PISA 2000 hat für die zweite empirische Wende eine initiale und, was die Etablierung des dem angelsächsischen Literalitätskonzept entlehnten Kompetenzbegriffs angeht, zugleich normsetzende Bedeutung. Dieser Kompetenzbegriff ist nicht nur Teil der Krisenbeschreibung des deutschen Bildungssystems, sondern ebenso Teil der Entwicklung von zu ihrer Beseitigung ersonnenen bildungspolitischen „Lösungen“, etwa den Bildungsstandards. Die im vorliegenden Band versammelten Beiträge treten mit dem Ziel der Einordnung und Bewertung dieser neuen empirischen Wendung an. Susanne Lin-Klitzing stellt die Beiträge im Rahmen ihrer Einführung in den Sammelband ausführlich vor. Die Rezension unternimmt daher (nur) den Versuch, die Einzelbeiträge in ihrem Bezug auf aus Sicht des Rezensenten drei zentrale Diskurslinien – die sich nicht als Konkurrenz zur Gliederung des Bands verstehen – vorzustellen.
Eine erste Diskurslinie verläuft entlang der Bewertung der bildungstheoretischen Fundierung des Kompetenzbegriffs. Eckhart Klieme stellt in diesem Zusammenhang das Rahmenkonzept der PISA-Studie für die Lesekompetenz, welche als Fähigkeit zum eigenständigen Umgang mit Texten als Grundlage der Entwicklung eigener Potenziale und gesellschaftlicher Teilhabechancen definiert wird, als „durchaus kompatibel mit anspruchsvollen Bildungskonzepten“ (41) heraus. Die Erfassung allgemeiner Problemlösekompetenzen sowie fächerübergreifender Kompetenzen ermögliche zudem, so argumentiert Wolfgang Schneider, das individuelle Vermögen zur reflektierten Gestaltung der eigenen Lernprozesse – und damit Komponenten „klassischer Bildungsideale“ (80) Humboldtscher Prägung – empirisch abzubilden.
Eben jenes bildungstheoretische Fundament des Kompetenzbegriffs wird indes in den Beiträgen Thomas Jahnkes, Andreas Gruschkas und Wolfram Meyerhöfers grundlegend in Frage gestellt. Während Jahnke die inhaltliche Ausrichtung der Kompetenzen auf ihren funktionalen Gebrauchswert für den Arbeitsmarkt moniert, entzündet sich Gruschkas Kritik an den Auswirkungen der Kompetenzorientierung im unterrichtlichen Handeln. Aus dieser folge, dass SchülerInnen der Zugang zu einer Heuristik des Lernens allzu oft verwehrt werde, die in autonomen Suchbewegungen ausgehend von der Beschaffenheit des Problems besteht. Stattdessen werde eine Heuristik des „schematischen Verhaltens“ (173) im Sinne eines (Wieder-)Auffindens und (Wieder-)Anwendens von mehr oder weniger offensichtlich im Problem(kon)text versteckten Lösungen gelehrt, die zu einer Gewöhnung an gängige Formate von Testaufgaben – und darüberhinaus, folgt man wiederum Jahnke, zu einer artifiziellen Verbesserung von Ergebnissen in Leistungsstudien – führe. Einer ähnlichen Richtung folgt Meyerhöfers Analyse von Mathematikaufgaben eines Bildungsstandard-Beispiel-Buchs. Er kommt zu dem Schluss, dass eine kritische Auseinandersetzung mit dem Bildungsgegenstand im Sinne des „Versammelns von Argumenten für und wider das Erarbeitete“ (197) hier nur in Form einer „gegen die Aufgabe“ (193) gerichteten Bearbeitungsweise möglich ist. Meyerhöfer und Gruschka behaupten also nichts Geringeres, als dass die an die Einführung der Bildungsstandards gekoppelte Testorientierung schulische Lernprozesse unwahrscheinlich(er) macht, weil nicht mehr über die Aneignung von Basiskompetenzen zur Entfaltung individueller Lernpotenziale hinaus eine symbolisch-gegenständliche Erschließung von Kultur im Sinne eines integrierten Systems unterschiedlicher Modi der Weltbetrachtung (gesichert) vollzogen werde. Diese Integrationsaufgabe könne Schule, so schreibt Susanne Lin-Klitzing in ihrer Einleitung, tatsächlich nur auf der Grundlage einer Orientierung an übergeordneten Bildungszielen, wie sie etwa Klafki entwarf, erfüllen.
Einen methodenkritischen Akzent verleiht Hans-Karl Jongebloeds der Kritik am Kompetenzbegriff. Mit dem Kompetenzkonzept sei der Bildungsbegriff weder von seiner geisteswissenschaftlich-hermeneutischen Tradition emanzipiert worden, noch sei es gelungen – wie das Beispiel der Bildungsstandards zeige –, seine normative Substanz mit der Welt der Erfahrungstatsachen so zu verbinden, dass die Ergebnisse solcher Forschung hinreichend über die Verwirklichung von Bildungszielen informieren. Letzteres setzte voraus, dass die Kriterien zur Überprüfung des Bildungsstands entgegen der bisherigen Praxis „explizit empirisch“ (102) gewonnen werden.
Die methodenkritische Auseinandersetzung mit dem Kompetenzkonzept ist Teil einer zweiten Diskurslinie des Sammelbands, für die Volker Ladenthins Beitrag stellvertretend besprochen wird. Ladenthin beanstandet die unzureichende Berücksichtigung methodologisch begründeter Geltungsbeschränkungen der quantitativen Forschung im Rahmen ihrer Auslegung von PISA-Befunden. Zu diesen Einschränkungen zähle, dass quantitative Messungen auf der Ebene der Indikatoren der (vorgängigen) theoriegeleiteten Festlegung des zu Messenden bedürfen. Solche Empirie könne folglich „immer nur das finden, was vorausgesetzt wird“ (62). Bei aller berechtigten Mahnung liest sich dieser Vorwurf allzu radikal. Aus Sicht des Rezensenten würde eine um Objektivität bemühte Methodenkritik offenlegen müssen, inwiefern anderen Erkenntnisgewinnungsstrategien ein besserer Umgang mit sich im Zuge der Überführung von Erfahrungstatsachen in Theoriesprache ergebenden Verfremdungseffekten gelingt. Darüber hinaus wäre zu erörtern, inwiefern quantitative Forschung in ihrem Bemühen, sich vor unzulässigen Verallgemeinerungen ihrer Beobachtungen durch eine dezidiert falsifizierende Prüfung zu schützen, nicht doch Wege aus der unterstellten Zirkularität finden kann. Ladenthins weitere Kritik enthält u. a. die Mahnung, sich gegenüber Versuchen, Veränderungsmaßnahmen im Bildungsbereich bruchlos aus PISA-Befunden abzuleiten, enthaltsam zu zeigen. Eine solchermaßen „testresultatgesteuerte[] Bildungspolitik“ (89), wie Jahnke sie nennt, sei auch deshalb abzulehnen, weil sich bestimmte pädagogische Forschungsgegenstände – nach Ladenthin sind dies, aufgrund ihres Eigensinns, Erziehungsziele wie Selbstbestimmung, nach Jongebloed komplexe und dynamische unterrichtliche Praxen – einer Quantifizierung teilweise oder vollständig entziehen würden.
Die hieran anknüpfende Frage nach angemessenen Formen der Zusammenarbeit zwischen empirischer Berichterstattung und Bildungspolitik eröffnet eine dritte Diskurslinie des Sammelbands. Die Einschätzungen der Autoren gehen vor allem in der Frage auseinander, ob bzw. inwiefern die gelebten Formen der Arbeitsteilung die institutionelle Eigenlogik von Politik und Empirie untergraben und damit einer autonom-kooperativen Aufgabenerfüllung entgegenstehen. Heinz-Peter Meidingers Bewertung des vielfältigen Nebeneinanders von in Reaktion auf den PISA-Schock ins Leben gerufenen Programmen und Strukturmaßnahmen als Ausdruck eines „bildungspolitischen Aktionismus“ (24) liegt das Deutungsmuster eines Kontrollverlusts seitens der Politik zugrunde.
Aus der Perspektive eines empirischen Berichterstatters, des IQB, weisen Petra Stanat et al. in ihrem Beitrag allfällige Ansprüche an eine politikvorbereitende Problemanalyse mit dem Hinweis zurück, dass das Design der Vergleichsstudien die für Ursachenforschung notwendige Durchdringungstiefe unterrichtlicher Praxis schlicht nicht erreiche. Gleichwohl lieferten die Daten wichtige Erkenntnisse über die Leistungsfähigkeit des Gesamtsystems, die allerdings (nur) im Verein mit „Untersuchungen zur Unterrichtsqualität, Interventionsstudien […] oder Analysen zur Gestaltung effektiver Weiterbildung von Lehrkräften“ (140) bildungspolitische Maßnahmen legitimieren könnten.
Gabriele Behler skizziert in ihrem Beitrag beidseitige „Grenzüberschreitungen“ (115), aus denen Formen der Ko-Abhängigkeit zwischen Politik und Forschung resultierten. So würden politische Entscheidungsträger die PISA-Ergebnisse zur Legitimation von aus eben dieser Faktenlage nicht ableitbaren Entscheidungen, etwa den Rückbau der Mehrgliedrigkeit des Schulsystems, missbrauchen. Umgekehrt bestehe die Gefahr der indirekten Auswahl politisch opportuner Forschungsprojekte über öffentliche Anreizstrukturen (Fördermittel), wenn wissenschaftliche Akteure dazu übergehen Untersuchungen zu planen, die „das gewollte Ergebnis mit hoher Wahrscheinlichkeit liefern können“ (119).
Nicht unterschlagen werden soll in dieser Besprechung der Beitrag von Andreas Helmke et al., der querstehend zu den besprochenen Diskurssträngen den diagnostischen Werkzeugkoffer EMU behandelt, den Lehrkräfte zur Selbst- und Fremdbeobachtung entlang fachübergreifender Merkmale guten Unterrichts nutzen können.
Insgesamt bietet der Sammelband der Leserschaft einen breiten Einblick in das Themenfeld der Schulleistungsmessung. Er erschließt es ihr darüber hinaus in einer Weise, die eine eigenständige und überaus bildsame Auseinandersetzung mit einzelnen Themenschwerpunkten nicht nur fördert, sondern – aufgrund der Unabhängigkeit der Beiträge – auch fordert. Insbesondere aus der Sicht von Einsteigern in die Thematik wäre es wünschenswert, die konträren Perspektiven, die der Band eröffnet, bei künftigen Veröffentlichungen in einen direkten Dialog zu bringen.
EWR 14 (2015), Nr. 3 (Mai/Juni)
Zur Vermessung von Schule
Empirische Bildungsforschung und Schulpraxis
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2013
(208 S.; ISBN 978-3-7815-1938-1; 17,90 EUR)
Oliver Hormann (Braunschweig)
Zur Zitierweise der Rezension:
Oliver Hormann: Rezension von: Lin-Klitzing, Susanne / Fuccia, David Di / MĂĽller-Frerich, Gerhard (Hg.): Zur Vermessung von Schule, Empirische Bildungsforschung und Schulpraxis. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2013. In: EWR 14 (2015), Nr. 3 (Veröffentlicht am 11.06.2015), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978378151938.html
Oliver Hormann: Rezension von: Lin-Klitzing, Susanne / Fuccia, David Di / MĂĽller-Frerich, Gerhard (Hg.): Zur Vermessung von Schule, Empirische Bildungsforschung und Schulpraxis. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2013. In: EWR 14 (2015), Nr. 3 (Veröffentlicht am 11.06.2015), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978378151938.html