In der Monografie „Professionswissen von Lehrerinnen und Lehrern des Mathematik- und Sachunterrichts“ geht Anne Niermann von der Annahme aus, dass das Professionswissen von Lehrerinnen und Lehrern eine wesentliche Voraussetzung für erfolgreichen Unterricht darstellt und in der Reflexion des eigenen beruflichen Handelns eine unterstützende Funktion einnimmt. Diesbezüglich verfolgt sie die Frage, wie sich dieses Wissen intra- und interindividuell sowie insbesondere auch interdisziplinär unterscheidet. Niemann bearbeitet diese Frage empirisch, indem sie Grundschullehrerinnen und -lehrer aus einer fächerübergreifenden Perspektive zum Mathematik- und Sachunterricht befragt. Dabei will sie herausfinden, welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten sich im Professionswissen der Lehrenden finden und wie sich diese in Mustern verdichten lassen. Zudem werden die Ursachen für bestimmte Ausprägungen im Professionswissen diskutiert.
Einleitend beginnt die Studie mit einer Zusammenfassung des soziologischen- und erziehungswissenschaftlichen Professionalitätsdiskurses des 20. Jahrhunderts. In der aktuellen Professionalitätsdiskussion zum Lehrerberuf werden insbesondere drei Theorien diskutiert, der strukturtheoretische, der berufsbiografische und der kompetenztheoretische Ansatz. In den beiden letztgenannten verortet Niermann auch ihre Studie: Professionalität wird von ihr als das „Vorhandensein von zentralen Handlungskompetenzen sowie als vorläufiger Zustand eines individuellen Entwicklungsprozesses“ (10) begriffen, der dann als erreicht gelte, „wenn die Lehrerin oder der Lehrer wissenschaftliches Wissen in Verbindung mit Handeln bringen kann und das Wissen nutzt, um über die Handlungspraxis zu reflektieren“ (ebd.). Daran anschließend wird das Konstrukt des Professionswissens eingeführt und in verschiedene Inhaltsbereiche aufgegliedert. Letztlich folgt die Studie der im wissenschaftlichen Diskurs gängigen Einteilung nach Shulman, der das Professionswissen von Lehrerinnen und Lehrern in die drei Bereiche des fachlichen-, fachdidaktischen und allgemein-didaktischen Wissens unterteilt. Diese Bereiche bilden mit den aus der Unterrichtsforschung herausgearbeiteten Wissensbeständen von Lehrerinnen und Lehrern das gegenstandstheoretische Fundament der Arbeit.
Bei der anschließenden Zusammenstellung des Forschungsstands zur empirischen Bildungs- und Unterrichtsforschung und hier speziell zu Arbeiten aus dem mathematischen und naturwissenschaftlichen Bereich bzw. dem Sachunterricht stellt Niermann dann nochmal den Erkenntnisgewinn ihrer Studie heraus: So seien gerade in der Unterrichtsforschung der Grundschule wenig fächervergleichende Studien auszumachen, die den Zusammenhang des Professionswissens von Lehrerinnen und Lehrern der naturwissenschaftlichen sowie nicht-naturwissenschaftlichen Fächer aus einer qualitativen Forschungslogik in den Blick nehmen. Die Wahl der beiden Unterrichtsfächer Mathematik- und Sachunterricht hält Niermann für einen Vergleich lohnenswert, weil beide Fächer konzeptionell und methodisch über eine gemeinsame Basis verfügten, aber auch Raum für unterschiedliche Aushandlungsprozesse und neue Sichtweisen böten.
Die Datenerfassung der Studie folgt einem methodenkombinierten Ansatz: Auf Grundlage des kompetenztheoretischen Modells zum Professionswissen wurden mit 26 Lehrerinnen und Lehrern teilstandardisierte Interviews mit ergänzendem Fragebogen geführt. Dabei galt es, mögliche Gründe für bestimmte Ausprägungen oder Unterschiede im Professionswissen dieser Lehrerinnen und Lehrer aufzudecken, zusätzliche Einflussgrößen zu erfassen sowie das Unterrichtsfach-spezifische Fachwissen abzufragen. Methodisch gesehen beschreitet die Studie insbesondere mit dem Abfragen von Fachwissen im Sachunterricht Neuland, da es gegenwärtig keinen Konsens darüber gibt, welche Wissensbasis für das Unterrichten von Sachunterricht konstitutiv ist. Insofern ist Niermanns Vorgehen als explorativer Versuch zu verstehen, das fachliche Wissen in zwei Fächern in ganzer Breite zu untersuchen. Komplettiert wird das methodische Vorgehen durch die inhaltsanalytische Auswertung der Interviews und Fragebögen (allgemeiner und fachwissenschaftlicher Teil) nach Mayring, Kuckartz und Witzel.
Die Darlegung der Forschungsergebnisse beginnt mit der fallübergreifenden Analyse der einzelnen Wissensbereiche und liefert auf der deskriptiven Ebene einen Einblick in die fachlichen, fachdidaktischen und allgemeindidaktischen Aussagen der Lehrenden. Der anschließende kontrastierende Fallvergleich thematisiert dann in Form von drei herausgearbeiteten Mustertypen die intra- und interindividuellen Unterschiede im Professionswissen von Lehrerinnen und Lehrern. Gemäß Niermann ergibt sich als erster Typ die „Fachdidaktikerin mit komplexem Professionswissen“ (195), die sich durch ein komplexes fachliches und fachdidaktisches Wissen im Bereich beider Fächer auszeichne, höflich und ruhig sei, gut reflektieren und abstrahieren könne und dabei stets den Überblick behalte, die ihr Hauptanliegen, Forschung und lebenslanges Lernen, immer im Blick behalte und hinsichtlich ihres Professionswissens als ein Vorbild für andere gelte. Ein zweiter Typ sei der „Querdenker mit Hang zum Sachunterricht“ (ebd.), der großen Wert auf methodische Vielfalt, Alltagsorientierung und anspruchsvolle Unterrichtsgespräche lege, dabei auf viel Berufserfahrung zurückgreifen könne, für den eine ausgeprägte Lehrerpersönlichkeit sowie außerschulische Erfahrungen das Fundament erfolgreichen Lehrerhandelns darstellten, der allerdings im Mathematikunterricht über unterschiedliches und zum Teil nur über unsicheres fachliches und fachdidaktisches Wissen verfüge. Und schließlich gebe es die „Allgemeindidaktikerin mit Theoriebezug“ (ebd.), die zumeist Schulleiterin sei, ein komplexes-allgemeindidaktisches Wissen besitze, welches jedoch fachspezifisch wenig differenziert sei, die Verknüpfung von Fachwissen und Theorie seien ihr wichtig, der Transfer auf den Unterricht gelinge ihr jedoch weniger.
Am Ende der Studie kommt Niermann unter anderem zu dem Schluss, dass die Mehrheit der untersuchten Lehrerinnen und Lehrer zwar in einzelnen Bereichen komplexes Wissen haben, aber nur wenige in allen Bereichen über hohe Wissensbestände verfügten. Hinsichtlich der Konsequenzen für die Lehrerbildung hebt Niermann in Rückgriff auf die zentralen Befunde hervor, dass aus allgemein-didaktischer Perspektive gerade im Bereich der Leistungsbewertung ein erhöhter Nachholbedarf bestehe, was die Durchführung und Reflexion des eigenen Lehrerhandelns betreffe. Ähnliches zeige sich auch in der Verzahnung von Theorie und Praxis, da neue Unterrichtsansätze nur selten Einzug in den Unterrichtsalltag fänden. Auch eine stärkere Schülerorientierung bereits während der Ausbildung im Fach Mathematik wird von ihr als vielversprechend angesehen. Bezogen auf den Sachunterricht hält die Autorin eine Forcierung der fachlichen Inhalte in allen Lehrerbildungsphasen für notwendig und sieht insbesondere die Erste Phase in der Pflicht, die inhaltliche Ausrichtung des Sachunterrichts zu erweitern.
Abschließend betrachtet, stellt die Studie von Anne Niermann eine wissenschaftsdisziplinübergreifende Arbeit auf der Schnittstelle von Fachdidaktik, Professions- und Unterrichtsforschung dar. Insbesondere in der noch jungen Fachdidaktik des Sachunterrichts besetzt die Arbeit mit dem Versuch der gegenstandstheoretischen Bestimmung des Professionswissens von Grundschullehrerinnen und -lehrern eine Leerstelle. Leider wird in der Begriffsbestimmung zum Professionswissen die Frage, was das Wissen von Lehrerinnen und Lehrern zu einem professionellen Wissen macht, nicht tiefgreifender ausgeführt. Hinsichtlich der erhobenen Daten liefert die Studie einen breiten Einblick in die verschiedenen Kategorien und Unterkategorien zum allgemeindidaktischen, fachlichen und fachdidaktischen Wissen der Lehrenden. Hier werden interessante Aussagen zu den verschiedenen unterrichtlichen Handlungsfeldern der Lehrenden u.a. zur Planung von Unterricht, zum Umgang mit Heterogenität, Unterrichtsstörungen oder der Leistungsbeurteilung dargelegt. Leider findet sich diese Mehrdimensionalität in den fallvergleichenden Mustern jedoch nicht wieder. An dieser Stelle muss man die kritische Frage stellen, ob mit einer stärker rekonstruktiv angelegten Auswertungsmethode eine Vertiefung der Ergebnisse hätte erreicht werden können. Zudem stehen die im Eingangsteil aufgeführten grundlagentheoretischen Positionen und die Ergebnisse zum Professionswissen von Lehrerinnnen und Lehrern recht unvermittelt nebeneinander, hier hätte man sich die theoretische Rückbindung der Ergebnisse vor dem Hintergrund der Fragestellungen gewünscht.
EWR 16 (2017), Nr. 4 (Juli/August)
Professionswissen von Lehrerinnen und Lehrern des Mathematik- und Sachunterrichts
„…man muss schon von der Sache wissen.“
Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2017
(230 Seiten; ISBN 978-3-7815-2144-5; 39,00 EUR)
Franziska Piva (Hildesheim)
Zur Zitierweise der Rezension:
Franziska Piva: Rezension von: Niermann, Anne: Professionswissen von Lehrerinnen und Lehrern des Mathematik- und Sachunterrichts, „…man muss schon von der Sache wissen.“. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2017. In: EWR 16 (2017), Nr. 4 (Veröffentlicht am 02.08.2017), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978378152144.html
Franziska Piva: Rezension von: Niermann, Anne: Professionswissen von Lehrerinnen und Lehrern des Mathematik- und Sachunterrichts, „…man muss schon von der Sache wissen.“. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2017. In: EWR 16 (2017), Nr. 4 (Veröffentlicht am 02.08.2017), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978378152144.html