EWR 18 (2019), Nr. 3 (Mai/Juni)

Matthias Proske / Kerstin Rabenstein (Hrsg.)
Kompendium qualitative Unterrichtsforschung
Unterricht beobachten – beschreiben – rekonstruieren
Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt 2018
(358 S.; ISBN 978-3-7815-2215-2; 21,90 EUR)
Kompendium qualitative Unterrichtsforschung In der qualitativen Unterrichtsforschung ist die Frage nach der Gegenstandskonstitution bislang unter Einbezug unterschiedlichster sozialtheoretischer Vorannahmen diskutiert worden. Dies führte jedoch zu einer nahezu unüberschaubaren Vielfalt von Ansätzen, methodologischen Zugriffsweisen und Theoretisierungen, die eher zu einer Ausdifferenzierung des Gegenstandes und weniger zu einer systematischen Theoriebildung führten. Genau an dieser umfassenden, aber dennoch etwas unbefriedigenden Diskussion setzt der Sammelband von Matthias Proske und Kerstin Rabenstein an und versucht das gesteigerte theoretische und empirische Interesse am Unterricht für eine reflexive empirische Theoriebildung zu nutzen, indem einerseits methodologische und sozialtheoretische Zugriffsweisen konsequent aufeinander bezogen und andererseits Komplementarität- und Konkurrenzverhältnisse verschiedener empirischer Forschungsansätze aufgedeckt werden. Ihrem Vorhaben legen sie eine systematisierende Heuristik zugrunde, auf deren Basis auch die Beiträge sortiert werden. Diese bezieht sich auf die Konstitutionsprobleme von Unterricht (Teil I), auf Vollzugshandlungen von Lehrenden und Lernenden sowie auf unterrichtliche Inszenierungsformen (Teil II) und schließlich auf Konstitutionsfragen einer sozio-materiellen Ordnung (Teil III), um über diese Perspektivierung „empirische Beobachtungen von Phänomenen jenseits unterschiedlicher Gegenstandskonstruktionen und methodologischer Zugriffe ins Verhältnis zu setzen“ (16).

Dem Problem der Gegenstandskonstitution nähert sich Matthias Proske in seinem einführenden Beitrag mit der Forderung nach einer Verhältnisbestimmung von Sozial- und Gegenstandstheorien an, indem er für die Reflexion theoriegeleiteter Gegenstandskonstruktionen in der Unterrichtsforschung plädiert. Er markiert deutlich, dass das Verständnis von Unterricht immer auch von den sozialtheoretischen Bestimmungen abhängig ist, deren beobachtungsleitende Annahmen überhaupt festlegen, ob Unterricht beispielsweise als Sprachspiel, als Vollzug zusammenhängender Praktiken oder als soziales System in den Blick gerät. Auch im zweiten einführenden Beitrag von Till-Sebastian Idel und Wolfgang Meseth steht das Problem einer empirisch begründeten Theoriebildung an zentraler Stelle, wird jedoch mit dem Fokus auf die methodologischen Hintergründe zentraler Forschungsansätze betrachtet, und zwar in Hinblick auf die Konversationsanalyse, die Objektive Hermeneutik, die Ethnografie und die Dokumentarischen Methode. Darüber wird deutlich, dass die Ergebnisse qualitativ-rekonstruktiver Unterrichtsforschung nicht nur von den erhobenen Daten abhängen, sondern v.a. auch von den methodologischen Vorentscheidungen, deren empirischer Bezug überhaupt festlegt, was in den Untersuchungen als relevantes Datum erscheint.

Im zweiten Teil des Bandes werden Unterrichtspraktiken thematisiert, die Konstitutionsprobleme von Unterricht bearbeiten. So zeigt sich auch in dem Beitrag von Carla Schelle zur Praktik des Unterrichtanfangens die Bedeutung beobachtungsleitender Annahmen auf die Modi der Datenerhebung. Je nachdem, ob diese beispielsweise aus einer kommunikations-, interaktions- oder fachkultur-theoretischen Brille betrachtet wird, geraten Sprechakte, Beteiligungsformate oder fachliche Anforderungen in den Blick. Auch Matthias Herrle und Jörg Dinkelaker verweisen in ihrem Beitrag auf die Konsequenzen sozialtheoretischer Entscheidungen über grundlegende Kategorien für methodologische Entscheidungen, indem sie verschiedene überwiegend ethnomethodologisch orientierte Untersuchungen zur Koordination in unterrichtlichen Interaktionen vorstellen. Auf die Bedeutung routinisierter Praktiken und impliziter Abstimmungsprozesse wird auch in dem Beitrag von Nina Meister und Oliver Hollstein am Beispiel unterrichtlicher Bewertungssituationen verwiesen, indem verdeutlicht wird, wie Bewertungspraktiken Differenzen und Hierarchien konstituieren. Der Frage nach den Hervorbringungsmechanismen von Gleichheit und Differenzen geht Jürgen Budde in seinem Beitrag aus einer praxeologischen Perspektive nach, indem er versucht das „unübersichtliche Feld“ (137) über eine Systematisierung anhand sozialer und pädagogischer Differenzierungskategorien aufzuschlüsseln. Das Problem, „inwieweit sich Differenz überhaupt beobachten lässt“ (140), wird über eine Verhältnisbestimmung einer theoretisch fundierten Kategorisierung von Differenzen und ausgewählten Ergebnissen qualitativer Unterrichtsforschung diskutiert, die zudem aufzeigen, dass soziokulturelle Differenzen nicht einfach per se wirken, sondern dass diese über pädagogische Praktiken hervorgebracht werden.

Im Anschluss an die dargestellten Praktiken werden in den folgenden Beiträgen spezifische Vollzugshandlungen von Lernenden und Lehrenden in den Fokus gerückt. Den Auftakt macht der Beitrag von Andreas Gruschka, der die fehlenden pädagogischen und didaktischen Bezüge in der qualitativen Unterrichtsforschung kritisiert, was zu Spannungen führe, da „Theorieimporte“ (161), die beispielsweise aus sprach- oder praxistheoretischer Sicht Unterricht als soziales Geschehen betrachten die pädagogisch-didaktische Rahmung, die er über das Lehren, Zeigen und Erklären operationalisiert, vernachlässigen würden.

Der Zugang zu schülerseitigen Lernprozessen gestaltet sich in der Regel schwierig. Petra Herzmann plädiert in ihrem Beitrag zum Lernen als Gegenstand qualitativer Unterrichtsforschung für einen stärkeren Einbezug fachdidaktischer bzw. -wissenschaftlicher Perspektiven, um darüber Besonderheiten fachlicher Aneignungsprozesse nachzeichnen zu können. Ausgehend von Ansätzen neuerer Kindheitsforschung und der Schülerkulturforschung stellt Georg Breidenstein Schülerpraktiken in das Zentrum seines Beitrages, indem er diese zum einen anhand aktueller Studien hinsichtlich verschiedener unterrichtlicher Sozialformen systematisiert und andererseits aber auch Forschungsdesiderate markiert, die er insbesondere in der Komplexität des Forschungsgegenstandes verortet. Diese zeige sich in dem Verhältnis von Peerkultur und unterrichtlichen Anforderungen, welche eine praxeologische Schülerforschung erforderlich mache, die gleichermaßen Peer- und Klassenbeziehungen sowie fachliche Settings berücksichtige.

Etablierungen neuer unterrichtlicher Inszenierungsformen, die sich von einer frontalen Praxis unterscheiden, werden in der Regel von großen Erwartungen begleitet. Matthias Martens fasst in seinem Beitrag den Forschungsstand zum individualisierenden Unterricht zusammen und zeigt in einer Zusammenschau generalisierender Gemeinsamkeiten sowohl Verschiebungen (bspw. hinsichtlich einer Entfachlichung zugunsten einer Formalisierung von Lehr-Lern-Prozessen) als auch Kontinuitäten (hinsichtlich der Produktion von Leistungsdifferenzen) in der Unterrichtspraxis als potenzielle Bausteine einer gegenstandsbezogenen Theorie individualisierenden Unterrichts auf. Andreas Bonnet und Uwe Hericks widmen sich in ihrem Beitrag kooperativen Lernsettings. Während diese in der quantitativen Unterrichtsforschung vornehmlich hinsichtlich Wirkungsfragen auf der Basis lerntheoretischer Konzeptionen diskutiert werden, wird aus der Perspektive qualitativer Forschung die Frage nach den Interaktionsstrukturen virulent.
Auch wenn Entgrenzung als ein Merkmal unterrichtlicher Interaktionen von Andreas Wernet in seinem Beitrag eingefĂĽhrt wird, so wird doch deutlich, dass er dieses in erster Linie als dauerhafte problematische Anforderung an das Lehrerhandeln betrachtet, die er strukturell in der sozialisatorisch begrĂĽndeten Asymmetrie von Lehrer-SchĂĽler-Beziehungen verortet.

Im dritten Teil des Buches werden Beiträge gefasst, die soziale Konstitutionsbedingungen von Unterricht in den Fokus rücken. Gleichzeitig markiert es auch eine methodologische „Wende“ in der qualitativen Unterrichtsforschung von einem „linguistic turn“ hin zu einem „practice turn“: Während das schulische Sprechen zwar als äußerst heterogener, aber dennoch umfangreich erforschter Untersuchungsgegenstand im Beitrag von Karin Hee und Thorsten Pohl dargestellt wird, so werden in den daran anschließenden Beiträgen der Umgang mit Körpern, Dingen und Artefakten aus einer praxistheoretischen Perspektive herausgestellt. Im Einzelnen zeigt Felicitas Macgilchrist anhand der spezifischen Medialität und Materialität von Schulbüchern spezifische schülerseitige Aneignungspraktiken und markiert gleichzeitig Desiderate hinsichtlich eines Austausches zwischen den Fachdisziplinen. Bernd Hackl und Alois Stifter betrachten Körperlichkeit aus einer praxeologischen Perspektive und beziehen sich dabei auf unterrichtliche Studien, die insbesondere die Einsozialisation des Körpers in unterrichtliche Praktiken wie Melden oder Still-Sitzen fokussieren, aber auch auf Untersuchungen zu außerschulischen Kontexten, in denen körperliche Performativität eine besondere Rolle spielt. Abschließend wird im Beitrag von Kerstin Rabenstein die Eigendynamik sozialer Ordnungsbildungen im Unterricht aus einer sozio-materiellen Perspektive hervorgehoben, die ihren Fokus auf die Performativität und Medialität von Fachunterricht, aber auch auf die Materialität von Ding-Praktiken legt, um die Beteiligung der Dinge und Körper an der Herstellung des Sozialen rekonstruieren zu können.

Auch wenn das Problem einer systematisierenden Gegenstandskonstitution nicht vollständig aufgrund der doch von Komplexität geprägten vorliegenden empirischen Studien und deren durchaus heterogene Darstellung in den Beiträgen gelöst werden kann, so zeigt der Band dennoch auf, wie sich sozial- und gegenstandstheoretische Entscheidungen in empirischen Untersuchungen niederschlagen. Der Band überzeugt v.a. als Nachschlagewerk zu zentralen Themen qualitativer Unterrichtsforschung und richtet sich an eine thematisch informierte Leserschaft.
Hilke Pallesen (Halle)
Zur Zitierweise der Rezension:
Hilke Pallesen: Rezension von: Proske, Matthias / Rabenstein, Kerstin (Hg.): Kompendium qualitative Unterrichtsforschung, Unterricht beobachten – beschreiben – rekonstruieren. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt 2018. In: EWR 18 (2019), Nr. 3 (Veröffentlicht am 31.07.2019), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978378152215.html