Über das vergangene Jahrzehnt wurden – insbesondere im deutschsprachigen Raum – zum pädagogischen Wissen von Lehrpersonen mehrere psychometrische Testinstrumente entwickelt und in empirischen Studien der Schul-, Unterrichts- und Professionsforschung eingesetzt. In der Folge wurde ein einschlägiges, international ausgerichtetes, systematisches Literaturreview bestehender Erhebungsinstrumente und durchgeführter empirischer Untersuchungen 2014 veröffentlicht [1], das als konzeptionelle Grundlage einer internationalen Vergleichsstudie der OECD diente. 2015 erschien ein weiteres einschlägiges Literaturreview [2], das sich auf die im deutschsprachigen Raum entwickelten Erhebungsinstrumente konzentrierte. Beide Literaturreviews spiegeln die bemerkenswerte Dynamik von sich entwickelnden Initiativen zur empirischen Erforschung des pädagogischen Wissens von angehenden wie berufstätigen Lehrer/-innen wider. Diese Entwicklungsdynamik hat sich auch in den letzten Jahren fortgesetzt. Nur selten dürfte ein Konstrukt in so kurzer Zeit zum Gegenstand aufwändiger empirischer Bildungsforschung avanciert sein und entsprechende Sichtbarkeit erlangt haben.
Vor diesem Hintergrund ist eine Dissertation, die sich dem Gegenstand des pädagogischen Wissens von Lehrpersonen methodologisch aus einer gänzlich anderen Perspektive widmet, nämlich aus Sicht der qualitativ-rekonstruktiven Forschung, von besonderem Interesse. Als adaptierte Fassung ihrer Dissertation hat die Autorin Ann-Kathrin Dittrich nun die Monographie mit dem Titel „Pädagogisches Wissen im LehrerInnenberuf – Rekonstruktive Befunde aus der schulischen Praxis“ publiziert. Das Ziel ist „die Rekonstruktion pädagogischen Wissens von Lehrpersonen aus der unmittelbaren Unterrichtspraxis“ (14). Im Gegensatz zur quantitativen Erforschung pädagogischen Wissens mithilfe von standardisierten Testinstrumenten, die Dittrich als „normative Studien“ bezeichnet, geht es der Autorin vor allem darum, „das Verständnis von Lehrpersonen und deren Herausforderungen“ sichtbar zu machen (14).
Die Monographie gliedert sich in drei Teile. Im ersten Teil werden Grundlagen dargestellt, u. a. zum Wissensbegriff, zur Beziehung des Wissens zum Handeln sowie zur Handlungstheorie. Der zweite Teil beinhaltet die durchgeführte empirische Studie, in der Forschungsdaten über Interviews mit Lehrkräften und Beobachtungen ihres Unterrichts erhoben wurden. Im dritten und letzten Teil sollen Ergebnisse zusammengeführt und theoretische Grundlagen zur Diskussion gestellt werden.
Die Darstellung der Grundlagen zeigt, dass die Autorin den über standardisierte Tests generierten Forschungsstand als zentralen Bezugspunkt für das pädagogische Wissen sieht (Kapitel 4). Dies überrascht, denn eine qualitativ-rekonstruktive Studie zum pädagogischen Wissen hätte auch theoretische Arbeiten sowie einschlägige qualitative Forschung als zentralen Hintergrund wählen können. So erscheint die Abgrenzung von quantitativer Forschung etwas überbetont (67), die Dignität des eigenen erkenntnistheoretischen Ansatzes bleibt dagegen eher im Hintergrund. Anschließend wird auf pädagogisches Handeln eingegangen, das „in enger Beziehung“ zum pädagogischen Wissen erachtet wird (68). Dabei findet die zuvor fast ausschließlich fokussierte quantitative Forschung zum pädagogischen Wissen mit ihren relevanten Ansätzen und Erkenntnissen (z. B. Noticing, Unterrichtsqualität) praktisch keine Erwähnung und damit keine Fortsetzung mehr, stattdessen wechselt die Autorin nun mit einer Fokussierung handlungstheoretischer Modelle auf eine paradigmatisch neue Ebene. Pädagogisches Wissen und Handeln erscheinen damit durch jeweils getrennte Forschungsdiskurse repräsentiert, zumindest aber wirkt die Darstellung der quantitativen Forschung zum pädagogischen Wissen auf die Benennung der Tests verkürzt.
Die empirische Studie im zweiten Teil folgt dem qualitativ-rekonstruktiven Paradigma, Datenbasis bilden zunächst die über Leitfaden durchgeführten Interviews von 26 Lehrpersonen unterschiedlicher Schulformen in Österreich. Neun dieser Lehrpersonen wurden auch beim Unterrichten beobachtet. Aus den Interviewdaten rekonstruiert die Autorin – induktiv über Kodierungen und nach dem Verfahren der Grounded Theory (96) – Kategorien pädagogischen Wissens, die „das Gesamtverständnis pädagogischen Wissens der Befragten“ abbilden (102). Eine weitere Gliederung, die sich durch die Interviewfragen ergibt (91), erfolgt in sieben Wissenskategorien, die „Herausforderungen für pädagogisches Wissen“ aufzeigen (128), ferner werden Kategorisierungen zur „Aneignung“ und zu „Wissenslücken“ pädagogischen Wissens generiert. Die Beobachtungsdaten werden – ebenfalls induktiv über Kodierungen und nach dem Verfahren der Grounded Theory (96) – zur Kategorienbildung genutzt, allerdings mit dem Unterschied, dass nun die Rekonstruktion pädagogischen Wissens über die beobachtete Interaktion zwischen Lehrenden und Schüler/-innen erfolgt. Eine systematische Zusammenführung von Ergebnissen der Interviews und der Beobachtungen erfolgt in Form von drei Fallstudien. Diese sollen „individuelle Muster pädagogischen Wissens und Handelns“ von Lehrpersonen aufzeigen (166).
Die Ergebnisdarstellung verdeutlicht, dass sich die Autorin ein zunehmend breites (im Ergebnis vielleicht beliebiges?) Verständnis von „pädagogischem Wissen“ als Untersuchungsgegenstand erschließt. Nicht allein Interviewaussagen von Lehrkräften zu einer Frage wie „Was verstehen Sie unter dem Begriff pädagogisches Wissen?“ (100) werden analysiert und kategorisiert. Auch die Interaktion der untersuchten Lehrpersonen mit Schüler/-innen wird dem pädagogischen Wissensbegriff unterstellt, „pädagogisches Wissen lebt von einer Wechselbeziehung zwischen den beteiligten AkteurInnen“ (179, gemeint sind die Lehrperson und ihre Schüler/-innen). Eine solche Ausweitung ist, zumindest vor dem Hintergrund der Erkenntnisse der (empirischen) Unterrichtsforschung, zweifelsfrei sehr voraussetzungsreich und es stellt sich die Frage, inwieweit die Arbeit letztlich in der Lage ist, die ambitionierte Umklammerung der großen Begriffe Wissen, Handeln und Interaktion nachvollziehbar zu analysieren. So lässt z. B. eine Behauptung wie „die bei den Interviews generierte Kategorie ‚Entwicklungspsychologie‘ zeigt sich während den Beobachtungen über die ‚Unterstützung und Förderung‘“ (184) die/den Leser/-in staunend, aber orientierungslos zurück.
Aufschlussreich dagegen sind Befunde aus den generierten Kategorien pädagogischen Wissens, die auf strukturelle Analogien bisheriger Dimensionsbildungen empirischer Forschung zu pädagogischem Wissen aufmerksam machen, vereinzelt aber auch darüber hinausgehen, z. B. das pädagogische Wissen einer Lehrperson „über die eigene Person“ (126). Auch das Bemühen, die „Sichtbarkeit“ von pädagogischem Wissen über das Handeln einer Lehrperson im Unterricht zu demonstrieren (z. B. Tab. 8, 172), birgt ein Potenzial zur Generierung weiterführender, allerdings noch zu prüfender Annahmen.
Vorsicht könnte allerdings geboten sein, den Begriff des pädagogischen Wissens nahezu mit Handeln gleichzusetzen. Das Angebot der Autorin, hierzu im Diskussionsteil Leser-/innen in eine differenzierte Betrachtung des von ihr gewählten „handlungsorientierten Verständnis[ses]“ (194) einzuweihen, bleibt zögerlich. Auch der erarbeitete breite Begriff pädagogischen Wissens wird nur bedingt an den im ersten Teil der Publikation so ausführlich dargestellten Forschungsstand zum pädagogischen Wissen angeschlossen. Dennoch erscheint die Arbeit insgesamt als wichtiges Unterfangen, das den Forschungsdiskurs zum pädagogischen Wissen von Lehrpersonen sicherlich bereichert.
[1] König, Johannes: Designing an International Instrument to Assess Teachers' General Pedagogical Knowledge (GPK): Review of Studies, Considerations, and Recommendations. Paris: OECD 2014. http://www.oecd.org/officialdocuments/publicdisplaydocumentpdf/?cote=EDU/CERI/CD/RD%282014%293/REV1&doclanguage=en
[2] Voss, Thamar, Kunina-Habenicht, Olga, Hoehne, Verena & Kunter, Mareike: Stichwort Pädagogisches Wissen von Lehrkräften: Empirische Zugänge und Befunde. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 2015, 18(2), 187-223. https://doi.org/10.1007/s11618-015-0626-6
EWR 20 (2021), Nr. 2 (März/April)
Pädagogisches Wissen im LehrerInnenberuf
Rekonstruktive Befunde aus der schulischen Praxis
Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt 2020
(232 S.; ISBN 978-3-7815-2399-9; 42,00 EUR)
Johannes König (Köln)
Zur Zitierweise der Rezension:
Johannes König: Rezension von: Dittrich, Ann-Kathrin: Pädagogisches Wissen im LehrerInnenberuf – Rekonstruktive Befunde aus der schulischen Praxis. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt 2020. In: EWR 20 (2021), Nr. 2 (Veröffentlicht am 28.04.2021), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978378152399.html
Johannes König: Rezension von: Dittrich, Ann-Kathrin: Pädagogisches Wissen im LehrerInnenberuf – Rekonstruktive Befunde aus der schulischen Praxis. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt 2020. In: EWR 20 (2021), Nr. 2 (Veröffentlicht am 28.04.2021), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978378152399.html