Bei der Arbeit handelt es sich um „die leicht gekürzte und veränderte Version der historischen Forschungsarbeit […], die 2010 an der Fakultät für Sozial- und Verhaltenswissenschaften der Eberhard-Karls-Universität Tübingen angenommen wurde“ (8). Angeregt durch die aktuellen Debatten und Reformforderungen in der Bildungspolitik und in der erziehungswissenschaftlichen Teildisziplin „Pädagogik der frühen Kindheit“ ist es das Anliegen des Verfassers, der „Bedeutung von Bildung und Erziehung in der Geschichte der öffentlichen Kleinkinderziehung in Deutschland bis 1945“ nachzugehen. In der gegenwärtigen Debatte werde „das historische Verständnis von frühkindlicher Bildung und Erziehung […] kaum berücksichtigt […], obgleich doch zu vermuten ist, dass eben dieses die öffentliche Kleinkinderziehung entscheidend geprägt hat und bis in die Gegenwart, sowohl in den Strukturen als auch in den Ideen und Konzeptionen, nachwirkt“ (21). Es müsse die Frage gestellt werden, ob in früheren Zeiten „den vorschulischen Einrichtungen überhaupt eine allgemeine Bildungsfunktion zugesprochen [wurde] oder galt die Betreuung, vielleicht ergänzt um Erziehung, als primäre Aufgabe?“ (21).
Doch nicht nur in den gegenwartsbezogenen Diskussionen stellt der Verfasser Einseitigkeiten und Unzulänglichkeiten im historischen Bewusstsein fest. Auch in der historischen Forschung zur öffentlichen Kleinkindererziehung sieht er gravierende Mängel. Er meint, „dass bisher nicht versucht wurde, die historische Entwicklung speziell unter dem Gesichtspunkt von Bildung und Erziehung nachzuzeichnen“ (28). Ja mehr noch, in „späteren historiographischen Betrachtungen“ macht er „die Tendenz“ aus, „nur das Gewollte zu sehen und die Vielfalt auszublenden“ (300). Und: „Betrachtet man die bisherigen Arbeiten, dann ist zu erkennen, dass sich oftmals auf eine Anzahl ganz bestimmter Autoren als Quellengrundlage beschränkt wird. Es wird auf frühere Arbeiten oder Quellensammlungen zurückgegriffen, weshalb zum Teil Ergebnisse unsauberen historischen Arbeitens weitergegeben wurden“ (29). Ein besonderes Anliegen ist dem Verfasser die Prüfung der Frage, ob die, seiner Meinung nach, bislang vorherrschenden Sichtweisen, „die allein in Fröbel und seinem Konzept die Anfänge sehen und deshalb auch von einer gut 200-jährigen Bildungstradition bezüglich der öffentlichen Kleinkinderziehung in Deutschland sprechen, überhaupt der Vergangenheit gerecht werden oder wird diese nicht vielmehr geradezu verzerrt?“ (32).
Anliegen und Versprechen, die der Verfasser mit seiner Arbeit einlösen will, sind ambitioniert. „In einer Untersuchung, die nach den spezifischen Sprachen von Bildung und Erziehung in der Geschichte der öffentlichen Kleinkinderziehung fragt, liegt ein erweiterndes und neues Moment. […] Mit der hier vorgenommenen Untersuchung wird somit eine neue Perspektive auf die Geschichte der öffentlichen Kleinkinderziehung eingenommen, die bisherige Erkenntnisse aufgreift, zugleich jedoch weiterführt und um neue Aspekte und Einsichten ergänzt, die gerade für die aktuelle Diskussion von besonderem Belang sind“ (29). Zu diesem Zweck „werden alle relevanten und verfügbaren Monographien eines Autors im vollständigen Original verwendet und nicht allein auf exemplarische Texte zurückgegriffen. Auch dies stellt insofern eine Erweiterung bisheriger historischer Forschung auf diesem Gebiet dar, als die Vorstellungen einzelner Autoren (von Quellentexten, J. Re.) zumeist nicht in einem derart umfassenden Sinn berücksichtigt wurden, bedeutende Autoren und ihre Überlegungen oftmals keine Erwähnung finden. Alle Quellen werden dabei im Originallaut zitiert“ (30). Den „Hauptteil“ seiner „historischen Forschungsarbeit“ zur Geschichte der öffentlichen Kleinkinderziehung stellen „die Ideen, die Sprachen von Bildung und Erziehung in den Diskursen von Politik, Praxis und Theorie dar“ (30).
Neben der „Einleitung“ (9-32) und einem kurzen Schlusskapitel (451-465) besteht die Arbeit aus vier Hauptteilen. „I. Die Entstehung der öffentlichen Kleinkinderziehung (1800-1860er)“, (33-174); „II. Die Geschichte der öffentlichen Kleinkinderziehung im Deutschen Kaiserreich (1860er-1918)“, (175-300); „III. Die Geschichte der öffentlichen Kleinkinderziehung in Weimar (1918-1933)“, (301-404); „IV. Die Geschichte der öffentlichen Kleinkinderziehung im Nationalsozialismus (1933-1945)“, (405-450).
In der Einleitung wird der Leser nicht nur über den „Aufbau der eigenen Arbeit“ informiert, sondern auch über „Methoden und Probleme pädagogischer Historiographie“ überhaupt belehrt. Die folgenden Kapitel haben einen weithin gleichartigen Aufbau. Nach einem deskriptiven Teil, jeweils überschrieben mit „Die „Realität der Einrichtungen“, in dem über die „quantitative Entwicklung“, „Adressaten“, „Einrichtungstypen“, „Trägerschaft“, „Personalstruktur und Ausbildung des Personals“ sowie „Alltag in den Einrichtungen“ referiert wird, folgt ein umfangreicher Teil, der mit „Vorstellungen über Betreuung, Erziehung und Bildung in der öffentlichen Kleinkinderziehung“ im jeweilig behandelten Zeitraum überschrieben ist. Dieser Teil gliedert sich in drei Abschnitte. „Der politische Diskurs“, „Der praktische Diskurs“ und „Der theoretische Diskurs“. Dieser Teil der einzelnen Kapitel ist der weit umfangreichste, in den ersten beiden Kapiteln nimmt er jeweils etwa 100 Seiten ein. Jedes Kapitel wird mit einem „Fazit“ abgeschlossen.
Welche Erkenntnisse fördert Wasmuth nun mit seiner „neuen Perspektive“ zutage, und zwar Erkenntnisse, die als „Erweiterung bisheriger historischer Forschung“ gewertet werden können? Man muss feststellen, dass die Arbeit nichts enthält, was diesem Anspruch auch nur entfernt gerecht wird, nichts, was nicht schon längst in den einschlägigen Arbeiten zur Historiographie der öffentlichen Kleinkindererziehung zu lesen gewesen wäre. Weder beschränkt sich die seriöse Historiographie auf „eine Anzahl ganz bestimmter Autoren als Quellengrundlage“, wie Wasmuth insinuiert, und erst recht nicht sieht sie „allein in Fröbel und seinem Konzept die Anfänge“ öffentlicher Kleinkindererziehung. Die eingangs gestellte Frage, ob in der Geschichte „den vorschulischen Einrichtungen überhaupt eine allgemeine Bildungsfunktion zugesprochen“ wurde (21), ist keine Forschungsfrage, sondern eine plumpe Scheinfrage. Denn der Forschungsliteratur ist schon lange bekannt, dass von Seiten der Hauptträgerfraktionen, d.h. den konfessionellen Trägern, den Einrichtungen keine allgemeine Bildungsaufgabe, sondern nur eine familienergänzende Nothilfeaufgabe zugesprochen wurde. Wasmuth meint nun, der historischen Fachöffentlichkeit eben diesen Befund als Ergebnis seiner Untersuchung anbieten zu dürfen (z.B. 76). Welchen Erkenntniswert hat etwa die zusammenfassende Feststellung zum Ende des 1. Kapitels: „Diskursübergreifend gilt, dass der Bildungsbegriff von geringerer Bedeutung gewesen ist und verglichen mit dem Erziehungsbegriff auch weitaus weniger Verwendung gefunden hat. Vereinzelt finden sich synonyme Verwendungsweisen von Bildung und Erziehung. Gerade für den Bildungsbegriff ist jedoch festzuhalten, dass er zu Beginn der öffentlichen Kleinkinderziehung nicht systematisch oder einheitlich definiert verwendet wurde“ (169f). Eine solche Aussage macht, wenn überhaupt, nur Sinn, wenn dem eine sorgfältige Analyse der distinktiven Merkmale der Ausdrücke „Bildung“ und „Erziehung“ im zeitgenössischen Gebrauch vorausgegangen wäre, die aber fehlt. Überhaupt scheint dem Verfasser der Unterschied zwischen Ausdruck und Begriff unbekannt zu sein.
Wasmuth unternimmt auch gar nicht erst den Versuch, mit seinen Ergebnissen Anschlüsse an den Forschungsstand zu suchen oder mit ihm abzugleichen. Der sehr eigentümliche Umgang mit der Forschungsliteratur kündigte sich schon in der Einleitung an. Denn was da als Auseinandersetzung mit dem „Aktuellen Forschungsstand“ (27-29) ausgegeben wird, ist nichts weiter als die weder vollständige noch repräsentative Aufzählung einiger Schriften, die wenig über den Forschungsstand zur Geschichte der öffentlichen Kleinkinderziehung aussagt. Wichtige Schriften, unverzichtbar für eine seriöse Auseinandersetzung mit dem Forschungsstand, werden noch nicht einmal erwähnt (z.B.: Burkhard Müller: Öffentliche Kleinkinderziehung im Deutschen Kaiserreich, 1989; Leo Hermanutz: Vorschulische Erziehung in katholischer Trägerschaft, 1977). Mit Bezug auf die Zeit des Nationalsozialismus wird nur auf Manfred Bergers „mittlerweile auch schon ältere Arbeit“ verwiesen (28). Der Forschungsstand weist hier allerdings einiges mehr auf (z.B.: Rainer Bookhagen: Die evangelische Kinderpflege und die Innere Mission in der Zeit des Nationalsozialismus, Bd. I u. II, 1990/2002; Manfred Heinemann: Evangelische Kindergärten im Nationalsozialismus, 1980). Die Aufzählung und die abwertende Tendenz, mit der sie vorgenommen wird, hat vor allem einen Zweck – dem Leser die Überfälligkeit der Arbeit des Verfassers einzureden.
Wasmuth hat den Anspruch, gegenüber der gesamten bisherigen Forschungsliteratur wie auch gegenüber den vorliegenden Quelleneditionen ein „umfangreicheres Quellenmaterial“ vorzulegen (30). Die vorhandenen „Quellensammlungen“ böten „jeweils nur eine Auswahl von Texten in zumeist gekürzter Form“ (ebd.). Dem Verfasser scheint unbekannt zu sein, dass Auswahl und Kürzung von Quellentexten zum Editionsprinzip von Quellensammlungen gehören. Doch abgesehen davon kann seine Präsentation der Quellenliteratur wenig überzeugen. Weder erschließt er neue Quellensorten, noch gewinnt er den bekannten Quellen neue Informationen oder Sinngehalte ab. Stattdessen mutet er dem Fachpublikum eine ermüdende Aneinanderreihung von Bekanntem und Altbekanntem zu. Einmal mehr zeigt sich hier, dass sich die Dichte an Sinn, die man einem Text entlocken und zum Vorschein bringen kann, nicht einfach mit der Anzahl der Zitate erhöht, mit der man ihn wiedergibt.
Dem mit der Quellenliteratur einigermaßen vertrauten Leser wird die Willkürlichkeit bei der Quellenauswahl und –behandlung auffallen. Fröbels pädagogisches Hauptwerk „Die Menschenerziehung […]“ von 1826, immerhin eine Schrift, die als erste pädagogische Anthropologie der frühen Kindheit zu gelten hat, schließt Wasmuth als irrelevant aus seinen Überlegungen aus (117). Person und pädagogisches Werk von Wilhelmine Auguste Herz, eine der bedeutendsten Schülerinnen Fröbels, die in Dresden einen Kindergarten gründete und Kindergärtnerinnen ausbildete, scheinen dem Verfasser unbekannt zu sein. Die Beispiele ließen sich vermehren.
Wasmuths Unterscheidung zwischen einem „politischen“, „praktischen“ und „theoretischen Diskurs“, von ihm wohl als quellenaufschließende Differenzierung beabsichtigt, führt ihn in einen heillosen Wirrwarr von über weite Strecken sinnfreien Zuordnungen von Quellentexten zu diesen sog. „Diskursen“. Diskursanalyse geht anders. Man muss anerkennen, dass er schließlich selbst die Unsinnigkeit einer solchen Unterscheidung einsehen musste (451), – allerdings viel zu spät, nämlich als das Chaos schon angerichtet war.
Bei der Besprechung der „Quellengrundlage“ (29-30), in der Wasmuth den „bisherigen Arbeiten“ vorwirft, „zum Teil Ergebnisse unsauberen historischen Arbeitens weitergegeben zu haben“ (29), nennt er nur ein einziges Beispiel: die früher gelegentlich vorkommende Verwechslung des Vornamens des Darmstädter Kleinkinderschulgründers Fölsing (Julius statt Johannes). Wer dies zum Anlass für eine so weitgehende Abwertung der Quellengrundlage bisheriger Forschung nimmt, muss sich Vorhaltungen gefallen lassen. So wird Rudolstadt, die Thüringer Residenzstadt, in der auf Einladung u.a. Friedrich Fröbels 1848 die für die Geschichte der öffentlichen Kleinkinderziehung bedeutsame „Rudolstädter Lehrerversammlung“ stattfand (ca. 300 Teilnehmer, darunter auch zahlreiche Kindergärtnerinnen), als „Rudolfstadt“ verfälscht (10, 71). Oder da wird Erika Hoffmann, eine für die Geschichte wie für die Geschichtsschreibung der öffentlichen Kleinkindererziehung so bedeutsame Persönlichkeit, nicht nur einmal als Erika Hoffman wiedergegeben.
Wenn nun der Schrift schon kein Erkenntniswert abzugewinnen ist, hat sie vielleicht einen anderweitigen Nutzwert? Mit einigem Wohlwollen wird man der „historischen Forschungsarbeit“ den Wert einer kommentierten Quellensichtung zusprechen können. Doch für einen solchen Verwendungszweck hat sie wegen des fehlenden Zugangsapparats (Namens- und Stichwortregister, rein formales Inhaltsverzeichnis) nur geringen Nutzwert. Wer will sich schon den Tort antun und, etwa auf der Suche nach Johannes Fölsing, bis Seite 143 blättern, um schließlich fündig zu werden?
Die Schrift von Helge Wasmuth ist überflüssig und ärgerlich. Überflüssig, weil sie nicht zur Fortentwicklung der historischen Forschung in der öffentlichen Kleinkinderziehung beiträgt; ärgerlich, weil sie dazu geeignet ist, die noch junge Teildisziplin „Pädagogik der frühen Kindheit“ in der Außenwahrnehmung zu diskreditieren.
EWR 11 (2012), Nr. 2 (März/April)
Kindertageseinrichtungen als Bildungseinrichtungen
Zur Bedeutung von Bildung und Erziehung in der Geschichte der öffentlichen Kleinkinderziehung in Deutschland bis 1945
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2011
(488 S.; ISBN 978-3-7815-1809-4; 39,90 EUR)
JĂĽrgen Reyer (Erfurt)
Zur Zitierweise der Rezension:
JĂĽrgen Reyer: Rezension von: Wasmuth, Helge: Kindertageseinrichtungen als Bildungseinrichtungen, Zur Bedeutung von Bildung und Erziehung in der Geschichte der öffentlichen Kleinkinderziehung in Deutschland bis 1945. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2011. In: EWR 11 (2012), Nr. 2 (Veröffentlicht am 10.04.2012), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978378151809.html
JĂĽrgen Reyer: Rezension von: Wasmuth, Helge: Kindertageseinrichtungen als Bildungseinrichtungen, Zur Bedeutung von Bildung und Erziehung in der Geschichte der öffentlichen Kleinkinderziehung in Deutschland bis 1945. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2011. In: EWR 11 (2012), Nr. 2 (Veröffentlicht am 10.04.2012), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978378151809.html