EWR 6 (2007), Nr. 1 (Januar/Februar 2007)

Arnd-Michael Nohl
Konzepte interkultureller Pädagogik
Eine systematische EinfĂĽhrung
Bad Heilbrunn: Verlag Klinkhardt 2006
(252 S.; ISBN 978-3-7815-1495-9; 19,00 EUR)
Konzepte interkultureller Pädagogik Seit Beginn des 21. Jahrhunderts führt die Globalisierung zu einer zunehmenden internationalen Verflechtung verschiedenster Bereiche. Die Intensivierung der globalen Beziehungen geschieht auf allen Ebenen (Individuum, Gesellschaft, Institution und Staat) und Bereichen (Wirtschaft, Politik, Kultur, Kommunikation). Zudem wächst in Europa, wie in anderen Regionen der Welt, das Bewusstsein für Konfliktpotentiale, aber auch die Chance eines von kultureller Diversifikation gekennzeichneten beruflichen wie privaten Umfeldes. Die ethnische und kulturell-religiöse Heterogenität unserer Gesellschaften und damit auch die Kontakte zwischen Menschen unterschiedlicher Werthaltungen werden durch die mit der Globalisierung ausgelöste Pluralisierung unweigerlich zunehmen. Es ist bestimmend für unsere Zukunft, ob diese Situation als Gelegenheit für die Menschheit und Menschlichkeit begriffen wird.

Arnd-Michael Nohl liefert zu diesem Thema in seinem neuen Buch Konzepte interkultureller Pädagogik. Eine systematische Einführung interessante Betrachtungen. Er führt nicht nur in verschiedene Konzepte interkultureller Pädagogik ein, sondern diskutiert auch anhand praktischer wie empirischer Beispiele Gemeinsamkeiten und Unterschiede dieser Konzepte. Hierbei zeigt er die ihnen zugrunde liegenden Gesellschaftsmodelle auf.

Die Anekdote, in der ein Student auf die Frage, was er unter Interkultureller Pädagogik verstehe, antwortet: „Da geht es darum, wie man die Ausländer an die Deutschen anpassen kann“, führt den Leser in das Buch und später in die erste Grundaussage des Autors ein, dass die Annahme, „…es gäbe ein bestimmtes Konzept interkultureller Pädagogik…“ fragwürdig sei (7). Den professionellen Pädagogen rät er, „die Handlungsprobleme ihrer Berufpraxis nicht nur durch die Linse eines theoretischen Konzeptes zu betrachten, sondern unterschiedliche Konzepte mit ihren jeweiligen Blickwinkeln auf die Handlungsprobleme anzuwenden“ (S. 8). Der Autor greift chronologisch im zweiten Kapitel das erste Konzept interkultureller Pädagogik auf:

„Ausländerpädagogik“

Als die Gastarbeiter durch den Anwerbestopp 1973 über ihren zukünftigen Aufenthalt und den ihrer Familien verunsichert wurden, holten sie ihre Kinder nach. In der Folgezeit begann die pädagogische Beschäftigung mit Migration. Dabei war die Aufmerksamkeit auf die Migranten und ihre Kindern, die von den Einheimischen als fremdartig beäugt wurden, gerichtet. So wurden ihnen, vornehmlich ihren Kindern, Defizite hinsichtlich ihrer Sprachkenntnisse, ihres Sprachgebrauchs wie ihrer Sozialisation unterstellt. Dies war zugleich die Geburtsstunde der Ausländerpädagogik, die eben diese Defizite kompensieren sollte. Mit einem monokulturellen Gesellschaftsmodell ausgestattet, wollten die Ausländerpolitiker die soziale Stabilität durch die Assimilation der Migranten garantiert wissen (19-25).

Doch diese Defizithypothese ließ sich weder gesellschaftlich noch wissenschaftlich aufrechterhalten und die Ausländerpädagogik geriet bereits Anfang der 1980er Jahre ins Kreuzfeuer der Kritik. Auch Erziehungswissenschaftler, die zuvor an ihrer Entwicklung beteiligt waren, distanzierten sich sukzessiv von diesem Konzept (40-41).

In Kapitel drei beschreibt Nohl sodann das klassische Konzept interkultureller Pädagogik, das aus der Kritik an der Ausländerpädagogik hervorgegangen ist:

„Klassische interkulturelle Pädagogik“

Nunmehr war die Kultur der eingewanderten Menschen nicht mehr defizitär anzusehen, sondern als gleichwertig, was das wechselseitige Verständnis unter Menschen mannigfaltiger Kulturen zum Ziel hatte. Hierbei waren neben den Einwanderern also auch die Einheimischen angesprochen. Wenngleich die Reformanstrengungen bereits Anfang der 1980er Jahre an der Ausländerpädagogik angesetzt hatten, dauerte es eine Dekade, bis 1996 die Kultusministerkonferenz durch einen Beschluss die interkulturelle Pädagogik in die Bildungspolitik etablierte (55-56). Der Autor betont in diesem Zusammenhang, dass trotz dieser Entwicklung die ausländerpädagogische Denkweise in der Pädagogik, Praxis und im öffentlichen Diskurs zur Einwanderung anhält (50).

Im nächsten Kapitel wird dem Konzept der Antidiskriminierungspädagogik nachgegangen:

„Antidiskriminierungspädagogik“

Während die Ausländerpädagogik wie auch die klassische interkulturelle Pädagogik davon ausgingen, dass Menschen eine Kultur haben, beruht dieser erziehungswissenschaftlicher Ansatz auf einer anderen (Unterscheidungs-) Kategorie. Die Antidiskriminierungspädagogik stellt nicht nur den Kulturbegriff in Frage, sondern geht sogar davon aus, „dass Menschen sich und andere mit der Kategorie „Kultur“ oder „Schicht“ beschreiben, dass sie nicht einer Kultur zugehörig sind, sondern sich und anderen diese Zugehörigkeit zuschreiben“ (88). So bestreitet diese Theorie gerade die Annahme, dass es kulturelle Zugehörigkeiten gäbe und sie eine hohe Bedeutung für Erziehung und Bildung hätten. Das auf einer konstruktivistischen und systemtheoretischen Perspektive gründende Konzept entlarvt Kultur und Ethnie als bloße Konstruktionen. Demzufolge wirft die Antidiskriminierungspädagogik den Bildungsorganisationen vor, statt ihre organisationsinternen Probleme (wie Klassenzuweisung, Schülerüber- oder unterzahl etc.) zu lösen, vor allem die Kulturalisierung und Ethnisierung zu fördern. Dies habe oftmals institutionelle Diskriminierung zur Folge. So lasse sich erklären, warum Migrantenkindern der Zugang zu einer besseren Schule verweigert werde. Institutionelle Diskriminierungen durch die zivilgesellschaftliche Beobachtung pädagogischer Organisationen zu unterbinden, nimmt sich diese pädagogische Ausrichtung zur Aufgabe (92-125).

In Kapitel fünf stellt der Autor noch drei Weiterführungen der interkulturellen Pädagogik kurz heraus: die reflexive interkulturelle Pädagogik, Migrationspädagogik und die Diversity-Pädagogik (127-136). Schließlich zeichnet er im letzten Kapitel sein eigenes Konzept auf:

„Pädagogik kollektiver Zugehörigkeiten“

Der Autor greift unter Vermeidung der problematischen Aspekte der zuvor diskutierten Konzepte interkultureller Pädagogik einige wichtige Elemente auf und führt mit evidenten Beispielen dem Leser seinen gut durchdachte Entwurf zu interkultureller Pädagogik vor Augen.

Im Zentrum seines Konzeptes stehen kollektive Zugehörigkeiten. Unter ihnen seien nicht nur „ethnisch konnotierte Kulturen“, sondern auch „weitere – generationelle, geschlechtsspezifische, regionale und andere kollektive Einbindungen – und zwar im Plural“ zu verstehen, die aus mehreren Perspektiven betrachtet werden (137). Die Forderung, neben der ethnischen Unterscheidungslinie auch andere Dimensionen kollektiver Zugehörigkeiten zu berücksichtigen, ist ein erforderliches Korrektiv wie Regulativ für die derzeitige Diskussion um das „Eigene und Fremde“. So bezeichnet der Autor Kultur als „Milieu“ und definiert sie als „das praktische Leben innerhalb kollektiver Zugehörigkeiten“ (140). Sein Milieubegriff verbindet er auch mit Bourdieus Begriff des Habitus und unterstreicht dabei, dass „Milieus nicht mit Randgruppen in eins zu setzen sind“ (141). Sonach sind Milieus in sich „mehrdimensional angelegt, d.h. sie weisen Erfahrungsdimensionen auf, die spezifisch für Geschlecht, Generation, Migration und andere Zusammenhänge sind“ (141-142). Seine empirischen Beispiele für adoleszenz-, bildungs- und migrationsspezifische Erfahrungsdimensionen eines Milieus erleichtern zusätzlich das Verständnis für sein Milieukonzept (151-158). Die Folge der Vielfalt solcher mehrdimensionalen Milieus in der Gesellschaft sei, dass sich interkulturelle Sozialisations-, Lern- und Bildungsprozesse – diesseits und jenseits pädagogischen Handelns sowie pädagogischer Organisationen – entfalten. Die besondere Herausforderung pädagogischer Organisationen sei bei dieser Gelegenheit, „auf die Milieus ihrer Adressat(inn)en Bezug zu nehmen, weil gerade hier Diskriminierung, Macht und Partizipation virulent werden“ (201), und kollektive Zugehörigkeiten als Potential für Sozialisations-, Lern- und Bildungsprozesse anzuerkennen.

Das Buch erfüllt den Anspruch einer systematischen Einführung in die Konzepte interkultureller Pädagogik zur Gänze, ist aber ebenso eine gute Grundlage für eine ersehnte inhaltliche Erweiterung dieser erziehungswissenschaftlichen Teildisziplin.
Halit Ă–ztĂĽrk (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Halit Ă–ztĂĽrk: Rezension von: Nohl, Arnd-Michael: Konzepte interkultureller Pädagogik, Eine systematische EinfĂĽhrung. Bad Heilbrunn: Verlag Klinkhardt 2006. In: EWR 6 (2007), Nr. 1 (Veröffentlicht am 30.01.2007), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978378151495.html