EWR 8 (2009), Nr. 4 (Juli/August)

Hanna Kiper / Susanne Miller / Christian Palentien / Carsten Rohlfs (Hrsg.)
Lernarrangements fĂĽr heterogene Gruppen
Lernprozesse individuell gestalten
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2008
(262 S.; ISBN 978-3-7815-1640-3; 19,00 EUR)
Lernarrangements für heterogene Gruppen Zum Schlagwort Heterogenität erscheinen in den Erziehungswissenschaften und im Rahmen der Bildungsforschung seit geraumer Zeit eine ganze Reihe von Veröffentlichungen. Welche heterogenen Gruppen dabei im Vordergrund stehen, fällt jeweils ganz unterschiedlich aus. Mal werden Leistungsunterschiede zwischen den Lernenden anvisiert, mal der “natio-ethno-kulturelle“ Andere (Mecheril/Hoffahrt) oder der soziale Hintergrund der Schüler/innen, mal ist Gender gemeint, wenn von heterogenen Lerngruppen gesprochen wird.

Im vorliegenden Sammelband werden in zwei Beiträgen Kinder in Armut ins Zentrum gerückt (Miller sowie Palentien/Harring), einmal stehen „beeinträchtigte Schülerinnen und Schüler“ im Mittelpunkt (Linderkamp) und Schründer-Lenzen berichtet über Unterricht in mehrsprachigen Klassen. In den anderen Beiträgen wird die „heterogene Gruppe“ entweder nicht näher definiert oder es ist eine ganze Bandbreite an Konstellationen angesprochen. Gemessen an dieser Uneinheitlichkeit der Beiträge ist das Ziel des Bandes „einen Beitrag zu dieser Diskussion“ (9) [Umgang mit Heterogenität] zu leisten und für „Lehrerinnen und Lehrer hilfreich sein [zu] können, die alle Schülerinnen und Schüler angemessen unterstützen und fördern wollen“ (ebd.) natürlich recht hoch angesetzt.

Das Buch ist in vier Teile gegliedert, die sich mit Lebenswelt, Unterricht (eher allgemeindidaktisch), fachdidaktischen Überlegungen (Sachunterricht, Sprachförderung, Mathematik und Sport) und Schulkultur jeweils in Bezug auf Heterogenität beschäftigen. Der erste und der vierte Teil scheinen dabei nicht ganz trennscharf zu sein. Beziehen sich doch beide auf die Lebenswelten der Kinder und die jeweils resultierenden Herausforderungen für Schule und Unterricht. Beim Blick auf die Inhalte wird deutlich, dass im Band vor allem (aber nicht nur) Kindheit in der Grundschule erörtert wird.

Teil I: Carsten Rohlfs diskutiert denn auch ein seit längerem gängiges Thema der Kindheits- und Grundschulforschung: Den Wandel von Kindheit und ein darauf Bezug nehmendes professionelles Handeln in Schule und Unterricht. Anhand der Ergebnisse eines empirischen Forschungsprojektes (LISA, Uni Siegen) zeigt er auf, wie vielfältig Kinder und Kindheiten heutzutage sind. Er wendet sich gegen eine kulturpessimistische Sichtweise, die sich oftmals hinter dem Schlagwort „veränderte Kindheit“ verbirgt. Stattdessen fordert er ein Einlassen auf die Kinder und die Konstruktionen von Kindheiten.

Das Thema Kinder in Armut – aus schulpädagogischer Perspektive beleuchtet – behandelt Susanne Miller. Anhand empirischer Studien eruiert die Autorin zunächst, wie Armut in materieller, kultureller und sozialer Hinsicht sich für die Kinder auswirkt. Nicht alle Kinder in Armut erbringen nämlich schlechte Schulleistungen. Bei einigen Kindern hingegen müssen erst die Voraussetzungen für Lernen geschaffen werden (Ernährung, Rückzugsmöglichkeit, Unterstützung). Neben dieser auch in anderen Beiträgen zum Thema Kinderarmut erörterten sozialpädagogischen Sichtweise, macht Miller nun einen schulpädagogischen Blick stark. Schule ist in dieser Blickrichtung nicht nur ein Ort, an dem Kompetenzen erworben werden können, sondern auch ein Ort, an dem Armut produziert wird. Vor allem Überweisungen an Haupt- oder Förderschulen, von denen Kinder in Armut überproportional betroffen sind, bewirken diese institutionell erzeugte Bildungsarmut. Als Lösung erörtert Miller Möglichkeiten und Grenzen einer noch zu begründenden Pädagogik der Sozialen Ungleichheit.

Teil II: Annette Scheunpflug befragt die allgemeine Didaktik zum Thema Heterogenität. Sie stellt die These auf, dass für die Didaktik lange Zeit Homogenität ein Thema und dies eine Voraussetzung für die demokratische Gleichheit aller in Schule und Bildung war. Zur ebenfalls erörterten Differenz galt und gilt es in der Demokratie immer eine Balance zu halten. Als eine neue „heterogenitätssensible“ Didaktik schlägt sie u.a. ihren eigenen Ansatz einer evolutionären Didaktik vor.
In einem groben Überblick stellt Hanna Kiper viele verschiedene gesellschaftliche und pädagogische Diskurse um Heterogenität vor. Zu jedem Diskurs werden anschauliche Tabellen geboten.

Auch Agi Schründer-Lenzens erster Beitrag im Buch (sie hat wie Hanna Kiper noch einen zweiten verfasst) stellt einen Rundumschlag dar. Die Autorin präsentiert eine Fülle von Ergebnissen empirischer Unterrichtsforschung sowie zu Bildungs(miss)erfolgen von Jungen und Kindern mit Migrationshintergrund. Im Anschluss stellt sie ein eigenes Forschungsprojekt (FörMig), dessen Anliegen und erste Ergebnisse vor.

Der zweite Beitrag von Kiper stellt verschiedene Modelle für die Unterrichtsplanung dar – ebenfalls größtenteils mit Unterstützung durch systematisch erarbeitete Tabellen. Sie analysiert dabei überblicksartig, inwiefern die Planungen den Umgang mit heterogenen Gruppen berücksichtigen. Diese Systematik wird zum Ende des Beitrages hin aufgegeben. Nicht transparent sind zudem die Gründe für die Auswahl der Modelle.

Friedrich Linderkamp stellt verschiedene lerntheoretische Konzepte zum Abbau von Ängsten, Aggressionen, Schulunlust und antisozialem Verhalten vor. Heterogenität wird hier anscheinend gleichgesetzt mit Verhaltensauffälligkeiten. Inwiefern sich diese Konzepte an Lehrer/innen richten, erscheint zudem fraglich, da diese ja keine therapeutischen Aufgaben zu übernehmen haben.

Teil III: Den Anfang macht ein Beitrag zum Sachunterricht von Hartmut Giest. Er stellt die Lernhandlungen (Gal’perin) ins Zentrum seiner Analysen und zeigt auf, wie diese konkret im Unterricht angeregt werden können.

Wie kann Sprachförderung im Regelunterricht mehrsprachiger Klassen durchgeführt werden und auf welche Erkenntnisse können sich Lehrer/innen dabei stützen? Diese Frage steht im Mittelpunkt von Schründer-Lenzens zweitem Beitrag. Sie beschäftigt sich dazu mit Ergebnissen aus Forschungen zum Zweitspracherwerb, Konzeptionen einer systematischen Sprachförderung in den Fächern, aber auch in fächerübergreifender Perspektive. Ein zwar sehr spezifischer, aber gerade dadurch auch sehr informativer Beitrag.

Petra Scherer beleuchtet das Mathematiklernen in heterogenen Gruppen. Dazu beschäftigt sie sich mit der erforderlichen Lehrerkompetenz, einem angemessenen Lehr-Lernverständnis und dem Prinzip der natürlichen Differenzierung. Bei diesem Prinzip wählen die Lernenden den Schwierigkeitsgrad von Aufgaben selbst. Anhand verschiedener Aufgabenformate für den Grundschulunterricht veranschaulicht die Verfasserin dies. Dieser Beitrag ist vor allem unter der Perspektive des Nutzens für Lehrende hilfreich.

Mit dem Sportunterricht wird ein letzter Ausschnitt fachdidaktischer Überlegungen betrachtet. Christa Kleindienst-Cachay und Petra Vogel knüpfen ebenfalls am Potential offener Aufgaben für den Umgang mit Heterogenität an. Ebenso wie Scherer möchten die Autorinnen eine vollständige Individualisierung vermeiden. Geschlechterbezogene Vorlieben oder interkulturell unterschiedliche Gepflogenheiten u.v.m. machen den Sportunterricht jedoch zu einem schwierigen Unterfangen. Eine Lösung liegt nach Ansicht der Autorinnen darin, ein gewissermaßen „neutrales“ Feld (hier Step-Aerobic) zu wählen, das weder eine Domäne von Jungen ist, in dem Berührungen nicht zwingend sind und das in jeglicher Bekleidung möglich ist.

Teil IV: Christine Freitag beschäftigt sich aus international vergleichender Perspektive mit Heterogenität und Homogenisierungsprozessen aus bildungspolitischer Sicht. Dass es in Deutschland nicht immer um das Ziel bestmöglicher Bildung und Integration geht, zeigt die Praxis, dass Asylsuchende nicht beschult werden. Einschluss, Ausschluss, Assimilation, Diskriminierung, aufgezeigt anhand verschiedener bildungspolitischer Maßnahmen, machen deutlich, dass bei allen Diskursen die Menschenrechte im Zentrum stehen sollten. Dies gilt auch bei der Frage, die Freitag als Aufhänger des Aufsatzes heranzieht, ob in Deutschland türkische Schulen gegründet werden sollten. Ein Beitrag, der blinde Flecken aufdeckt.

Wie Miller in Teil I beschäftigen sich Christian Palentien und Marius Harring mit den Herausforderungen der sozialen Heterogenität – sprich Kinder und Jugendliche in Armut – für die Schule. Auch ihrer Ansicht nach hat die Schule ein doppeltes Gesicht: sie verfestigt einerseits Ungleichheitslagen und kann andererseits durch das Erreichen aller an der Überwindung sozialer Ungleichheit ansetzen. Große Hoffnungen setzen die Autoren dabei auf die Ganztagsschule.
Wie in Sammelbänden nicht selten anzutreffen, werden auch in der vorliegenden Veröffentlichung Beiträge recht unterschiedlicher Qualität vorgelegt, die durch eine grobe Klammer vereint werden. Das Anliegen, einen Beitrag zur Diskussion um den Umgang mit Heterogenität zu leisten, wird eingelöst. Auch wenn sich einige anregende, informative Texte im Band befinden, scheinen mir darüber hinaus vor allem die fachdidaktischen Beiträge „hilfreich“ für Lehrer/innen zu sein.
Marita Kampshoff (Schwäbisch Gmünd)
Zur Zitierweise der Rezension:
Marita Kampshoff: Rezension von: Kiper, Hanna / Miller, Susanne / Palentien, Christian / Rohlfs, Carsten (Hg.): Lernarrangements fĂĽr heterogene Gruppen, Lernprozesse individuell gestalten. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2008. In: EWR 8 (2009), Nr. 4 (Veröffentlicht am 31.07.2009), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978378151640.html