmaßnahmen in der pädagogischen Praxis kennzeichnen. Geprägt wird der pädagogische Umgang mit dem Thema „Migration“ von einem Gesellschaftsmodell, „in dem soziale Stabilität durch homogene Werte und Normen garantiert werden sollen“ (30). In diesem Zusammenhang geht Nohl auf Studien und theoretische Erklärungsmodelle zur ‚Akkulturation’, ‚Integration’ und der ‚Kulturkonflikttheorie’ ein. Zum Abschluss des zweiten Kapitels betont Nohl die Tatsache, dass ausländerpädagogische Programmatiken auch gegenwärtig noch Teil der pädagogischen Praxis sind, wenn auch ergänzt durch neuere Konzepte.

Eines dieser neueren Konzepte ist die „Klassische interkulturelle Pädagogik“. Sie hebt entgegen der Defizitorientierung der „Ausländerpädagogik“ die Differenz zwischen den Kulturen hervor. In Folge der Einwanderung entstand – aus dieser Perspektive beobachtet – eine multikulturelle bzw. multiethnische Gesellschaft (46). Die Betonung der kulturellen Pluralität und der Gerechtigkeitsorientierung mündete in einer pädagogischen Programmatik, die auf die Befähigung zum Umgang aller Gesellschaftsmitglieder mit kultureller Differenz zielte. Die zentrale Absicht bestand darin, die Begegnung zwischen den Kulturen zu fördern und damit zu einem „wechselseitigen Verständnis und dem (quasi automatischen) Abbau von Vorurteilen“ (54) beizutragen. Nohl stellt im dritten Teil des dritten Kapitels „Protagonisten des Modells einer ‚multikulturellen Gesellschaft’“ (68ff.) dar und konstatiert zum Ende hin, dass der Begriff ‚multikulturell’ gegen den Begriff ‚multiethnisch’ ausgetauscht werden müsse. Das Motiv für diese Differenzierung wird später im Text deutlich, wenn der Autor sich seinem eigenen Konzept der „Pädagogik kollektiver Zugehörigkeiten“ widmet.

In Kapitel 4 wendet sich Nohl einem weiteren Konzept ‚Interkultureller Pädagogik’ zu, dass er als „Antidiskriminierungspädagogik“ beschreibt. Unter diesem Konzept versteht er Ansätze, die „die Annahme, es gäbe kulturelle Zugehörigkeiten und diese hätten eine hohe Bedeutung für Erziehung und Bildung“ in Frage stellen (87). Das hinter dieser Forschungsrichtung stehende Gesellschaftsmodell ist geprägt von systemtheoretischen Erkenntnissen. Solche Zugänge heben die Konstruktion von Kultur und Ethnizität hervor und konzentrieren sich im Besonderen auf die Beobachtung von Bildungsorganisationen (speziell der Schule) und ihrer Rolle bei der Verteilung des öffentlichen Gutes ‚Bildung’. Hierzu gesammelte Forschungsergebnisse zeigen, dass Bildungsorganisationen in diesem Prozess Unterscheidungen entlang kultureller und ethnischer Zugehörigkeiten treffen, ihre Handlungsrationalität im Nachhinein dadurch legitimieren und damit Migrantenkinder systematisch diskriminieren (94ff.). Nohl würdigt zum Ende dieses Kapitels die Erkenntnisse des konstruktivistisch-systemtheoretischen Ansatzes als bereichernd für die ‚Interkulturelle Pädagogik’, kritisiert aber gleichzeitig die „Einseitigkeit der Beschäftigung mit Organisationen und öffentlichen Diskursen“ (123) und fordert eine Ausweitung der Perspektive. Ihm fehlt die Auseinandersetzung mit der Ebene der Individualität und der Alltagswelt. Da Nohl sich hier auf sehr unterschiedlichen Ebenen bewegt, ist es nicht immer leicht, die Trennschärfe der Betrachtung zu gewähren. Dieser Eindruck kann auch deshalb entstehen, weil unter der Überschrift „Antidiskriminierungspädagogik“ die Forschungsergebnisse zur „institutionellen Diskriminierung“ vorgestellt werden. Dabei handelt es sich aber um einen u.a. organisationstheoretischen, nicht aber pädagogischen Zugang, auch wenn dieser eine zentrale pädagogische Institution fokussiert.

Im knappen folgenden Kapitel 5 geht der Autor auf „Weiterführungen der interkulturellen Pädagogik“ (127) ein. Diese betrachtet er als Ergebnisse der kritischen Auseinandersetzung mit der „klassischen interkulturellen Pädagogik“ und der „Antidiskriminierungspädagogik“. Zu den drei vorgestellten Ansätzen zählen die „reflexive interkulturelle Pädagogik“ (127f.), die „Migrationspädagogik“ (129ff.) und die „Diversity-Pädagogik“ (132ff.).

Das letzte Kapitel des Buches greift die von Nohl als Schwachstellen identifizierten Elemente der vorherigen Konzepte auf und sieht ein Remmedium in einer „Pädagogik kultureller Zugehörigkeiten“. Wesentlich getragen wird dieser Ansatz von vier Säulen: „Kultur/Milieu“, „Interkulturelle Sozialisation, Lernen und Bildung“, „Organisation“ und „Diskriminierung, Macht und Partizipation“.

Nohl plädiert im Kontext der ersten Säule dafür, den Begriff ‚Kultur’ über das ethnische Verständnis hinaus auszuweiten. Er spricht in diesem Zusammenhang von „kulturellen Repräsentationen“ und der „Mehrdimensionalität von Milieus“ (138ff.). Bei der Erarbeitung der zweiten Säule greift er auf klassische pädagogische Grundprozesse zurück und setzt die vorangegangene Begriffsbestimmung in den Kontext dieser pädagogischen Prozesse (169ff.). Charakteristisch für die dritte Säule seines Konzeptes ist die Auseinandersetzung mit Milieus und pädagogischen Prozessen des Lernens, der Sozialisation und Bildung in Organisationen. Er greift hierbei seine eigene Kritik am konstruktivistischen Ansatz wieder auf und bezieht „Milieus und Organisationen systematisch auf einander“ (186). Dies tut er vor allem, um diskriminierende Prozesse innerhalb gesellschaftlicher Organisationen evident zu machen. Daher widmet er sich in seiner vierten Säule der „Diskriminierung, Macht und Partizipation“ (202). Nohl macht zunächst unterschiedliche Perspektiven der Diskriminierung aus und verdeutlicht anschließend das Ineinandergreifen von Motivationen der Diskriminierung und deren Handlungausführung. Um die von ihm ausgemachten Schwachstellen der organisationstheoretischen Annäherungen zu ergänzen, möchte er die „Bandbreite diskriminierenden Handelns erfassen“ (203). Dazu analysiert er verschiedene Machtmechanisen und ihre Einbettung in Organisationen. Partizipation versteht er schließlich als Inklusion von diskriminierten Milieuangehörigen in gesellschaftliche Teilsysteme (224ff.). Abschließend geht Nohl noch auf die Verknüpfung seines Konzepts einer „Pädagogik kollektiver Zugehörigkeit“ mit der pädagogischen Professionalität ein. Im Grunde besteht für ihn die Aufgabe eines Pädagogen bzw. einer Pädagogin darin, die Mechanismen der vier Säulen zu überblicken und diese in ihrer pädagogischen Arbeit zu reflektieren.

Mit seinem Konzept der Pädagogik kollektiver Zugehörigkeit“ bereichert Nohl die Diskussion um die ‚Interkultureller Pädagogik’ um eine neue Perspektive und liefert eine hilfreiche Synthese durch eine komplexe Verknüpfung verschiedener theoretischer Strömungen.

Für die Studienanfänger ist der Text trotz der guten Verständlichkeit und argumentativen Eingängigkeit der ersten fünf Kapitel insgesamt nur bedingt geeignet; denn vor allem das letzte thematische Kapitel setzt einige theoretische Vorkenntnisse voraus und stellt eine analytische Herausforderung an die Leser dar.

Hinweis: In unserer 1. Ausgabe (Jan.-Febr. 2007) finden Sie bereits eine Rezension des angegebenen Titels: Nohl, Konzepte interkultureller Pädagogik.

http://www.klinkhardt.de/ewr/978378151495.html
Kristina Mattern (Frankfurt am Main)
Zur Zitierweise der Rezension:
Kristina Mattern: Rezension von: Nohl, Arnd-Michael: Konzepte interkultureller Pädagogik, Eine systematische EinfĂĽhrung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2006. In: EWR 6 (2007), Nr. 4 (Veröffentlicht am 26.07.2007), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978378151495-1.html