EWR 18 (2019), Nr. 3 (Mai/Juni)

Dietrich Benner/ Hilbert Meyer/ Zhengmei Peng/ Zhengtao Li (Hrsg.)
Beiträge zum chinesisch-deutschen Didaktik-Dialog
Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt 2018
(302 S.; ISBN 978-3-7815-2238-1; 21,90 EUR)
Beiträge zum chinesisch-deutschen Didaktik-Dialog Dieser Band enthält Beiträge – vor allem aus Vorträgen – von chinesischen und deutschen Wissenschaftler/innen zum chinesisch-deutschen Didaktik-Dialog in deutscher Version. Die Herausgeber zielen darauf ab, die abwesende Thematisierung der chinesischen Allgemeinen Didaktik zu erschließen und widmen den Band den Professoren Wolfgang Klafki und Qilong Li, die die Didaktik ihres Landes und den chinesisch-deutschen Didaktik-Dialog wesentlich vorangebracht haben. Vor dem Hintergrund einer Vielfalt lokaler, regionaler und nationaler theoretischer Entwürfe und praktischer Versuche im Globalisierungskontext geht dieser Band bzw. dieser Dialog davon aus, dass mit Hilfe eines internationalen, didaktischen Diskurses einige Didaktiken distanziert beobachtet werden können, um diese neu zu erfahren und deren blinde Flecken zu erkennen. Die Autor/innen greifen insgesamt die ausgewählten, traditionellen sowie gegenwärtigen chinesischen und deutschen didaktischen Theorien und Konzepte, Modellbildungen, qualitative und quantitative Forschungsansätze, Forschungsergebnisse sowie praktische Versuche auf.

Man erhält eine interpretierte didaktisch-theoretische Grundlage der ausgewählten, traditionellen chinesischen und westlichen Didaktik-Konzepte, die jeweils in ihrer historischen Entwicklungslogik in Zusammenhang und Differenzierung gebracht werden. Peng und Gu führen das Lehren und Lernen des Konfuzianismus durch sechs charakteristische Kernaussagen zu guten Lehrer/innen und guten Schüler/innen in ein dialektisches Verhältnis zusammen: Es geht um ein Wechselspiel von Lerneifer der Schülerin/des Schülers und Lehrkunst der Lehrerin/des Lehrers, wobei die Selbsttätigkeit der Schülerin/des Schülers und sein/ihr Wille zur Selbstkultivierung (bzw. unaufhörliches Lernen) zentral sind.

Benner betont die generelle Bedeutung der Unterscheidung zwischen der edukativen Funktion der Lehrperson und der bildenden Struktur des Lernens sowie die Abhängigkeit des Gelingens von unterrichtlichen Lehr- und Bildungsprozesse in klassischen Didaktik-Konzepten und eben die Bedeutung der theoretischen Einsichten für die Weiterentwicklung der empirischen Bildungsforschung.

Deng und Terhart thematisieren jeweils die aktuelle didaktische Krise in ihrem Land und zielen auf einen Lösungsversuch ab. Deng stellt durch eine neue Interpretation der chinesisch-didaktischen Basiskonzepte aus der Perspektive der deutschen Didaktiktradition eine Übereinstimmung zwischen deutscher Didaktiktradition und chinesischer (neo-)konfuzianistischer Vorstellung in zwei Punkten fest: Zum einen eine Selbstkultivierung als Lernvoraussetzung und zum anderen das von der Lehrperson initiierte „Zusammentreffen“ bzw. die „Begegnung“ von Inhalt und Person der Lernenden. Er betrachtet eine direkte internationale Übertragung der Didaktik mit Skepsis und behält dennoch eine Hoffnung der Bewältigung der offenen Fragen und Begrenzungen bei der Konstruktion der didaktischen Theorie. Terhart erfasst die deutschsprachigen, allgemeindidaktischen und unterrichtstheoretischen Ansätze entlang von drei Zugangsweisen, die gemeinsam eine schwierige Relation zur Berufspraxis haben und in denen die Bedeutung des berufsbiographischen Entwicklungsprozesses für die Lehrerprofessionalisierung in Fähigkeiten und Haltungen fehlt. Er kritisiert zugleich das Forschungsdesiderat der Unterrichtswirklichkeit in ihrer Breite und Vielfalt. Nach seiner Problematisierung der aktuellen Relation der deutschsprachigen Allgemeinen Didaktik in Verhältnis zu anderen Bereichen weist er auf die wechselseitigen Ergänzungen, Anregungen und Korrekturen zwischen Allgemeiner Didaktik und Unterrichtspsychologie hin.

Die neuen Entwicklungen der didaktischen Theoriebildung, vor allem in China und Deutschland, werden thematisiert. Li und Li stellen die von Ye entwickelte neue lebens- und praxisorientierte Pädagogik und ihre didaktischen Ansprüche vor, in der eine Neubestimmung der Bedeutung der Lehrtätigkeit der Lehrpersonen und der Lerntätigkeit der Schüler*innen zentral sind. Zheng und Meyer systematisieren und kritisieren drei weltweite Trends didaktischer Theoriebildung: vom Lehren zum Lernen, von der Wissensvermittlung zur Kompetenzorientierung, vom Frontalunterricht zum individualisierenden Unterricht. Sie konstatieren eine grundsätzlich gültige Dialektik von Führung und Selbsttätigkeit. In China werde aktuell eine Transformation von Wissensvermittlung zur Kompetenzorientierung propagiert und in Deutschland wandele sich der Fokus vom Bildungsideal zum Bildungsprozess - wobei der Widerspruch von Führung und Selbsttätigkeit bzw. von Zwang und Autonomie den Unterrichtsprozess vorantreibe. Eine kausale Beziehung der Globalisierung zur Bildung sowie zur steigenden Unsicherheit finden sie überraschend und sie versuchen, Vorüberlegungen zu einer Bildungstheorie in Zeiten der Globalisierung zu geben.

Qualitative Unterrichtsforschungsmethoden werden ebenso thematisiert und entwickelt. Brinkmann gibt einen Überblick über die qualitativen Unterrichtsforschungsansätze im deutschsprachigen Raum. Er zeigt in seiner empirischen Forschung einen Ansatz für eine pädagogisch-phänomenologische Unterrichtsforschung: also eine Mitwirkung einer pädagogisch-phänomenologischen Videographie, einer nicht-semiotischen Ausdruckshermeneutik und der Arbeit mit Operationalisierungen der Verkörperung und der interkorporalen Interattentionalität. Peng zeigt seine Konstruktion neuer, auf den chinesischen Kontext zugeschnittener Aufgaben zur ethisch-moralischen Kompetenzmessung und erste Ergebnisse auf, wobei deren thematischer Unterschied zum deutschen Instrument deutlich wird. Grammes, Zhang und Zhu entwerfen ihren methodischen Versuch in der international vergleichenden didaktischen Forschung der politischen Bildung als „Meta-Ethnographie“. In ihrem Bericht von zwei Unterrichtsbeispielen in Hamburg und Shandong (China) zeigen sie ihre Unterrichtreportage und machen auch darüber hinaus einen normativen Entwurf für gute Unterrichtsreportagen.

Die kausalen Zusammenhänge zwischen Leistungen der Schüler/innen und (methodischen) Faktoren des Lehrens und des Lernens werden quantitativ untersucht. Ein überraschend signifikantes Ergebnis bei Zheng, Wang und Lins Forschung zu den Einflüssen von Unterrichtsmethoden auf Mathematikleistungen in China zeigt eine positive Korrelation zwischen dem häufig gebrauchten Lehrervortrag und den Mathematik-Leistungswerten der Lernenden. Praetorius, Kuger, Qi und Klieme überprüfen ihre Hypothesen mittels der Daten aus der Studie PISA 2012 und fanden sowohl ähnliche, positive Zusammenhänge z.B. zwischen kognitiver Aktivierung und Schülerleistung als auch unterschiedliche Zusammenhänge zwischen lehrerzentriertem Unterricht, internalen Kontrollüberzeugungen und Schülerleistungen in Shanghai und Deutschland heraus.

Zur Norm guten Unterrichts entwirft Ye fünf Kriterien. Meyer und Ye analysieren vergleichend systematisch und kritisch die Modellierungen von Unterrichtsqualität und Lehrqualität vor allem in China und Deutschland. Sie entwerfen Qualitätskriterien für ein Schülerbild. Yang und Wang nehmen unterschiedliche Qualitätsverständnisse in den Blick und stellen anschließend die Lehrerforschungsarten zur Verbesserung des Unterrichts, insbesondere die Aktionsforschung in China dar. Zur Lehrerprofessionalisierung geben Neubrand und Xu sowie Huang jeweils Hinweise. Sie zeigen in ihrer quantitative Studie die Relevanz von den folgenden zwei Maßnahmen: Reflektieren anregen und Metakognition fördern. Huangs systematische Darstellung der Lehrerweiterbildungspraxis in Shanghai zeigt ein Zusammenspiel von Reflexion, Kooperation, Forschung und Förderung für die Lehrerprofessionalisierung.

In diesen hoch interessanten theoretischen, empirischen sowie praktischen Gemeinsamkeiten und Unterschieden in Bezug auf die chinesische und deutsche Didaktik ergibt sich ein grundlegendes Bild der chinesischen und deutschen Didaktik sowie heuristische Hinweise für das Lehr-Lern-Verhältnis und deren Entwicklungstendenz mittels der reflektierenden Auseinandersetzung. Aber die folgenden Punkte – die Frage der generellen und kulturspezifischen Tiefenstrukturen des Lehrens und Lernens und die Frage deren empirisch aussagekräftiger kausaler Zusammenhänge in Hinsicht auf die chinesischen und deutschen sozialkulturellen Umgebung – bleiben offen. Es bedarf weiterer Austausche und weitergehender Erklärung.
Mei-Ling Liu (Erfurt)
Zur Zitierweise der Rezension:
Mei-Ling Liu: Rezension von: Benner, Dietrich / Meyer, Hilbert / Peng, Zhengmei / Li, Zhengtao (Hg.): Beiträge zum chinesisch-deutschen Didaktik-Dialog. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2018. In: EWR 18 (2019), Nr. 3 (Veröffentlicht am 31.07.2019), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978378152238.html