EWR 11 (2012), Nr. 6 (November/Dezember)

Bettina Amrhein
Inklusion in der Sekundarstufe
Eine empirische Analyse
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2011
(318 S.; ISBN 978-3-7815-1826-1; 32,00 EUR)
Inklusion in der Sekundarstufe Die Monografie „Inklusion in der Sekundarstufe“ von Bettina Amrhein umfasst die Dokumentation einer empirischen Studie, die die Autorin an der Universität Köln als Dissertation eingereicht hat. Amrhein führt vor dem Hintergrund persönlicher Erfahrungen als nordrhein-westfälische Regelschullehrerin aus dem Gemeinsamen Unterricht von Schüler/innen mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf [GU] in die Thematik der Beurteilung schulischer Inklusion in der Sekundarstufe durch Lehrkräfte ein, und versucht sich der Frage zu nähern, „worin die [...] Schwierigkeiten begründet sind, den in der Primarstufe sehr erfolgreich implementierten GU in Weiterführende Schulen zu implementieren“ (11).

Dabei stehen folgende Fragen im Fokus: wie unterscheiden sich Lehrer/innen, die nicht im GU tätig sind, und Lehrer/innen, die im GU tätig sind, hinsichtlich der Implementation von GU; welche Rekontextualisierungsprozesse resultieren aus der Implementation; lassen sich diesbezüglich Veränderungen nach einem Schuljahr feststellen? Dabei interessieren Amrhein insbesondere die Haltungen und Einstellungen der Akteure, denen sie in Schul- und Unterrichtsentwicklungsprozessen eine große Bedeutung zuspricht.

Im ersten der acht Kapitel wird der Anlass der Untersuchung erläutert und die Strukturierung der Monografie dargestellt. Es folgt im zweiten Kapitel eine Begriffsbestimmung im Kontext der Entwicklung des Integrations- bzw. Inklusionskonzeptes. Im dritten Kapitel wird der Forschungsstand zur Beurteilung des Gemeinsamen Unterrichts bzw. der Integration von Schüler/innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf durch Lehrer/innen referiert. Die theoretischen Grundlagen der Untersuchung werden im vierten Kapitel anhand von Schulentwicklungstheorien dargestellt. Insbesondere bezieht sich die Autorin dabei auf die „Neue Theorie der Schule“ von Helmut Fend.

Im darauf folgenden Kapitel werden das Forschungsdesign dargestellt und die Untersuchungsinstrumente sowie der -ablauf erläutert. Die Autorin stützt sich auf die quantitative Befragung von 262 Lehrer/innen sowie neun Schulleiter/innen, die zweimal befragt wurden, und deren Schulen sich in einem solchen Implementationsprozess befanden. Die Stichprobengewinnung erfolgte über eine systematische Erhebung der Schulen, die im Regierungsbezirk Düsseldorf zum Schuljahr 2005/2006 mit einer Integrativen Lerngruppe begonnen hatten. Die Stichprobe umfasst damit zwölf Schulen mit 431 Lehrer/innen. Die Studie hatte einen Rücklauf von 61 Prozent. Mit Hilfe von Fragebögen und Experteninterviews mit Schulleitungen und Teams der Integrativen Lerngruppen wurden die entsprechenden Bewertungen sowie die Veränderungen nach der Implementation von Integrativen Lerngruppen erhoben. Mit einer so breiten Datenbasis kann sonst kaum eine Studie bezüglich Gemeinsamen Unterrichts in der Sekundarstufe aufwarten.

Der Fragebogen ist einer Studie von Dieter Dumke [1] entnommen und nach einer Pilotierung modifiziert worden. Die Wiederverwendung dieses relativ alten Verfahrens weist den Vorteil auf, dass die Ergebnisse von Bettina Amrhein mit denen von Dumke vergleichbar sind und so ein möglicher Wandel nachgezeichnet werden könnte. Eine Ergänzung um weitere Items wie z.B. aus der Scale of Teachers’ Attitudes Toward Inclusive Classrooms [2] wäre wünschenswert gewesen.

Im sechsten Kapitel erfolgt die Auswertung und Interpretation der Untersuchungsergebnisse. Dabei ist ein zentraler Befund der quantitativen Studie, dass Lehrer/innen, die sich für den GU entschieden haben, signifikant positivere Einstellungen zum GU haben als Lehrer/innen, die nicht im GU arbeiten werden. Die Unterschiede bleiben auch nach der Implementation von GU an den jeweiligen Schulen vorhanden. Allerdings bewerten beide Lehrergruppen GU positiver. Die Bereitschaft zur Arbeit im GU nimmt jedoch bei den nicht im GU tätigen Lehrer/innen signifikant ab.

Die Ergebnisse der qualitativen Befragung bestätigen die Befunde der quantitativen Studie und deuten an, dass die Schulleitungen eine Mediationsfunktion zwischen Vorgaben der Schuladministration und den Einstellungen der Lehrer/innen einnehmen. Dabei gelte es mit Ablehnungshaltungen und dem Gefühl mangelnder Unterstützung durch die Schuladministration umzugehen. Dieses Problem löse die Schulleitung durch die Freiwilligkeit der Implementation von GU.

Leider werden diese interessanten Befunde nicht in die zweite quantitative Erhebung aufgenommen, sodass die Erkenntnisse nur als Illustrationen dafür geeignet sind, wie Rekontextualisierungsprozesse abläufen können, die sich aber nur auf Einzelfälle beziehen.

Anhand der Beschreibung von Rekontextualisierungsprozessen auf den verschiedenen Ebenen vom Erlass zu dessen Umsetzung, versucht Amrhein „Wissen über das System“ aus dem „Wissen im System“ zu gewinnen. Lehrer/innen komme demnach großer Handlungsspielraum zu, da sie neben der institutionellen Bezugsnorm individuelle Akteure seien. Irreführend erscheint hier der Begriff des „Wissens im System“, denn das Konzept Wissen beinhaltet nicht die Bewertung eines Sachverhalts, sondern lediglich die Informiertheit über einen Sachverhalt. Lediglich für die qualitativen Teilstudien erscheint der Begriff Wissen geeignet.

Im letzten Kapitel werden die Konsequenzen der durchgeführten Studie dargestellt. Diese seien auf schuladministrativer Ebene die konsequente, vollständige Umsetzung von Inklusion unter Berücksichtigung von möglichen Rekontextualisierungprozessen, auf Schulentwicklungsebene das Einleiten von Entwicklungsprozessen und auf der Ebene der Schulforschung eine Stärkung der Praxisrelevanz von Forschung.

Fazit:
In der Darstellung des Forschungsstandes zum Thema der Beurteilung der Integration oder Inklusion durch Lehrkräfte kommt Amrhein leider nicht über eine summative Darstellung verschiedener Studien hinaus. Zudem werden neuere, internationale Forschungsergebnisse zu wenig berücksichtigt. Darüber hinaus bezieht sie sich im Wesentlichen auf die „Neue Theorie der Schule“ von Helmut Fend und kombiniert diese mit der Schulentwicklungstheorie von Hans-Günter Rolff ohne relevante Theorien der Sozialpsychologie einzubeziehen.

So wäre z.B. mit Festingers Dissonanztheorie [3] das Verhältnis zwischen Handlungen und Einstellungen geeigneter zu bestimmen und das Missverständnis auszuräumen, dass die Sozialpsychologie nicht die situativen bzw. systemischen Bedingungen in die Konzeptionalisierung von Einstellungen einbezieht. Die Dissonanztheorie von Festinger bestimmt das Verhältnis von Einstellungen und Handlungen so, dass die Tendenz besteht, eine Konsonanz, also eine Stimmigkeit, von Einstellungen und Handlungen herzustellen. Dabei stellen die Handlungen das beharrliche Moment dar, sodass auf Grund veränderter Handlungen auch Einstellungen angepasst werden würden oder entsprechende Kognitionen hinzugefügt werden, sodass die Konsonanz von Einstellungen und Handlungen wieder vorhanden ist.

Die Dissertation von Bettina Amrhein bringt interessante Erkenntnisse ĂĽber die EinfĂĽhrung von integrativen Lerngruppen in der Sekundarstufe hervor. Es bedarf allerdings noch weiterer Untersuchungen in diesem Bereich, um zu ĂĽberprĂĽfen, inwieweit sich die Erkenntnisse generalisieren lassen, und in welchem MaĂźe die Einstellungen der Lehrer/innen Einfluss auf das Handeln in Unterricht und Schule haben.

Die von Bettina Amrhein beschriebenen Rekontextualisierungsprozesse sind dabei Bezugspunkt fĂĽr die angesprochenen Zielgruppen der Bildungsadministration, Schulentwicklung und Schulforschung. Bedeutsame Erkenntnisse fĂĽr Lehrer/innen, die sich vor allem auf unterrichtliches Handeln beziehen, erschlieĂźen sich leider nur bedingt.

[1] Dumke, D.: Schulische Integration in der Beurteilung von Eltern und Lehrern. Weinheim: Dt. Studien-Verlag 1989.
[2] Cochran, H. K.: Differences in Teachers’ Attitudes toward Inclusive Education as Measured by The Scale of Teachers’ Attitudes toward Inclusive Classrooms (STATIC). Paper presented at the annual meeting of the Mid-Western Educational Research Association, Chicago, IL: 1998.
[3] Festinger, L.: A Theory of Cognitive Dissonance. Stanford, CA: Stanford University Press 1957.
Thorben Lahtz (Hannover)
Zur Zitierweise der Rezension:
Thorben Lahtz: Rezension von: Amrhein, Bettina: Inklusion in der Sekundarstufe, Eine empirische Analyse. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2011. In: EWR 11 (2012), Nr. 6 (Veröffentlicht am 28.11.2012), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978378151826.html