EWR 14 (2015), Nr. 2 (März/April)

Peter Sehrbrock / Andrea Erdélyi / Sina Gand (Hrsg.)
Internationale und Vergleichende Heil- und Sonderpädagogik und Inklusion
Individualität und Gemeinschaft als Prinzipien Internationaler Heil- und Sonderpädagogik
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2013
(199 S.; ISBN 978-3-7815-1944-2; 18,90 EUR)
Internationale und Vergleichende Heil- und Sonderpädagogik und Inklusion Das vorliegende Sammelwerk entstand als Tagungsband zum 5. Symposium „Internationale Heil- und Sonderpädagogik“ an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, das das Thema Inklusion / Inclusive Education aus einer Vielzahl unterschiedlicher, v. a. landesspezifischer Perspektiven betrachtete. Im Zentrum der Tagung wie auch des hier rezensierten Bandes steht der Anspruch, die durch die UN-Konvention erfolgte Fokussierung der heil- und sonderpädagogischen Fachdebatte auf schulische Inklusion (Art. 24) durch eine auf die gesamte Lebensspanne bezogene Auswahl an Betrachtungsperspektiven und Themen zu erweitern. Die Beiträge rücken das Individuum ins Zentrum und diskutieren (internationale) Möglichkeiten und Herausforderungen für Teilhabe in der Gemeinschaft – unter besonderer Berücksichtigung von Menschen mit erhöhtem Unterstützungsbedarf. Unter der Herausgeberschaft von Peter Sehrbrock, Andrea Erdélyi und Sina Gand, die einleitend die Motive und Entstehungshintergründe des Buches erläutern, sind in diesem Band 22 Beiträge enthalten, die Einblick in den Fachdiskurs zur internationalen und vergleichenden Heil- und Sonderpädagogik geben. Eine grobe Rahmung erfährt das Buch durch die Einteilung in drei übergeordnete Themenbereiche. Zunächst werden „Aktuelle Fragen zur Inklusion und Diversity im internationalen Kontext“ diskutiert. Eine Schwerpunktsetzung wird daraufhin vorgenommen, indem Beiträge zur „Aktuellen Entwicklung in der Ausbildung von Fachleuten im internationalen Kontext“ gruppiert werden, um in einem dritten Teil „Aktuelle Entwicklungen in ausgewählten Ländern“ zu präsentieren. Im Folgenden werden kurze exemplarische Einblicke in ausgewählte Artikel des Sammelwerkes gegeben und es wird nachfolgend eine Gesamtdiskussion der Publikation skizziert.

Ein einleitender Beitrag von Max Kreuzer und Mandy Herrmann diskutiert zunächst die Konzepte der „Inclusive Education“ und der „Diversity Education“, die im Fachdiskurs inzwischen sehr beieinander liegen, da sie den nicht-stigmatisierenden und wertschätzenden Umgang mit Vielfalt ins Zentrum rücken – herrührend aus unterschiedlichen Fachperspektiven (Behinderung, Gender, Kultur, Migration). Den Synergien, die diese gemeinsamen Betrachtungsweisen beinhalten, stehen jedoch ebenso divergierende Tendenzen gegenüber, insbesondere durch die stark organisatorisch (und bisweilen ökonomisch) ausgerichteten Konzepte des ‚Diversity Managements’, die Gefahr laufen, Kategorien nicht zu dekategorisieren, sondern letztlich zu reproduzieren.

Im von Tobias Buchner und Gottfried Biewer beschriebenen Forschungsprojekt „Quali-TYDES“ werden das Forschungsdesign und einige Zwischenergebnisse aus dem im Bereich der Lebenslaufforschung angesiedelten Projekts präsentiert. Das Kooperationsprojekt mit Partnerinnen und Partnern aus Österreich, Irland, Spanien und der Tschechischen Republik untersucht die „Wirkung von Makrostrukturen auf die Leben von jungen Erwachsenen mit einer Behinderung“ (30). Erste Ergebnisse aus qualitativen Interviews erhärten dabei die Hypothese, dass in allen Partnerländern institutionelle Aussonderung eine Reihe von Exklusionsmechanismen und letztlich eine sukzessive „Exklusionskarriere“ (35) nach sich zieht und eine „Kanalisierung in Richtung Exklusion“ (36) evoziert.

Der Beitrag von Peter Sehrbrock beschäftigt sich mit der Beziehung von Gemeinschaft und Individuum. Er rekurriert dabei auf die Schwarzafrikanische Ethik nach Bénezet Bujo (2000) [1], die in ihrem Kern impliziert, dass Gemeinschaft ein Konstrukt ist, das alle miteinschließt, die Noch-nicht-Geborenen, die Lebenden und auch die Verstorbenen. Sie ist also tridimensional. Der Status der Personwerdung geschieht dabei in der Gemeinschaft, und ein Mensch handelt umso wirksamer, desto solidarischer er bzw. sie handelt.

Eine Perspektive auf Hochschulpädagogik bringen Ulrike Schütte und Ulrike M. Lüdtke in ihrem Artikel ein, der die Implementierung eines Masterstudiengangs „Speech and Language Pathology“ in Tansania skizziert. Sie beschreiben zum einen die schulischen Veränderungen in Tansania, die im Anschluss an die Ratifikation der UN-Behindertenrechtskonvention vorgenommen werden. Diese umfassen eine stärkere Fokussierung auf Sonderpädagogik als inhärenten Bestandteil von Hochschulcurricula. Durch den anvisierten Master in „Speech and Language Pathology“ soll den Bedürfnissen der Kinder gleichgekommen werden. Dabei reflektieren die Autorinnen und Autoren sehr eindrücklich die Notwendigkeit eines kultursensiblen und interkulturellen Vorgehens, welches die präsente Gefahr einer ethnozentristischen und westlich geprägten Perspektive ständig reflektiert.

Thomas Barow regt in seinem Beitrag eine kritische Diskussion des oftmals als Vorbild für Inklusion herangezogenen, skandinavischen Landes Schweden an. Seine geäußerten Zweifel nähren sich zum einen aus den schwer zu leistenden Rückschlüssen der PISA und TIMS-Studien auf das Zustandekommen jener Leistungen und des Weiteren aus undifferenzierten Länderdarstellungen durch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die kurze Studienaufenthalte für verzerrte Best-Practice-Beiträge nutzten (133). Er postuliert eine differenzierte Innenansicht des schwedischen Bildungssystems, mit seinen Vorzügen, aber auch Schwächen hinsichtlich noch immer vorherrschender Exklusionsmechanismen wie z. B. die hohe Mobbingrate an schwedischen Schulen (137).

Die Vielschichtigkeit und Komplexität des Forschungsgegenstandes der Internationalen und Vergleichenden Heil- und Sonderpädagogik unter Berücksichtigung von Inklusion zeigt sich in der Pluralität der Zugänge und Perspektiven, wie sie in diesem Sammelband vereint sind. Auf relativ geringem Raum werden Forschungsergebnisse und Eindrücke aus Projekten, universitären Kooperationen, Exkursionen oder Zwischenstände von Qualifikationsarbeiten präsentiert und diskutiert. Sie bringen zum Ausdruck, dass internationale Vergleiche verschiedenste methodologisch-methodische wie organisatorische Zugangsformen besitzen können.

Wenngleich eine vertiefte respektive übergeordnete theoretische wie methodologische Diskussion in diesem Sammelband nicht geleistet werden kann, fächern die Beiträge ein Spektrum unterschiedlicher Entwicklungslinien auf, die national-politischer, kultureller, sozialer wie ökonomischer Einflüsse unterworfen sind und nicht isoliert von diesen betrachtet werden können – wie dies bisweilen international vergleichende Studien wie PISA etc. suggerieren.

Daher lautet der Grundtenor des Werkes, dass eine ethnographische Perspektive notwendig für eine international vergleichende Heil- und Sonderpädagogik / Inklusionspädagogik sei und verstärkt in die Fachdiskussion eingebracht werden sollte, um empirische Analysen aus der „Innenperspektive“ (135) zu ermöglichen – in diesem Tagungsband mit dem Fokus auf Individualität und Gemeinschaft. Insbesondere im noch immer hegemonial angelegten Diskurs einer scheinbar übergeordneten westlichen Perspektive gilt es auf international vergleichender Ebene sensibel zu sein und eine ständige Reflexion ethnozentristischer Forschungsperspektiven anzustoßen: Was ist westlich – wie wird Denken über andere Länder aus der Forschendenperspektive konstruiert? (107) Nur so können gewinnbringende internationale Impulse für ein verändertes Verständnis einer Heil- und Sonderpädagogik, die sich zunehmend in einem Transformationsprozess unter den Vorzeichen von Inklusion befindet, erarbeitet werden.

[1] Bujo, B.: Wider den Universalanspruch westlicher Moral. Grundlagen afrikanischer Ethik. Freiburg, Basel, Wien: Verlag Herder 2000.
Andreas Köpfer (Basel)
Zur Zitierweise der Rezension:
Andreas Köpfer: Rezension von: Sehrbrock, Peter / Erdélyi, Andrea / Gand, Sina (Hg.): Internationale und Vergleichende Heil- und Sonderpädagogik und Inklusion, Individualität und Gemeinschaft als Prinzipien Internationaler Heil- und Sonderpädagogik. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2013. In: EWR 14 (2015), Nr. 2 (Veröffentlicht am 08.04.2015), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978378151944.html