EWR 22 (2023), Nr. 2 (April)

Esther Berner / Johanna Lauff
Jahrbuch fĂŒr Historische Bildungsforschung Band 27
Körper / Körperlichkeit – neue Perspektiven in der Historischen Bildungsforschung
Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt 2021
(272 S.; ISBN 978-3-7815-2480-4; 36,00 EUR)
Jahrbuch fĂŒr Historische Bildungsforschung Band 27 Zahlreiche Publikationen dokumentieren seit den 1980er Jahren, inwiefern Körper und Leib – oder genauer Körperlichkeit und Leiblichkeit – als erziehungswissenschaftlich relevante Topoi und das PĂ€dagogische begleitende PhĂ€nomene in der Theorieentwicklung der Disziplin wie auch der professionellen Praxis mitzufĂŒhren sind und wie sie begrifflich und empirisch erkundet und entfaltet wurden. Zugleich stehen diese BeschĂ€ftigungen immer unter dem Zeichen einer Spannung zwischen einer in gewisser Weise banalen PrĂ€senz des Körpers in der pĂ€dagogischen Praxis und der „Körpervergessenheit“ [1] der Disziplin.

Der vorliegende Themenschwerpunkt des „Jahrbuchs fĂŒr Historische Bildungsforschung“ aus dem Jahr 2021 lĂ€sst sich als gelungene bildungshistorische Bearbeitung dieses SpannungsverhĂ€ltnisses verstehen. Zur Ordnung des Diskursfeldes „Körper in der PĂ€dagogik und Erziehungswissenschaft“ machen die Herausgeberinnen drei analytische Bezugsebenen aus: die „1) der Bedeutung von Körper und Körperlichkeit in der Disziplin- und Theoriebildung, 2) dessen PrĂ€senz in sich wandelnden pĂ€dagogischen Praktiken und Praxen und schließlich 3) die Reflexion und Perspektivierung des Körpers bzw. Leibes in der erziehungswissenschaftlichen Forschung“ (9). Die BeitrĂ€ge des Bandes beziehen sich in unterschiedlicher Weise auf Fragen des Körpers in dem so systematisierten Feld.

Sylvia Wehren zeigt die Entwicklung „körperbezogene[n] Wissen[s] in pĂ€dagogischen Lehr- und HandbĂŒchern aus den Jahren 1767 bis 1824“ auf und leistet damit einen disziplingeschichtlichen Beitrag, der darauf aufmerksam macht, dass der Körper keineswegs aus der sich entwickelnden Erziehungswissenschaft ausgeklammert wurde: Vielmehr wurde der kindliche Körper zwischen „medizinisch-pĂ€dagogische[m] Diskurs“ (48) und „physiologisch orientierte[r] Anthropologie“ (ebd.) in den pĂ€dagogischen FrĂŒhschriften systematisch berĂŒcksichtigt, dann aber seit 1800 zunehmend aus dem pĂ€dagogischen Diskurs ausgeschlossen.

Tim Zumhof bearbeitet in seinem Beitrag den „Entwurf einer physischen Erziehung als wesentlichen Bestandteil der von [Rousseau] im Émile skizzierten natĂŒrlichen und negativen Erziehung“ (52). Als deren zentrales Moment erfasst Zumhof die körperliche AbhĂ€rtung im Kontext einer individuellen Gesundheitserziehung und Entwicklung eines auch auf geschlechtliche Zugehörigkeit bezogenen SelbstgefĂŒhls im Sinne einer Balance zwischen kognitiver ErkenntnisproduktivitĂ€t und Sinnlichkeit (vgl. 69). Der Körper wird bei Rousseau zum Objekt der pĂ€dagogischen Einflussnahme, wobei es ihm nicht um Disziplinierung geht, sondern darum, bei den Heranwachsenden die Sinne und gleichsam sittliche Tugenden auszubilden.

Die Artikel von Paolo Alfieri sowie Bernd Wedemeyer-Kolwe – weiter hinten im Band – kennzeichnet ein Interesse fĂŒr die Institutionalisierung des Sports in der Schule von der zweiten HĂ€lfte des 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts. Alfieri interessiert sich im Kontext der durch die katholische Kirche geschĂŒrten Ressentiments gegen sportliche BetĂ€tigung fĂŒr die RĂ€ume der Gymnastik an italienischen Einrichtungen der ElementarpĂ€dagogik. Er untersucht die „symbolische Bedeutung und damit die dem Sportunterricht zuerkannte pĂ€dagogische Wertigkeit, die Körpererfahrung der SchĂŒlerinnen, die Konstruktion des Geschlechts sowie den ideologischen und erzieherischen Charakter der rĂ€umlichen Umgestaltung“ (75).

Luana Salvarani fokussiert körperliche Aspekte in der frĂŒhen Reformation. Die Autorin zeigt mit Hilfe einer ikonographisch angelegten Bildanalyse, inwiefern sich protestantischer Protest gegen die katholische Kirche theatral-ritueller AuffĂŒhrungen wie etwa der Fastnachtspiele bediente. Der Körper erhielt darin eine zentrale Bedeutung, etwa in Inszenierungen von MonstrositĂ€t, Krankheit oder Tod, aber auch in Form einer Ironisierung der GeschlechterverhĂ€ltnisse. Salvarani versteht die AuffĂŒhrungen als religiöse Erwachsenenbildung der illiteraten Bevölkerung.

Mit der Untersuchung der in den 1950er Jahren von Minna Specht und Martha FriedlĂ€nder herausgegebenen Reihe „Kindernöte“ hinsichtlich der Frage nach der Bedeutung des Körpers leistet Sebastian Engelmann einen Beitrag zur umfangreichen erziehungswissenschaftlichen Ratgeberforschung, die das „Thema der biophysischen VerĂ€nderung“ (134) als zentralen Topos der Erziehungsliteratur zwar ausgemacht, jedoch bisher nicht auf eine besondere analytische BerĂŒcksichtigung des Körpers hin zugespitzt hat. In den „Kindernöte[n]“ drĂŒckt sich nun eine Verschiebung aus: Erziehung als zuvor mĂŒtterliche Pflege und Disziplinierung des kindlichen Körpers wurde im Zuge einer Demokratisierung des pĂ€dagogischen Denkens Mitte des 20. Jahrhunderts stĂ€rker vom Kind her gedacht. Eine intensive BerĂŒcksichtigung psychologischer Erkenntnisse fĂŒhrte in den Schriften zur Entwicklung eines Körperbildes, in welchem der Körper vor allem zum Ausdrucksmedium psychischer Probleme und Objekt pĂ€dagogischer Beeinflussung fĂŒr ihre Lösung wurde.

Wedemeyer-Kolwe widmet sich der VerĂ€nderung von LeibesĂŒbungen und Körperkonzepten in Schulen fĂŒr Menschen mit Behinderungen vom Kaiserreich bis zum Nationalsozialismus und identifiziert in der untersuchten Epoche ein widersprĂŒchliches Zusammenspiel von sozialer Normierung und emanzipativer Selbstvergewisserung. Im Zuge von AufklĂ€rung und Industrialisierung entwickelte sich die (pĂ€dagogische, medizinische und soziale) Tendenz, „bestimmten Personenkreisen Merkmale von BeeintrĂ€chtigungen zuzuweisen“ (160) und Behinderung als gesellschaftliches PhĂ€nomen zu generieren. WĂ€hrend LeibesĂŒbungen fĂŒr Menschen mit Behinderungen im Kaiserreich utilitaristisch begrĂŒndet wurden, setzte in der Weimarer Republik im Zuge der gesellschaftlichen Aufwertung von Sport und Turnen auch eine Professionalisierung der LehrkrĂ€fteausbildung und Ausdifferenzierung der Heil- und SonderpĂ€dagogik ein. Im Nationalsozialismus wurden die Heranwachsenden auf ihre „sogenannte ‚völkische Brauchbarkeit‘ hin eingeschĂ€tzt“ (172), womit eine ambivalente Anerkennung zwischen Vereinnahmung und SelbstermĂ€chtigung verbunden war.

Thomas GrĂ€fes Abhandlung „Anpassung oder Rebellion? Weltanschauliches Profil und soziale Funktion des Antisemitismus in der frĂŒhen deutschen Jugendbewegung“ argumentiert gegen die These der Jugendbewegungsforschung, derzufolge Antisemitismus im Wandervogel auf die soziale Herkunft der Mitglieder und Vereinnahmung durch völkische Gruppierungen zurĂŒckzufĂŒhren seien. Er untersucht die Zeitschriften „WandervogelfĂŒhrerzeitung“, „Pachantei“ sowie „Freideutsche Jugend“ in den JahrgĂ€ngen 1913 bis 1917 und stellt die Gegenthese auf, dass die Akteur*innen der Szene um die Wende zum 20. Jahrhundert Modernisierungskritik und Antisemitismus als Ausdrucksmittel eines Generationenkonflikts miteinander verbunden haben.

Der Band schließt mit drei Quellenstudien zu Dokumenten aus dem zwanzigsten Jahrhundert.
Nicole Nunkesser arbeitet hermeneutisch wie ikonografisch-ikonologisch Deutungen von fotografischen Darstellungen junger Fragen ab 1957 als Leitbilder weiblich-adoleszenter Körperlichkeit fĂŒr diese Zeit heraus. Die Fotografien thematisieren den außeralltĂ€glichen Raum der Kirmes als generationell spezifischen Ort außerhalb der elterlichen Kontrolle. Nunkesser interpretiert die Zeitdokumente mit ihren „lustvollen“ und „lĂ€ssigen“ Posen als „Gegenbilder zu dem hegemonial beherrschten öffentlichen weiblichen Körper“ (217).

Im zweiten Quellenbeitrag untersucht Bettina Irina Reimers mit einem Fotoalbum der „Schule Kallmeyer-Lauterbach“ eine Bild- und Textquelle der Arbeit der Atem- und LeibpĂ€dagoginnen Hedwig Kallmeyer und Frieda Lauterbach zu Beginn der 1930er Jahre. Anhand der visuellen, textuellen und auch haptischen Daten erarbeitet Reimers die Bedeutung des Körpers in der Lebensreformbewegung, der die PĂ€dagoginnen eng verbunden waren. Auch zeigt die Autorin die feministische Bedeutung des Dokuments auf: Nicht nur spielten „Frauen- und Jugendbewegung“ (235) eine Rolle fĂŒr Kallmeyer und Lauterbach, sondern es lĂ€sst sich an der Quelle auch nachvollziehen, inwiefern sich mit der KörperpĂ€dagogik im Kontext der ReformpĂ€dagogik ein „Berufsfeld fĂŒr Frauen“ (240) eröffnete.

Esther Berner und Johanna Lauff befassen sich im letzten Quellenbeitrag am Beispiel einer Denkschrift der Hamburger Gelehrtenschule Johanneum aus dem Jahr 1908 zur Modernisierung der Einrichtung mit der „immense[n] Bedeutung, die dem SchĂŒlerkörper“ im Kaiserreich zukam. Im Anschluss an den reformpĂ€dagogisch angeregten Diskurs um „Gesundheit, Hygiene, Disziplin“ (250) des vornehmlich mĂ€nnlich-adoleszenten Körpers aus „der (gehobenen) Mittel- oder Oberschicht“ (262) seien Hygiene- und Körperdiskurs im Wettbewerb um neue SchĂŒler*innengenerationen instrumentalisiert worden. Das Ringen um „(Bewegungs-) Raum“ (262), das (auch symbolisch) eine Sorge um Akustik, Licht und Luft artikuliert, lasse einen „biopolitischen Impetus“ der geforderten Maßnahmen „und somit deren Ambivalenz zwischen Freiheit/SelbstermĂ€chtigung und Kontrolle“ (ebd.) sichtbar werden.

Der besprochene Themenschwerpunkt versammelt anregende und kenntnisreiche Analysen des Körpers in der Geschichte der Disziplin, die es schaffen, fĂŒr die jeweiligen GegenstĂ€nde, Fragestellungen, untersuchten Daten und Epochen zu begeistern. Wichtig fĂŒr die Etablierung einer Perspektive auf Körperlichkeit in der Erziehungswissenschaft ist dabei auch, dass und wie in den einzelnen Studien immer auch die Frage aufgenommen wird, was jeweils im spezifischen historischen Kontext als Körper verhandelt wird. Dies kann als weiterfĂŒhrender Impuls verstanden werden, nicht nur in der Historischen Bildungsforschung erziehungswissenschaftliche Praktiken und Programmatiken immer wieder hinsichtlich ihrer Setzungen von Körperlichkeit/MaterialitĂ€t/Leiblichkeit zu befragen.

Die QuellenbeitrĂ€ge entwickeln besonders anregende Deutungen auch durch die Aufnahme der Quellen in die BeitrĂ€ge. Zugleich dokumentieren sie die Herausforderung, dem ausdrucksstarken und gut ausgewĂ€hlten Material in knappen AusfĂŒhrungen gerecht zu werden. So könnte etwa in anschließenden Schritten eine vertiefende Auseinandersetzung mit dem Konzept des Körperlichen, wie in allen drei BeitrĂ€gen schon angedeutet, unter geschlechtertheoretisch fundierter Perspektive fĂŒr die Analyse fruchtbar gemacht werden.
Denn die BerĂŒcksichtigung von Differenzkategorien wie etwa der Bezug auf GeschlechterverhĂ€ltnisse oder die ableistische Exklusion in vielen der BeitrĂ€ge ist besonders hervorzuheben. Einerseits scheint sie sich im Kontext der historisierenden Beforschung des Körpers anzubieten, andererseits jedoch auch eine Schwierigkeit zu bergen, etwa weil Ungleichheiten und Differenzen in Hinsicht auf die Bedeutung von Körperlichkeit in Erziehung und Bildung unterschiedlich gut erforscht sind. So ist z.B. der Zusammenhang zwischen Rassismus und Bildung inzwischen gut bearbeitet, die Kategorie Körper jedoch in diesem Zusammenhang bisher noch unterbelichtet. Eine Vertiefung der gegenseitigen Rezeption von Historischer Bildungsforschung, erziehungswissenschaftlicher Geschlechterforschung und erziehungswissenschaftlicher Rassismustheorie könnte hier dazu fĂŒhren, die grundlegende Dimension des Körperlichen fĂŒr Erziehung und Bildung genauer zu erkunden.

Die Publikation wird ihrem im Untertitel formulierten Anspruch, „neue Perspektiven in der Historischen Bildungsforschung“ vorzulegen, nicht nur gerecht, sondern leistet darĂŒber hinaus auch Impulse fĂŒr ein erziehungswissenschaftliches Weiterdenken.

[1] Alkemeyer, T. (2004). Bewegung und Gesellschaft. Zur „Verkörperung“ des Sozialen und zur Formung des Selbst in Sport und populĂ€rer Kultur. In G. Klein (Hrsg.), Bewegung. Sozial- und kulturwissenschaftliche Konzepte (S. 43–78, hier S. 44). Transcript.
Britta Hoffarth (Hildesheim)
Zur Zitierweise der Rezension:
Britta Hoffarth: Rezension von: Berner, Esther / Lauff, Johanna: Körper / Körperlichkeit – neue Perspektiven in der Historischen Bildungsforschung, Jahrbuch fĂŒr Historische Bildungsforschung Band 27. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt 2021. In: EWR 22 (2023), Nr. 2 (Veröffentlicht am 18.04.2023), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978378152480.html