Kaum ein Thema prägt den Diskurs um die Ausbildung von Lehrkräften derart wie die Frage nach dem Verhältnis von Theorie und Praxis. Zu theoretisch, zu abstrakt, kaum brauchbar – so plakativ ließe sich das Urteil von Lehramtsstudierenden über ihre universitäre Ausbildung zusammenfassen. Die Klagen Studierender über die Praxisferne des Studiums gehören zu den konsistentesten Befunden der empirischen Lehrerbildungsforschung. Das Theorie-Praxis-Verständnis vieler Studierender ist nach wie vor geprägt von der Erwartung einer unmittelbaren Anwendbarkeit des Ausbildungswissens in der schulischen Praxis, auch wenn die Modellvorstellung eines Wissenstransfers empirisch nie hinreichend nachgewiesen werden konnte und inzwischen als nicht mehr haltbar gilt.
Wie gleichwohl ein stärkerer Bezug von pädagogischen Theorien zur schulischen Praxis jenseits der instrumentellen Wissensanwendung hergestellt werden kann, versucht der hier besprochene Sammelband aufzuzeigen. Er vereint 15 Aufsätze zu Themen des schulischen Lehrens und Lernens. Die Auswahl der Beiträge wird nicht näher begründet, erschließt allerdings zentrale Themen der Schulpädagogik: Das Spektrum reicht von Leistungsmessung und Leistungsbeurteilung, Schüler-Selbstbeurteilungsfähigkeit und Klassenführung über Interessenförderung, Lern- und Leistungsemotionen bis hin zu Hausaufgaben, Individualisierendem Unterricht, Offenem Unterricht, Lerncoaching und Sozialformen des Unterrichts. Ebenso aufgenommen wurden die Themen Mädchen und Jungen in der Schule, Unterrichtswahrnehmung, Lehrerpersönlichkeit, Medien in der Schule sowie Fallarbeit in der Lehrerbildung.
Das Besondere: Alle Autoren wurden gebeten, ihr jeweiliges Thema anhand eines Falls bzw. Handlungsproblems darzustellen. Entstanden sind dabei unterschiedliche praxisbezogene Zugänge, die beim Leser einen durchaus abwechslungsreichen Eindruck dahingehend hinterlassen, wie Fälle jeweils in Beziehung zu theoretischen Darstellungen gesetzt werden können.
Gerhard Tulodziecki, Bardo Herzig und Silke Grafe analysieren beispielsweise in ihrem Beitrag „Leistungsmessung und Leistungsbeurteilung“ einen Entwurf einer Leistungsüberprüfung im Fach Politik und diskutieren auf der Basis ihrer theoretischen Ausführungen schlüssig mögliche Alternativen. Jutta Mägdefrau stellt in ihrem Aufsatz zur Klassenführung ein typisches Fallbeispiel eines Lehrers vor, der mit Störverhalten in einer Klasse zu kämpfen hat, setzt es mit den theoretischen Erkenntnissen in Beziehung und analysiert mögliche Erklärungen und Lösungsansätze. Rudolf Kammerl endet in seinem Beitrag „Medien in der Schule“ mit einem beispielhaften Unterrichtsentwurf eines Referendars zum Thema „Cybermobbing“ und regt den Leser zur Diskussion der Planungsüberlegungen an.
Die einzelnen Aufsätze sind in ihrer Gliederung heterogen; es handelt sich allerdings fast durchgehend um theoretische Beiträge, die den aktuellen Wissens- und Forschungsstand zum jeweiligen Themengebiet darstellen und anhand von Fällen exemplifizieren. Studien lassen sich gleichwohl auch finden: Birgit Brouër etwa stellt eine quasi-experimentelle Feldstudie zum selbstorganisierten Lernen im Rechnungswesenunterricht vor und erläutert einen Fall zur Selbstbeurteilungsfähigkeit am Beispiel einer Studentin. Katharina Schwindt berichtet von einer Studie zur Unterrichtswahrnehmung, in der die Analyseprozesse von Lehramtstudierenden, berufserfahrenen Lehrkräften und Schulinspektoren miteinander verglichen wurden. Die Autorin schließt ihren Aufsatz mit zwei praktischen Szenarien zur Umsetzung einer offenen und fokussierten Beobachtung einer Unterrichtsstunde, die sie anschließend kommentiert.
Insgesamt sind die Fälle, die der Beschreibung von konkreten schulischen Situationen dienen, realitätsnah gelungen. Teilweise bilden pädagogische Theorien oder Forschungsergebnisse den Ausgangspunkt eines Beitrags und diese werden sodann anhand eines Falls oder mehrerer Fälle verdeutlicht; häufiger wird aber ausgehend von einem Praxisbeispiel zu den theoretischen Darstellungen hingeführt, indem zu Beginn eines Beitrags ein Fall vorgestellt wird, der im Text mehrmals aufgegriffen und reflektiert wird. Der reziproken Beziehung von Theorie und Praxis wird damit Rechnung getragen. Sinnvoll: Zur übersichtlichen Hervorhebung erscheinen die Praxisbeispiele in der Schriftgröße jeweils kleiner als der restliche Text, womit gleichzeitig der Schwerpunkt der Beiträge auf der Theorie bzw. der Empirie betont wird.
Die Herausgeberin hat für die Beiträge ausgewiesene Autorinnen und Autoren gewinnen können, die ihr Themengebiet erwartungsgemäß fundiert darstellen. Gleichzeitig ist es gelungen, die Fallbeispiele geschickt in die Beiträge zu integrieren und zu den vorgestellten Theorien in Beziehung zu setzen. Die Absicht des Buches, den Zusammenhang zwischen Forschung, pädagogischen Theorien und schulischer Praxis deutlich zu machen, wird in nachvollziehbarer Weise verwirklicht.
Der Sammelband richtet sich ausdrücklich an Lehramtsstudierende, Referendare und Lehrkräfte. Die Texte haben überblicksartigen, zusammenfassenden Charakter und sind nicht allzu voraussetzungsreich, sondern auch für Leser mit geringen Vorkenntnissen geeignet – sowohl zum Eigenstudium als auch als Grundlagenliteratur im Seminarkontext und als Ausgangspunkt zu vertiefenden Studien. Hierfür findet der Leser am Ende der Beiträge kommentierte Literaturhinweise und Fragen bzw. Anregungen zum Weiterdenken. Etwas schwer könnte dem Leser das Erkennen einer systematischen Gliederung der Beiträge fallen. Der Sammelband ist nicht in Unterkapitel gegliedert; die Beiträge folgen eher unsystematisch aufeinander. Hier wäre eine für den Leser nachvollziehbare Systematik von Vorteil gewesen. Insgesamt aber ist ein lesenswerter Band entstanden, der das Verständnis für die Bedeutung von pädagogischen Theorien anhand von Fallbeispielen fördern kann.
EWR 10 (2011), Nr. 5 (September/Oktober)
Schulisches Lehren und Lernen
Pädagogische Theorie an Praxisbeispielen
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2010
(296 S.; ISBN 978-3-7815-1765-3; 19,90 EUR)
Andreas Bach (Hildesheim)
Zur Zitierweise der Rezension:
Andreas Bach: Rezension von: Mägdefrau, Jutta (Hg.): Schulisches Lehren und Lernen, Pädagogische Theorie an Praxisbeispielen. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2010. In: EWR 10 (2011), Nr. 5 (Veröffentlicht am 04.10.2011), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978378151765.html
Andreas Bach: Rezension von: Mägdefrau, Jutta (Hg.): Schulisches Lehren und Lernen, Pädagogische Theorie an Praxisbeispielen. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2010. In: EWR 10 (2011), Nr. 5 (Veröffentlicht am 04.10.2011), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978378151765.html