EWR 10 (2011), Nr. 1 (Januar/Februar)

Ulrich Herrmann
Schulen zukunftsfÀhig machen
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2010
(174 S.; ISBN 978-3-7815-1751-6; 16,90 EUR)
Schulen zukunftsfĂ€hig machen Ulrich Herrmann, langjĂ€hriger Professor in TĂŒbingen und Ulm und Herausgeber zahlreicher Schriften vor allem zur Historischen PĂ€dagogik legt mit diesem Band 14 AufsĂ€tze vor, die in den letzten Jahren anlĂ€sslich von Konferenzen, Diskussionen und VortrĂ€gen entstanden sind und bereits vorab in Zeitschriften publiziert oder als Radiobeitrag gesendet wurden. Der gewĂ€hlte Titel, der die Ziel- und Gestaltungsperspektive von Schule betont, verortet die Textsammlung als schulpĂ€dagogische Schrift. Die AufsĂ€tze sind in zwei Themenbereiche gegliedert: Der erste Bereich umfasst unter dem Titel „Was Schulen unterlassen und was sie tun sollten“ acht AufsĂ€tze, die sich hauptsĂ€chlich auf die Binnenperspektive der Schule beziehen; der zweite trĂ€gt die Überschrift „Schulpolitische Perspektiven“ und enthĂ€lt sechs AufsĂ€tze, die vorrangig auf die Ă€ußere Struktur der Schule referieren. Über die EinzelbeitrĂ€ge hinweg wird die Publikation von immer wiederkehrenden thematischen Leitmotiven durchdrungen. Zu ihnen gehören die Kritik an den Bildungsstandards ebenso wie die generelle Kritik von LehrplĂ€nen und die Ablehnung des gegliederten Schulsystems. Der Kritik gegenĂŒber hebt Herrmann die Praxis der Reformschulen, besonders aber die Praxis der Odenwaldschule, in fast allen Texten als "benchmark" fĂŒr eine gelingende Praxis heraus.

Im Mittelpunkt dieser Rezension stehen vor allem diese Leitmotive. Ein Aufsatz mit dem Titel „Fördern ‚Bildungsstandards‘ die allgemeine Schulbildung?“ ist der umfangreichste Beitrag der Publikation. Die dezidiert kritische Auseinandersetzung mit den BildungsÂŹstandards erschien zuerst in einer Herausgeberschrift des Jahres 2005. Herrmann fĂŒhrt aus, dass sich die PISA-Folgen-Debatte nicht auf die wesentlichen Ursachen der mangelnden Kenntnisse und FĂ€higkeiten der SchĂŒlerinnen und SchĂŒler bezieht und benennt hierzu GrĂŒnde, beispielsweise, dass eine Umorganisation des Systems aus weltanschaulichen oder parteipolitischen GrĂŒnden unerwĂŒnscht sei (51). Bildungsstandards sieht er als eine fĂŒr SchĂŒlerinnen und SchĂŒler bedeutungslose Sache, wenn sie nicht ĂŒber ein Interesse an der Sache eingefĂ€delt werden und mit den jungen Menschen als Personen selbst etwas zu tun haben. Er bezeichnet Bildungsstandards als Leistungsstandards (61) und sieht mit ihnen die Gefahr eines „teaching to the test“ verbunden (65). Zur BegrĂŒndung seiner Position unternimmt Herrmann eine KlĂ€rung der Begriffe Bildung und Kompetenz. Die AusfĂŒhrungen zum Bildungsbegriff erfolgen unter RĂŒckgriff auf Humboldt, der Begriff wird von Herrmann als Ergebnis individueller Bedeutungs- und Sinnschreibung verstanden, der Kompetenzbegriff wird vorwiegend nominal zum bereits AusgefĂŒhrten definiert. Im Fazit bezeichnet Herrmann die Standards als demokratieschĂ€digend, weil sie nach seiner Auffassung gegen das Elternrecht, gegen pĂ€dagogische Berufsexpertise, gegen Befunde der Wissenschaft und gegen die berechtigten WĂŒnsche der jungen Leute konzipiert sind (76).

Dieses Leitmotiv kehrt ebenfalls in vier von acht BeitrĂ€gen des ersten Teils wieder. Im Aufsatz „Was Schulen schulen sollen: Lehrer, SchĂŒler und Eltern“ votiert Herrmann dafĂŒr, dass Schulen bei den LehrkrĂ€ften die BefĂ€higung zu psycho-sozialer Beziehungsarbeit schulen und damit die Herstellung des „pĂ€dagogischen Bezugs“ in den Blick nehmen sollen (19). Die Frage ist fĂŒr Herrmann mehr ein AufhĂ€nger, um die im Zusammenhang mit den PISA-Ergebnissen erfolgten Reformen aufzugreifen. In diesem Kontext ĂŒbt er auch dezidierte Kritik am vorÂŹherr-schenden Schulsystem und an der Lehrerbildung. Der Aufsatz „MaßstĂ€be fĂŒr den Schulerfolg – Welche Standards setzen Bildungsstandards?“ ist ebenfalls eine dezidiert kritische Auseinandersetzung mit dem neuen Steuerungsinstrument. Ein weiterer Text aus dem ersten Teil stellt den Abdruck eines Statements dar, das Herrmann anlĂ€sslich der öffentlichen Anhörung einer Parteifraktion hielt und zuerst in einer Zeitung publizierte. Unter dem Titel „Wie macht man „EntrĂŒmpelung“ der LehrplĂ€ne und SchulzeitverkĂŒrzung fĂŒr das G8 richtig?“ votiert er fĂŒr die Abschaffung der BildungsplĂ€ne an den Gymnasien und deren Ersetzung durch eine sinnvolle Arbeitszeitgestaltung mit neuen methodisch-didaktischen Konzepten, die sich fĂŒr ihn vor allem in Projektarbeit manifestieren. Im Aufsatz mit der Überschrift „Bildung, Kompetenz – oder was?“ greift der Autor die Unterscheidung des Bildungs- und Kompetenzbegriffs auf und kommt zum Schluss, dass die Begriffe nicht „restlos ineinander ĂŒbersetzt werden können“ (88).

Ein gedruckter Radiovortrag in Auseinandersetzung mit Bernhard Buebs Buch „Lob der Disziplin“ sowie die „Charta eines BĂŒndnisses fĂŒr Erziehung, Bildung und Ausbildung“, in der Herrmann auch ein Recht der Kinder und Jugendlichen auf „optimalen Unterricht“ und das „Recht auf eine Ausbildung fĂŒr den Eintritt ins Berufsleben“ (102ff) postuliert, schließen den ersten Teil ab. Da ein weiterer Beitrag mit dem Titel „Die Musik steht nicht in den Noten – und was Schulkinder können, auch nicht“ einen Kommentar zu einem Artikel aus „Die Zeit“ vom Juli 2006 darstellt und sich ohne diesen Artikel nur schwerlich in seiner Argumentation erschließt, sei er nur am Rande erwĂ€hnt.

Herrmann wendet sich in den gekennzeichneten BeitrĂ€gen mit deutlichen Worten gegen Bildungsstandards, die er unzulĂ€ssigerweise bestĂ€ndig als Leistungsstandards definiert, ebenso gegen Vergleichsarbeiten und Kompetenztestungen in Schulen. Empirische Untersuchungen zieht Herrmann nicht heran und lĂ€uft dabei Gefahr, ein vereinseitigendes Bild der Bildungsstandards auf der Ideenebene zu zeichnen, in dem aus der internationalen Literatur begrĂŒndet postulierten Ängsten wie „teaching to the test“ kein empirisches Korrektiv mit Blick auf die Schulwirklichkeit bundesdeutscher LĂ€nder zugeordnet wird. Beispielsweise fehlen zu den Vergleichsarbeiten im Zusammenhang mit Bildungsstandards Hinweise darauf, dass die Forschung in der Bundesrepublik und in Baden-WĂŒrttemberg einen „teaching to the test“-Effekt nicht nennenswert auffinden kann (beispielsweise die ForschungsbeitrĂ€ge Uwe Maiers [1]). Hier wĂ€re ersichtlich geworden, dass Argumente, die beispielsweise in der angelsĂ€chsischen Diskussion Geltung besitzen, nicht unhinterfragt auf die Strukturen der Bundesrepublik ĂŒbernommen werden können, weil die StĂ€rke der Effekte mit dem vorherrschenden Belohnungs- oder Bestrafungssystem zusammen hĂ€ngt [2]. Als Leser gewinnt man den Eindruck, dass der Verfasser neue Instrumente wie beispielsweise die Vergleichsarbeiten auch deshalb kritisiert, weil er deren schulpraktische AusÂŹgestaltung nicht in jenem notwendigen Maß kennt, das fĂŒr die Beurteilung notwendig wĂ€re.

Dass darĂŒber hinaus von Herrmann keine Gelegenheit ausgelassen wird, nicht nur die Politik, sondern auch die in ihr tĂ€tigen Politiker zu diskreditieren, zeigt sich in persönlichen Angriffen, beispielsweise im Begriff von der „beratungsresistenten Kultusministerin“ (40), im Diktum von den „deutschen Politiker(n) mit ihrer didaktischen Gehirnbewirtschaftung“ (65) oder der „post-sozialistischen Gehirnbewirtschaftung Ă  la KMK“ (75). Diese AusfĂ€lle sind schlichtweg Beleidigungen, welche die vorgebrachte inhaltliche Argumentation auf der Sachebene im Gesamten abwerten.

Der zweite Teil zu den schulpolitischen Perspektiven beginnt mit einem gedruckten Radiovortrag zum Thema „Wem gehören unsere Kinder?“. Im Beitrag geht Herrmann auch mit geschichtlicher Perspektive auf die Rechtsfragen ein und fĂŒhrt aus, dass das System aus seiner Systemlogik und -praxis heraus selbst zur Quelle der Ungerechtigkeit wird, obwohl Verfassung und Gesetz dies verhindert wissen wollen. Herrmann verortet die Antwort auf die aufgeworfene Frage bei den Eltern bzw. Sorgeberechtigten und bei den Kindern selbst. Mit Verweis auf die Bevormundung und EntmĂŒndigung von Eltern behinderter Kinder begrĂŒndet er die Forderung eines lĂ€ngeren gemeinsamen Lernens. Wenngleich Herrmann viele aktuell diskutierte Probleme anspricht, bleibt auch hier anzumerken, dass der neuere Erkenntnisstand empirischer Forschung nicht zur Kenntnis genommen wurde: Indem Herrmann die Ungerechtigkeit des Systems dadurch charakterisiert, dass im dreigliedrigen Schulsystem viele Abschulungen vom Gymnasium zur Real- und von dort zur Hauptschule stattfinden und dies gĂ€ngige Praxis ist (113), ĂŒbersieht er den Kenntnisstand neuerer Forschung z.B. bei Maaz/Watermann/Köller [3], welche betont, dass AufwĂ€rtsmobilitĂ€t kaum ausschließlich horizontal erfolgt, sondern zumeist vertikal in optionalen Anschlussstellen wie (am Beispiel Baden-WĂŒrttembergs) den Werkrealschulen und Berufsfachschulen, den Berufskollegs und vor allem den Beruflichen Gymnasien. Lediglich die horizontalen ÜbergĂ€nge in den Blick zu nehmen stellt hier eine verkĂŒrzte Perspektive dar.

Der nĂ€chste Text geht unter dem Titel „Chancengerechtigkeit als Gebot – Chancenbenachteiligung als RealitĂ€t“ von den Stichwörtern Chancengerechtigkeit und Chancenbenachteiligung aus. Auch der darauf folgende lĂ€ngere Aufsatz „Eine gemeinsame Schule fĂŒr alle!?“ entwirft ausgehend vom Begriff der Chancengerechtigkeit eine Schule der Zukunft, die im Kern nach der Grundschule ein Verbleiben der SchĂŒler in einer gemeinsamen und nicht getrennten Schulstufe vorsieht. Die hier geĂ€ußerte Kritik an der schulformbezogenen Selektion wird in einem Text zur Ganztagsschule (Ganztagsschule: RĂŒckwege aus Entfremdungen?) und einem weiteren PlĂ€doyer fĂŒr eine inklusive Schule und differenzierte Sekundarschule unter dem Titel „Das dreigliedrige Schulsystem darf keine Zukunft haben!“ weiter gefĂŒhrt. Ein letzter Aufsatz rĂŒckt schließlich unter dem Motto „Bauherr ist hier das Kind“ Fragen des Schulbaus in den Mittelpunkt.
In den Texten dieses zweiten Buchteils ist als wiederkehrende Argumentationsfigur die Ablehnung des gegliederten Schulsystems zugunsten der „inklusiven und differenzierten Sekundarschule“ (155) zu erkennen. Hier wendet sich Herrmann auch vehement gegen das Sitzenbleiben von SchĂŒlerinnen und SchĂŒlern, das er mit den hohen Kosten fĂŒr das Schulsystem und den psychischen Folgen fĂŒr die Kinder begrĂŒndet. Herrmanns Forderung, kĂŒnftig die LehrplĂ€ne abzuschaffen, kehrt ebenfalls an vielen Stellen der Schrift wieder. In einigen Stellen hĂ€lt er den staatlichen Schulen, die in den AufsĂ€tzen an vielen Stellen abgewertet erscheinen, die Praxis der Reformschulen, insbesondere aber die Praxis der Odenwaldschule, entgegen. Wenngleich Herrmanns AusfĂŒhrungen höchst aktuelle Problemlagen ansprechen, bleibt dennoch auch in diesen AufsĂ€tzen eine Gestaltungsperspektive auf Schule, die ĂŒber die Praxis der Reformschulen hinausweist ebenso ein Desiderat wie die differenzierte Betrachtung der Problemlagen. Dass viele AusbildungsplĂ€tze heute nicht besetzt werden können, weil die Bewerber vor allem notwendiger fachlicher Kenntnisse in den HauptfĂ€chern entbehren, sieht auch Herrmann (146), ob hier aber eine Lösung des Sitzenbleiberproblems mit Blick auf die Abnehmer in einer forcierten Persönlichkeits- und Sozialkompetenzentwicklung der SchĂŒlerinnen und SchĂŒler, wie sie hĂ€ufiger im Text angefĂŒhrt wird (146) zu finden ist, bleibt dahin gestellt.

Auch wenn alle TextbeitrĂ€ge sĂ€mtlich den Gestaltungsanspruch von Schule in den Mittelpunkt stellen, bleibt zusammenfassend zu fragen, auf welchem theoretischen und wissenschaftlichen Fundament Herrmann die Argumente fĂŒr die vorgebrachten GestaltungsvorschlĂ€ge gewinnt und welche Tragweite diese Argumente besitzen. Über alle AufsĂ€tze hinweg wird ersichtlich, dass der Autor vorwiegend mit historischen Argumenten eine reformpĂ€dagogische Praxis stĂŒtzt und zu deren Übernahme er auffordert, die auf exemplarischen Schulen der Reformbewegung, vornehmlich auf der Praxis der Odenwaldschule, aufruht. Dieses Vorgehen birgt die Gefahr einer einseitigen theoretischen Betrachtung, die darĂŒber hinausgehende Befunde des wissenschaftlichen Diskurses weitgehend ignoriert. Einseitig theoretisch erscheint diese Sichtweise deshalb, weil die Betrachtungen hĂ€ufig auf verkĂŒrzte Teilaspekte fokussieren. Wenngleich Herrmann beispielsweise in der Bildungsstandarddiskussion zu Recht kritische Gesichtspunkte diskutiert, entgeht ihm, auch auf berechtigte Anliegen des Diskurses hinzuweisen, wie beispielsweise deren lĂ€nderĂŒbergreifenden Steuerungsanspruch herauszustellen.

Um das berechtigte Unterfangen, Schulen zukunftsfĂ€higer zu machen, hierzu GestaltungsvorschlĂ€ge zu unterbreiten und diese in einen produktiven Diskurs einzubinden, bedarf es mehr als eines historischen BegrĂŒndungszusammenhangs fĂŒr ohnehin schon vorfindliche Praxen. Insofern ist die Kritik, die Herrmann den Autoren der KMK-Expertise zuteil werden lĂ€sst, auch gegen ihn selbst zu wenden: „Die Expertisen, die die KMK einholte, stammen ausnahmslos nicht von Schulleuten, sondern von Professoren, die ihren Wunschvorstellungen [
] freien Lauf gelassen haben“ (70). Aus diesem Grund und den weiteren genannten Einseitigkeiten empfehle ich die Aufsatzsammlung ungeachtet der aktuellen Problemstellungen, die sie anspricht, nur bedingt zur LektĂŒre.

[1] Maier, Uwe (2008): Rezeption und Nutzung von Vergleichsarbeiten aus der Perspektive von LehrkrĂ€ften. In: Zeitschrift fĂŒr PĂ€dagogik 54, S. 95-115; Ders. (2008): Vergleichsarbeiten im Vergleich – Akzeptanz und wahrgenommener Nutzen standardbasierter Leistungsmessungen in Baden-WĂŒrttemberg und ThĂŒringen. In: Zeitschrift fĂŒr Erziehungswissenschaft 11, S. 453-474 sowie Ders. (2009): Wie gehen Lehrerinnen und Lehrer mit Vergleichsarbeiten um? Eine Studie zu testbasierten Schulreformen in Baden-WĂŒrttemberg und ThĂŒringen. Baltmannsweiler: Schneider.

[2] Maier, Uwe (2010): Effekte testbasierter Rechenschaftslegung auf Schule und Unterricht. Ist die internationale Befundlage auf Vergleichsarbeiten im deutschsprachigen Raum ĂŒbertragbar? In: Zeitschrift fĂŒr PĂ€dagogik 56, S. 112-128.

[3] Maaz, Kai/Watermann, Rainer/Köller, Olaf (2009): Die GewĂ€hrung von Bildungschancen durch institutionelle Öffnung. Bildungswege von SchĂŒlerinnen und SchĂŒlern an allgemeinbildenden und beruflichen Gymnasien. In: PĂ€dagogische Rundschau 63, S. 159-77.
Albrecht Wacker (TĂŒbingen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Albrecht Wacker: Rezension von: Herrmann, Ulrich: Schulen zukunftsfĂ€hig machen. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2010. In: EWR 10 (2011), Nr. 1 (Veröffentlicht am 16.02.2011), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978378151751.html