Die Konzeption Forschenden Lernens als hochschuldidaktisches Prinzip ist nicht neu. Sie geht zurück auf die kritische Auseinandersetzung der Bundesassistentenkonferenz (BAK) mit der Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre geführten Hochschulreformdebatte um die Entwicklung projektorientierter Studiengänge im Kontext zukünftiger integrierter Gesamthochschulen. Die in dieser Diskussion in Frage gestellte herkömmliche Organisation der Wissenschaften an Hochschulen und die sie flankierende Bildungspolitik waren Ausgangspunkte für die Forderung nach einem Wissenschaftsverständnis, das Erkenntnis, Wissen und Handeln im Wissenschaftsprozess im Zusammenhang reflektiert, in der Wissenschaft sich nicht nur durch den statischen Besitz von Kenntnissen und Techniken, sondern durch einen sich dynamisierenden Prozess zwischen Forschung und Reflexion auszeichnet. Gleichzeitig sollte mit dieser Einbettung von Wissenserwerbsprozessen in Forschungskontexte eine Dynamisierung studentischer Selbstorganisationsprozesse durch schrittweise Etablierung projektorientierter und experimentieroffener Phasen verbunden sein.
Ohne aus dem sogenannten Bologna-Prozess hervorgegangen zu sein, der sich in erster Linie auf Strukturreformen beschränkte, gewinnt das hochschuldidaktische Konzept „Forschendes Lernen“ in der Hochschulentwicklung und dort insbesondere im Reformprozess der Lehrerinnen- und Lehrerbildung und den binnenstrukturellen Entwicklungsprozessen in den Hochschulen seit Ende der 1990er- Jahre zunehmend an Bedeutung. Zunächst spannten sich Diskussionen darüber auf, ob „Forschendes Lernen“ als zentrales Ausbildungsparadigma figuriert und implementiert werden könne. Dabei ging es vor allem um das Herstellen eines Brückenschlags zwischen Wissenschaftssystem und schulpraktischem Handlungssystem in Form von z.B. neu zu entwickelnden berufspraktischen Phasen bzw. der Integration neu zu entwickelnder Praxisphasen als Kern einer Masterphase in der Lehrerbildung. Aus der Bologna-Diskussion heraus wurde und wird weiterhin die Frage danach gestellt, ob mit dem Konzept „Forschendes Lernen“ ein Lehr-/Lern-Format gefunden sei, das den Ansprüchen an kompetenzorientierte Learning Outcomes von Studierenden in besonderem Maße entspricht bzw. ihnen entgegenkommt.
Neben den vielfältigen Reformdiskursen, die sich gerade in den Jahren zwischen 1997 und 2003 aufspannten, sind parallel dazu an zahlreichen Hochschulstandorten (u. a. Oldenburg, Dortmund, Oldenburg, Aaachen, Kassel, Köln, Bremen und Hamburg) Modellprojekte und Forschungswerkstätten initiiert worden, in denen mit spezifischen Ansätzen „Forschenden Lernens“ experimentiert wurde, um empirische Forschung für die Lehrerinnen- und Lehrerausbildung fruchtbar zu machen. Ein besonders geglücktes, weil in seiner Form und Intention nachhaltiges Modellprojekt ist die von Angela Bolland entwickelte und hier zu besprechende Forschungswerkstatt für „Forschendes und Biografisches Lernen“.
Wer erwartet, dass es sich dabei schon und „nur“ um ein „historisches“ Dokument handelt, geht fehl. Vielmehr gibt dieser Band Einblick in die lerntheoretische Herleitung, die bildungstheoretische Verankerung und Entwicklung wie die Erprobung eines komplexen Lehr-Lern-Konstrukts innerhalb bestehender Studiengangsstrukturen. Auf der Suche nach einem möglichen Bindeglied zwischen den Wissensbereichen Wissenschaft und (Schul-)Praxis bietet die Forschungswerkstatt einen Lernort, der, hervorgebracht durch biografisch inspirierte Reflexionen, eine systemische Kopplung durch individuelle Selbstentwicklung avisiert und damit die Ausbildung eines doppelten Habitus von praktisch professionellem Können und wissenschaftlicher Reflexivität ermöglichen soll. Entsprechend dieser Aufgabe steht das Vorhaben Forschungswerkstatt unter dem „erkenntnispraktischen Fokus“ zu ermitteln, unter welchen universitären Lernbedingungen Studierende in die Lage versetzt werden, biografische Reflexivität und Kompetenz auszubilden bzw. zu erwerben.
Wie dieser Fokus argumentativ hergeleitet und entfaltet wird, ist an den thematischen Schwerpunkten der Gliederung in fünf Hauptkapitel zu erkennen: Im ersten Kapitel wird die Diskussion um die Reform der Lehrerinnen- und Lehrerbildung erörtert und u. a. im Hinblick auf die universitäre Haltung gegenüber Reformen des Lehrens und Lernens, auf das Verhältnis zwischen Berufsfeldbezug und Wissenschaftsbezug sowie auf die Bedeutungshorizonte biografischen und reflexiven Lernens hin analysiert und systematisch aufeinander bezogen. Im zweiten Kapitel wird das pädagogische Konzept „Forschendes Lernen“ als biografisches Lernen vorgestellt und modelliert sowie auf der Folie einer kritischen Psychologie reflektiert und für die Erfassung von Veränderungen von Denkkonzepten fruchtbar gemacht. Im Mittelpunkt des dritten Kapitels steht das Konzept der Forschungswerkstatt, das dezidiert die didaktische Planung bis hin zur mikrodidaktischen Umsetzung entfaltet und vor dem Hintergrund der Initiierung forschender Lernprozesse deren Potenzial abwägt und analysiert. Im anschließenden vierten Kapitel werden methodologische und methodische Überlegungen zum Forschungsprozess und -design dargelegt und diskutiert. Im abschließenden fünften Kapitel finden sich die Dokumentationen, Analysen und Interpretationen der exemplarisch ausgewählten studentischen Lernwege im Setting der Forschungswerkstatt selbst und darüber hinaus im Kontext der pädagogischen Idee und rückbezogen auf das didaktische Konzept.
Dem Leser offeriert der vorliegende Band eine breit angelegte Zusammenstellung von Forschungs- und Erfahrungsbeiträgen zu den Themenbereichen: Initiierung forschender Lernprozesse, insbesondere unter dem Fokus eines biografischen Zugangs, der einen Kristallisationspunkt für einen „neuen Typus“ des Wissenschaftsbezugs darstellt; Erweiterung des Wissenschaftsverständnisses durch die besondere Form des Praxisbezugs, Reform der Lehrerinnen- und Lehrerbildung sowie Hochschuldidaktik der Lehrerinnen- und Lehrerbildung unter dem Fokus der Schaffung neuer Lernräume.
Auch lässt sich eine Vorstellung davon gewinnen, unter welchen Bedingungen eine didaktische Neuorientierung auf „Forschendes Lernen“ hergestellt werden kann und wie ein Umsetzungsprozess durch eine forschungsorientierte Formatierung von Lernprozessen verlaufen könnte, in dem Praxis nicht nur aus der Perspektive des Handelns und Könnens, sondern auch aus einer methodisch abzusichernden Erkenntnishaltung begegnet wird. Die Arbeit schließt damit eine Lücke zwischen Theorie und Praxis, indem sie die Differenz zwischen Wissenschaft und wissenschaftlichem Wissen auf der einen und Praxis sowie praktischem Handlungswissen auf der anderen Seite mit der Bereitstellung von Anschlussmöglichkeiten didaktisch bearbeitbar macht.
Insgesamt liegt ein sehr facettenreiches Buch vor, das im Rückblick von 10 Jahren nach Erscheinen als Dissertation, als Projektplan gelesen werden kann, auf den viele Modellprojekte zur Entwicklung universitärer Praxisphasen und zur Weiterentwicklungen von Lern- zu Forschungswerkstätten im positivsten Sinne „Anstoß“ nehmen können.
EWR 11 (2012), Nr. 1 (Januar/Februar)
Forschendes und biografisches Lernen
Das Modellprojekt Forschungswerkstatt in der Lehrerbildung
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2011
(406 S.; ISBN 978-3-7815-1517-8; 36,00 EUR)
Ralf Schneider (Dortmund)
Zur Zitierweise der Rezension:
Ralf Schneider: Rezension von: Bolland, Angela: Forschendes und biografisches Lernen, Das Modellprojekt Forschungswerkstatt in der Lehrerbildung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2011. In: EWR 11 (2012), Nr. 1 (Veröffentlicht am 24.02.2012), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978378151517.html
Ralf Schneider: Rezension von: Bolland, Angela: Forschendes und biografisches Lernen, Das Modellprojekt Forschungswerkstatt in der Lehrerbildung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2011. In: EWR 11 (2012), Nr. 1 (Veröffentlicht am 24.02.2012), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978378151517.html