EWR 15 (2016), Nr. 4 (Juli/August)

Dagmar Hänsel
Sonderschullehrerausbildung im Nationalsozialismus
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2014
(279 S.; ISBN 978-3-7815-1990-9; 19,90 EUR)
Sonderschullehrerausbildung im Nationalsozialismus Die aktuellen Debatten um Inklusion, um die Sonderpädagogik, um den Anspruch der Dekategorisierung und die Schwerpunkte inklusionsbezogener Professionalisierung verzichten häufig auf einen Blick in die Vergangenheit und die den aktuellen Diskussionen vorausgegangenen Entwicklungen. Nicht nur aus diesem Grund ist die Studie von Dagmar Hänsel zu begrüßen, die neben der Einbettung historischer Forschung in aktuelle Problemstellungen auch einen der eher selteneren Beiträge zur sonderpädagogischen Geschichtsschreibung leistet und zudem die Notwendigkeit und Ergiebigkeit von Archiv- und Quellenarbeit vor Augen führt.

Mit ihrem aktuellen Buch geht Dagmar Hänsel – nach eigenem Verständnis – erneut auf ideologiekritische Mythenjagd und knüpft damit an eigene Arbeiten zur Sonderpädagogik im Nationalsozialismus und zur sonderpädagogischen Geschichtsschreibung an [1], in denen sie die NS-Zeit als Konstituierungs- und Profilierungsphase der Sonderpädagogik rekonstruiert und vor allem Kontinuitäten vor 1933 und nach 1945 darstellt – so auch im vorliegenden Buch. Auf der Basis umfassender Quellenanalyse soll erstmalig die Sonderschullehrerausbildung im Nationalsozialismus kritisch rekonstruiert werden und zwar nicht aus der Binnenperspektive der Sonderpädagogik, sondern aus einer „externen“ Perspektive – Hänsel justiert hier einen erziehungswissenschaftlichen Blickwinkel als in Opposition zur Sonderpädagogik stehend.

Die Autorin gliedert ihre historische Studie in drei Teile: Der erste Teil (15-56) ist mit „Die Anfänge der Sonderschullehrerausbildung“ überschrieben und liefert eine Bestandsaufnahme der heilpädagogischen Ausbildung von der Gründung des Verbands der Hilfsschulen Deutschlands im Jahr 1898 bis zum Ende der Weimarer Republik. Er dient als Einleitung für den zweiten, zentralen und umfangreichsten Teil (59-202), der sich der Rekonstruktion der Sonderschullehrerausbildung im Nationalsozialismus widmet. Die Frage zu den „Kontinuitäten nach 1945“ im dritten Teil (205-256) wird im abschließenden Kapitel (257-266) als historischer Zusammenhang rekonstruiert.

Hauptteil des vorliegenden Werkes ist der zweite Teil unter dem Titel „Entwicklungen im Nationalsozialismus“. Das Kapitel beginnt mit der Vorstellung „bedeutsame[r] reichsweite[r] Einrichtungen“. Betrachtet werden die „Reichsfachschaft V Sonderschulen im Nationalsozialistischen Lehrerbund“ sowie deren Denkschriften mit dem Titel „Sonderschulen zur Sondererziehung“, das Reichskultusministerium im Spiegel von Berichten seiner Sonderschulreferenten sowie die Taubstummenanstalt in Berlin als reichsweite Ausbildungsstätte. Im Anschluss werden die „Pläne der Reichsfachschaft V Sonderschulen zur gemeinsamen Sonderschullehrerausbildung“ rekonstruiert; hier insbesondere der Studienplan des Gauverbands Sachsen von 1933, die Richtlinien der Reichsfachschaft V Sonderschulen von 1935 und die „Allgemeinen Anregungen“ derselben Fachschaft von 1936. Die Kapitel 3 und 4 des zweiten Teils widmen sich dann den Ausbildungs- und Prüfungsordnungen, zum einen den Ordnungen für Taubstummen- und Blindenlehrer von 1936 (Kap. 3), zum anderen denen für Hilfsschullehrer von 1941. In den Kapiteln 5, 6 und 7 nimmt Dagmar Hänsel schließlich die regionale Entwicklung der Sonderschullehrerausbildung in der NS-Zeit in Hamburg, München und Halle an der Saale genauer in den Blick.

Entsprechend des von der Autorin formulierten Anspruches, Kontinuitäten herauszuarbeiten, wird der Rekonstruktion der Entwicklungen in der NS-Zeit nicht nur eine ausführliche Darstellung der Entwicklung vor 1933 vorangestellt, sondern mit dem dritten Teil eine Verlängerung des Blicks über das Ende der NS-Zeit hinaus angefügt. Dort wird nach regionalen Fortschreibungen und Anknüpfungen nach 1945 gefragt, so im Hinblick auf die Ausbildungs- und Prüfungsordnungen für Hilfsschullehrer in Hamburg, bezüglich der Gründung der heilpädagogischen Institute in Hannover und Halle an der Saale sowie hinsichtlich der Fortsetzung der heilpädagogischen Ausbildungslehrgänge in München. Dagmar Hänsel zeigt in diesem Kapitel, dass im Nationalsozialismus „wichtige Grundlagen für die gemeinsame Sonderschullehrerausbildung und damit für das zukunftsweisende sonderpädagogische Ausbildungskonzept geschaffen “ (257) wurden. Dieser dritte Teil des Buches schließt mit einem Kapitel, das sich noch einmal kurz mit den Geschichtskonstruktionen der Sonderpädagogik befasst.

Im abschließenden Gliederungspunkt „Zusammenhänge“ werden die herausgearbeiteten Kontinuitäten noch einmal zusammenfassend dargestellt und in den Kontext der aktuellen Debatte um Inklusion gestellt.

Mit Hilfe intensiver Archiv- und Quellenarbeit gelingt Dagmar Hänsel mit ihrer historischen Studie eine äußerst detailreiche historische Narration, in die auch die Auswertung bislang nicht berücksichtigter Quellen einfließt und überhaupt die Sonderschullehrerausbildung im Nationalsozialismus (inklusive personeller, struktureller und inhaltlicher Kontinuitäten) zum Gegenstand einer profunden historischen Rekonstruktion und Analyse gemacht wird. Die herausgearbeiteten Interpretationslinien sind hingegen nicht neu, sondern bestätigen die von Hänsel bereits in anderen Veröffentlichungen dargestellten Zusammenhänge. Die Autorin fasst zusammen:

„Die Vorstellung eines abgebrochenen Entwicklungszusammenhangs und eines Stillstands der Sonderschullehrerausbildung im Nationalsozialismus, die die sonderpädagogische Historiographie entwickelt hat, lässt sich auf der Grundlage von Quellenforschung nicht aufrechterhalten. Das gilt auch für die Behauptung eines Verbots der Hilfsschullehrerausbildung im Nationalsozialismus, das als deutlichster Beleg für die ideologischen Vorbehalte des Nazi-Regimes gegenüber der Heilpädagogik gewertet wird. Das Nazi-Regime hegte weder ideologische Vorbehalte gegenüber der Heilpädagogik noch verbot es die Hilfsschullehrerausbildung“ (257).

Hänsel führt in der Studie den quellengesättigten Nachweis, dass ihre bisherigen Diagnosen zur Sonderpädagogik in der NS-Zeit und zur Rolle der sonderpädagogischen Geschichtsschreibung auch im Hinblick auf die Sonderschullehrerausbildung als triftig anzusehen sind.

Kritisch kann hingegen gesehen werden, dass Hänsel auch im Zusammenhang des aktuellen Inklusionsdiskurses der Sonderpädagogik unterstellt – wobei am Schluss nicht ganz klar wird, ob hier alle sonderpädagogischen Fachrichtungen subsummiert werden – Inklusion primär als neues trojanisches Pferd zu nutzen, mit dem „die Sonderpädagogik“ versucht, sich möglichst unmerklich neue Territorien (die „Regelschule“) zu erobern, um dort weiterhin durch Etikettierungen und Zuständigkeitsanmaßungen an der Verbesonderung der Schüler/innen zu arbeiten. Dabei werde auf immer wieder neu justierte, normative Absicherungsstrategien zurückgegriffen:

„Inzwischen ist statt vom Aufrichten vom sonderpädagogischen Fördern die Rede und der religiöse Bezug durch den Bezug auf die Menschenrechte ersetzt worden“ (21).

Und statt von einer theoretischen Basis aus operiere die Sonderpädagogik mit identitätsstiftenden Traditionserzählungen:

„Seitdem der Heilpädagogik ihre medizinische Basis weggebrochen ist, hat die Geschichtsschreibung für die Rechtfertigung der Hilfsschule als Sonderschule erhöhte Bedeutung gewonnen und sind Geschichtskonstruktionen in der Sonderpädagogik zum Theorieersatz geworden“ (10).

Diese einseitigen und nicht weiter belegten Deutungen schmälern aber nicht die Bedeutung von Hänsels historischer Analyse für eine explizit kritische, historische Rekonstruktion der Sonderpädagogik sowie für eine kritische Diskussion der Rolle der Sonderpädagogik hinsichtlich inklusiver Unterrichts- und Schulentwicklung. Wenngleich Sonderpädagogik durchaus Teil der Erziehungswissenschaft ist, besteht ein Verdienst der vorliegenden Studie zudem auch darin, Fragen sonderpädagogischer Schultheorie und sonderpädagogischer Historiographie in die „Diskursarena“ pädagogischer Historiographie zu transportieren.

[1] Vgl. die beiden Monographien: Hänsel, D.: Die NS-Zeit als Gewinn für Hilfsschullehrer. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2006; Hänsel, D.: Karl Tornow als Wegbereiter der sonderpädagogischen Profession: die Grundlegung des Bestehenden in der NS-Zeit. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2008.
Oliver Musenberg (Hildesheim)
Zur Zitierweise der Rezension:
Oliver Musenberg: Rezension von: Hänsel, Dagmar: Sonderschullehrerausbildung im Nationalsozialismus. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2014. In: EWR 15 (2016), Nr. 4 (Veröffentlicht am 02.08.2016), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978378151990.html