Das 20. Jahrhundert wurde retrospektiv zu einem „sozialpädagogischen“ ernannt. Hans Thiersch [3] und Thomas Rauschenbach [1] verweisen mit dieser nicht unumstrittenen Zuschreibung auf die Erfolgsgeschichte der Etablierung der Profession Sozialer Arbeit. In einem Beitrag des Bandes „Sozialpädagogik nach Karl Mager. Quellen und Analysen“ erinnert Carsten Müller an diese Hinweise (375), um unter Bezug auf Mager auf eine „tiefere“ Schicht sozialpädagogischen Wissens aufmerksam zu machen. Sie reicht weiter als professionsbezogene Fragestellungen und fokussiert Sozialpädagogik als eine „kritische Theorie der Vergesellschaftung“ (384).
Tatsächlich ist im sozialpädagogischen Fachdiskurs wenig bekannt, dass ungefähr hundert Jahre vor Thierschs und Rauschenbachs Diktum der Volksbildner und Lehrervertreter Johannes Tews konstatiert hatte, sein „Zeitalter“ könne „mit Recht ein sozialpädagogisches genannt werden“ [2, 543]. Im Unterschied zu Thiersch und Rauschenbach hatte Tews eine sozialreformerisch engagierte Pädagogik im Blick. Sozialpädagogik war ihm zufolge auf eine demokratische Gestaltung des Zusammenlebens gerichtet und suchte der Reproduktion von Ungleichheiten entgegenzutreten. Tews stand damit nicht allein; er war Teilnehmer einer breiten Debatte um den Begriff „Sozialpädagogik“. Erst allmählich – nachhaltig einsetzend in der Weimarer Republik – wurde sie als Randgruppenpädagogik und Theorie bzw. Praxis der Jugendhilfe gefasst. Erst seit einigen Jahren erinnert man sich in der Sozialpädagogik wieder nachdrücklich der von Tews, Natorp, Willmann, Rein u. a. vertretenen Diskurslinien, indem anerkannt wird, dass eine auf Professionsinteressen zugeschnittene, von Familie und Schule getrennte Sozialpädagogik doch eine arge Verengung der wissenschaftlichen Perspektiven von Sozialpädagogik darstellt.
An dieser Stelle setzt der zu besprechende Band ein. Er bezeugt, dass zur Zeit Tews bereits eine längere Tradition des weit gefassten Begriffs von Sozialpädagogik existierte. Genau 50 Jahre vor Paul Natorps erster Grundlegung einer allgemeinpädagogisch-philosophisch fundierten Sozialpädagogik im Jahre 1894 datiert Karl Magers Begriffsinnovation: In einer Rezension aus dem Jahr 1844 verwendete er nach aktuellem Kenntnisstand erstmals im deutschen Sprachraum den Terminus „Social-Pädagogik“. Der von Carsten Müller und Heinrich Kronen herausgegebene Band ist um diesen Terminus gruppiert; er wird zu Recht nicht nur als zufällige Setzung wahrgenommen, sondern als „Begriff, der systematischem Denken entspringt und seinerseits in eine pädagogische Systematik eingebunden ist“ (12). Das von Mager vorgegebene Programm, so die Autoren, impliziere die bis heute anschlussfähige Perspektive einer politisch gehaltvollen, an Fragen gesellschaftlicher Gleichheit und Gerechtigkeit orientierten Sozialpädagogik.
In diesem Sinne ist Karl Mager nicht einer von zahlreichen „Schulmännern“, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts auftraten und, mit eher wenig theoretischem Tiefgang, an der Etablierung des Bildungswesens Anteil nahmen. Bislang ragt aus diesem Kreis vor allem Adolph Diesterweg hervor, während Mager (und freilich andere) in seinem Schatten zurückstehen. Dass Mager größere Aufmerksamkeit verdient, wurde jüngst in der sozialpädagogischen Historiographie – in diesem Kontext deutlich zu unterscheiden von der Geschichtsforschung der Sozialarbeit und der Jugendhilfe – ausgearbeitet. Wurde zunächst Paul Natorp als „Kronzeuge" der sozialpädagogischen Tradition wieder entdeckt, so avancierte zuletzt Mager zu einer zentralen Referenz historisch informierter sozialpädagogischer Selbstvergewisserung. Von Natorps neukantianisch-bildungssozialistischem Zugang nachhaltig abweichend, symbolisiert Mager eine Position, die gleichfalls die pädagogische Dimension der Sozialpädagogik und ihre ranghohe Sensitivität für soziale Transformationen, Bildungsbenachteiligungen und politische Restriktionen sichtbar macht.
Damit zur Ambition des vorliegenden Bandes: Sie ist durchaus klärungsbedürftig, denn die Wiederentdeckung Magers wurde in der Sozialpädagogik bereits geleistet. Der Band wartet nicht mit neuen Erkenntnissen auf. Wer die jüngere Geschichtsschreibung der Sozialpädagogik kennt, wird kaum neue Entdeckungen machen können. Die Herausgeber selbst hatten in einer Reihe früherer – und in dem Band z.T. neu abgedruckter – Arbeiten Magers Bedeutung für die Sozialpädagogik elaboriert. Man muss dem Band deshalb insofern gerecht werden, als es nicht sein Anspruch ist, Neues zu liefern; es handelt sich, so die Herausgeber, um einen „Quellen- und Gedenkband“ (10) anlässlich von Magers 200. Geburtstag.
Gemäß dem Anspruch der Herausgeber werden in dem Band – mit einer Ausnahme – bereits publizierte Veröffentlichungen zusammengestellt. Dies erfolgt in drei Abschnitten: Im ersten werden vier Biographien Magers publiziert. Sie widmen sich unterschiedlichen Schwerpunkten und gehen auf verschiedene Weise vor, von exakter Rekonstruktion bis blumiger Ausschmückung. Wird davon abgesehen, dass auch Karl Mager nur einmal lebte und Redundanzen beim Abdruck von vier Biographien folglich nicht zu verhindern sind, so ergibt sich in der Zusammenschau ein reichhaltiges und mitunter lebendiges Bild von Magers letztlich in deprimiertem Rückzug endendem Lebensverlauf, seiner Persönlichkeit und seiner praktischen und theoretischen Entwicklung.
Der zweite Teil des Bandes umfasst vorrangig Primärquellen aus der Feder Karl Magers. Es handelt sich um fünf Publikationen aus der von Mager seit 1840 herausgegebenen Zeitschrift „Pädagogische Revue“ bzw. ihrer Beilage „Die Volksschule“, einen kurzen Ausschnitt aus seiner „Bürgerschule“, einen Hinweis auf eine Bibliographie Magers in der „Volksschule“ sowie Notizen zu den wechselnden Untertiteln der „Pädagogischen Revue“. Die entsprechenden Publikationen liegen bereits als online zugängliche Digitalisierungen bzw. in der von Heinrich Kronen besorgten Werkausgabe Magers vor. Für den Band wurden sie an moderne Rechtschreibung angepasst, einleitend kommentiert und z. T. gekürzt oder nur in Auszügen vorgelegt. Als Auswahlkriterium für die Textauszüge fungierte die von den Herausgebern zugeschriebene Relevanz für die Sozialpädagogik.
Den dritten Teil bildet Sekundärliteratur von Heinrich Kronen (inklusive einer Rezension seiner Schrift von 1980 und einem Interviewauszug), Carsten Müller und Michael Schabdach. Kronens Beiträge dienen vorrangig der Darstellung und Klärung von Magers Werk. Müllers Abhandlungen arbeiten mit den Texten Magers und positionieren sie in unterschiedlichen aktuellen Debatten (etwa zu den Themen Soziale Arbeit als „Menschenrechtsprofession“, „Postmoderne“ und „Sozialpädagogik als Bürgererziehungswissenschaft“). Lediglich der Beitrag Schabdachs lag bislang nicht als Veröffentlichung vor. Er leistet eine Situierung von Magers Werk im Rahmen eines sozial orientierten Liberalismus und macht damit eine nicht nur personelle, sondern eine weltanschaulich-systematische Wurzel sozialpädagogischen Denkens sichtbar, die bis zuletzt in der Sozialpädagogik zu wenig beachtet wurde.
Den Abschluss des Bandes bildet eine auf Mager bezogene Bibliographie der seit seinem Tod im Jahr 1858 bis zum Jahr 2009 erschienenen Schriften.
Der Band leistet Wichtiges für die Positionierung Karl Magers in der gegenwärtigen sozialpädagogischen Theoriebildung und Historiographie. Er erfüllt dies, indem er Bekanntes zusammenstellt und einschlägige Anschlüsse an sein Werk wiedergibt. Die Sammlung ist damit für die Lehre hilfreich und kann Interessierten als Einführung dienen.
Von wissenschaftlicher Warte aus betrachtet, regt der Band zur weitergehenden Debatte und Vertiefung an. Er ist einer von Mager zu Kronen und weiter zu Müller angelegten Rezeptionslinie verpflichtet, während alternative Sichtweise hierzu in konstruktiven Dialog gebracht werden können. So könnte man in Folgestudien gezielt z.B. die von Mager mitunter deutlich artikulierten Diskreditierungen des „Pöbels“ analysieren und sein Verhältnis zu Zeitgenossen systematisch aufschließen usw. Zu derartigen Fragestellungen ermuntert der vorgelegte Band. Dass Mager eine wichtige Bezugsgröße der Sozialpädagogik ist, haben Kronen und Müller endgültig bewiesen, so dass die Forschung weitergehen kann. Möglicherweise kann dem „Quellen- und Gedenkband“ in absehbarer Zeit eine Zusammenstellung neuer Analysen an die Seite gestellt werden.
[1] Rauschenbach, T. (1999): Das sozialpädagogische Jahrhundert. Weinheim / München.
[2] Tews, J. (1898): Was ist Sozialpädagogik? In: Pädagogische Zeitung, 27, 541-543.
[3] Thiersch, H. (1992): Das sozialpädagogische Jahrhundert. In: ders.: Lebensweltorientierte Soziale Arbeit. 5. Aufl (2003). Weinheim, 235-254.
EWR 10 (2011), Nr. 2 (März/April)
Sozialpädagogik nach Karl Mager
Quellen und Analysen
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2010
(437 S.; ISBN 978-3-7815-1778-3; 24,90 EUR)
Bernd Dollinger (Siegen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Bernd Dollinger: Rezension von: Kronen, Heinrich / Müller, Carsten (Hg.): Sozialpädagogik nach Karl Mager, Quellen und Analysen. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2010. In: EWR 10 (2011), Nr. 2 (Veröffentlicht am 27.04.2011), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978378151778.html
Bernd Dollinger: Rezension von: Kronen, Heinrich / Müller, Carsten (Hg.): Sozialpädagogik nach Karl Mager, Quellen und Analysen. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2010. In: EWR 10 (2011), Nr. 2 (Veröffentlicht am 27.04.2011), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978378151778.html