EWR 22 (2023), Nr. 3 (Juli)

Ingrid Lohmann / Julika Böttcher (Hrsg.)
Auf dem Weg ins Türkische Reich
Ein bildungshistorisches Lesebuch
Reihe: Wie die Türken in unsere Köpfe kamen. Eine deutsche Bildungsgeschichte
Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2022
(296 S.; ISBN 978-3-7815-2519-1; 22,90 EUR)
Auf dem Weg ins Türkische Reich In dem Band „Auf dem Weg ins Türkische Reich“ präsentieren die Herausgeberinnen Ingrid Lohmann und Julia Böttcher historische Texte über das Osmanische bzw. Türkische Reich, die sie für ihre eigenen Forschungsarbeiten zusammengetragen haben. Bei diesen gingen sie der Frage nach, „wie sich das Wissen über Türken und die Türkei mit der Zeit wandelte“ (11). Diese Fragestellung erschien ihnen insbesondere deshalb interessant, da es weitgehend in Vergessenheit geraten sei, wie lang und rege (früher) im deutschsprachigen Raum Berichte über dieses Reich bzw. diese Region, die dortige Bevölkerung und Kultur – und insbesondere auch über die dortigen Schulen und Bildungsentwicklungen – publiziert wurden. Das an den Texten ersichtliche „Türkei-Interesse in Pädagogik und Lehrerschaft früherer Epochen“ gehöre nicht nur zu den „unausgeleuchteten Kapiteln der deutschen Bildungs- und Kolonialgeschichte“, sondern sei vielleicht sogar „besonders nachdrücklich“ (ebd.) verdrängt worden. Mit der Herausgabe des Sammelbands soll daher daran erinnert werden, „dass es einst intensive Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei gab, die obendrein bildungsgeschichtlich interessant sein könnten“ (12).

Insgesamt werden in dem Band 66 historische Texte und Textausschnitte präsentiert, die ursprünglich etwa in Zeitschriften, Zeitungen oder Enzyklopädien veröffentlicht wurden. Manche sind sehr kurz, umfassen nicht mal eine Buchseite, andere sind mehrere Seiten lang. Geordnet sind die Texte in sieben thematischen Kapiteln. Der älteste Text stammt aus dem Jahr 1754, der jüngste wurde 1964 veröffentlicht. Jedes Kapitel beginnt mit einem kurzen einleitenden Text der Herausgeberinnen, der – „auf das Nötigste beschränkt“ (12) – in das jeweilige Thema einführt und einen ersten Überblick verschafft. Zusammengestellt ist in dem Band nur ein „Bruchteil der Texte“ (16), die für das Forschungsprojekt der Herausgeberinnen gesammelt wurden. Ausgewählt wurden sie in Hinblick auf ihre bildungshistorische Bedeutung und aufgrund anderer editorischer Kriterien „wie Lesbarkeit, Anschaulichkeit und thematische Abrundung eines Kapitels“ (ebd.). Ganz am Anfang, noch vor dem ersten Kapitel, findet sich darüber hinaus noch eine längere Einleitung von Lohmann und Böttcher, die den Hintergrund, das Konzept und das Ziel dieses Publikationsprojektes erläutert. Daran schließt ein von Tevfik Turan ins Türkische übersetzter Auszug aus dieser Einleitung an.

Die Textsammlung nimmt insofern in der mehrbändigen Buchreihe „Wie die Türken in unsere Köpfe kamen. Eine deutsche Bildungsgeschichte“ eine Sonderstellung ein, als hier keine eigenen Forschungsergebnisse zur Thematik präsentiert werden, sondern den Lesern die Möglichkeit eröffnet werden soll, „sich selbst ein Bild zu machen“ (11). Daher wurde in den einleitenden Texten der Herausgeberinnen bewusst an zusätzlichen Informationen gespart. Dies gilt auch für Informationen über die Autoren, von denen nur manche, beispielsweise die Schriftstellerin Else Marquardsen oder der Generalfeldmarschall Helmuth von Moltke, kurz vorgestellt werden. Statt bereits bestimmte Lesarten, Einordnungen, Interpretationen, Bewertungen oder Urteile vorzugeben, motivieren die Herausgeberinnen dazu, „sich mehr oder weniger ungefiltert mit der verflochtenen deutsch-türkischen Bildungsgeschichte bekannt zu machen“ (ebd.), um auf diesem Weg „eigene Schlüsse zu ziehen, neue Fragen aufzuwerfen, tiefergehende Nachforschungen anzustellen oder auch den eigenen Stereotypen und Vorurteilen zu begegnen“ (12).

Das Lesebuch „soll im besten Fall gewohnte Denkmuster irritieren und Spuren darin hinterlassen“ (ebd.).
Inwieweit diese Ziele erreicht werden, hängt selbstverständlich von der jeweils individuellen Auseinandersetzung mit den Texten und der Thematik sowie mit der mitunter vorhandenen Vorbildung zusammen. Für die Erziehungswissenschaft dürfte der Band allein deshalb anregend sein, da der für die deutschsprachige pädagogische Tradition zentrale und charakteristische – man möchte fast sagen: sagenumwobene – Bildungsbegriff in ganz unterschiedlicher Bedeutung verwendet wird. So ist etwa im Reihentitel von Bildung im Sinne der Aneignung von kulturellem und historischem Wissen über „die Türken“ bzw. die Türkei oder das Osmanische Reich die Rede. Demnach sollen die Texte insbesondere ein Bild davon vermitteln, wie „die Deutschen“ – bzw. die jeweiligen Autoren und ihre Leser – sich ihre Vorstellungen über „die Türken“ gebildet haben bzw. welche Vorstellungen zu unterschiedlichen Zeiten gebildet wurden. Es geht also um die historischen Türken- und Türkei-Bilder, die „in unsere Köpfe kamen“ – oder eventuell auch nicht, was mit diesem Lesebuch nun nachgeholt werden kann. Dazu werden etwa historische Texte über türkische Frauen und Mädchen bzw. über im türkischen Reich lebende Frauen und Mädchen unterschiedlichster Abstammung und ethnischer bzw. kultureller Zuordnung präsentiert (Kap. 1), Texte über die türkische Kultur bzw. über kulturelle Konstellationen im Türkischen Reich (Kap. 2) oder auch Texte über die ökonomische und geopolitische Bedeutung der Gebiete des Türkischen Reichs für die deutschen Länder bzw. für das Deutsche Reich (Kap. 3).

Eine andere Bedeutung kommt dem Bildungsbegriff in den Texten über „die Bildung der türkischen Nation“ zu (Kap. 4). Hier geht es nun nicht um die Bildung „der Deutschen“, sondern um die Bildung „der Türken“, genauer um die damals diskutierte Frage, wie Bildung bzw. Schulbildung zur Bildung eines türkischen Nationalstaates beitragen könne, also zur „Bildung der modernen türkischen Nation“ (122123). Die (moderne) Bildung der Menschen, der Nation und des Staates – und vor allem auch eines dafür als notwendig erachteten allgemeinen Schulwesens – werden hier ganz klassisch in Zusammenhang gedacht, wobei in den ausgewählten Texten oftmals auf die deutsche Vorstellung von Bildung und die damit assoziierte deutsche Nationenbildung verwiesen wird, da, so ein damaliges Argument, der deutsche Bildungsbegriff und die deutsche Bildungsgeschichte der Türkei als nützliche Vorbilder dienen könnten.

Ein engeres Bildungsverständnis vermitteln die Kapitel über das türkische Erziehungswesen (Kap. 5) und die deutschen Auslandsschulen und Auslandslehrer im Türkischen Reich (Kap. 6 und 7), in denen die Schulbildung und die Schulorganisation im Zentrum stehen. Insgesamt erhellend sind die unterschiedlichen Thematisierungen von Bildung, da letztlich ein Gesamtzusammenhang durchscheint, der gewissermaßen bei der Primärsozialisation beginnt und über das Rechnen-, Lesen- und Schreibenlernen bis zu komplexen Auseinandersetzungen mit Kultur und Geschichte sowie Politik und Wirtschaft, zum Fremdsprachenlernen und zu Auslandserfahrungen führt.

Interessant ist diese Textsammlung auch deshalb, weil sie sowohl zur Auseinandersetzung mit der (deutschen, türkischen sowie deutsch-türkischen) Bildungs- als auch Kolonialgeschichte anregt. Dies gilt nicht nur in Bezug auf die hier präsentierten historischen Texte, die einen spezifischen deutschen Kultur-Kolonialismus propagieren, um im Orient mit England und Frankreich und deren Formen des Imperialismus und Kolonialismus zu konkurrieren, sondern natürlich auch in Hinblick auf die koloniale und imperiale Geschichte des Türkischen Reichs selbst. Auch wenn die islamische Expansion und die Kolonialgeschichte der verschiedenen islamischen Imperien in den Texten nicht als eigenständiges Thema umfassend behandelt werden, wird doch ständig daran erinnert: Wenn etwa von den verschiedenen im Türkischen Reich lebenden Ethnien die Rede ist, von den verschiedenen dort gesprochenen Sprachen, den unterschiedlichen kulturellen Einflüssen und den vielen vormals osmanisch dominierten Gebieten und Städten in Orient und Okzident, die heute bekanntlich nicht mehr zur Türkei gehören. Auch das in etlichen Texten zumindest kurz angesprochene Thema der im Türkischen Reich praktizierten Sklaverei erinnert immer wieder an die dunklen Seiten dieses Imperiums.

Der Sammelband kann daher nicht nur als Anregung genommen werden, um über „die Türken“ und wie sie „in unsere Köpfe“ kamen nachzudenken, sondern darüber hinaus und damit verbunden (etwas großspurig formuliert) auch grundsätzlich über die globale Kulturgeschichte bzw. die Entstehung und Bildung der modernen (kolonialen und postkolonialen) Welt. Für die Erziehungswissenschaft stellt dieses zweifellos äußerst komplexe Themenfeld ein vielversprechendes Forschungsgebiet dar, zu dem es fraglos noch viel beizutragen gibt. Das liegt nicht nur daran, dass das Türkei-Interesse der deutschsprachigen Pädagogik, sondern vermutlich auch ganz allgemein der Zusammenhang von Bildungs- und Kolonialgeschichte derzeit noch unterbelichtet ist und vielleicht sogar verdrängt wurde. Auch kann man sich mitunter des Eindrucks nicht erwehren, dass die zentrale Bedeutung umfassender historischer und (kultur-) vergleichender Perspektiven in der Erziehungswissenschaft weitgehend in Vergessenheit geraten ist. Das gelungene bildungshistorische Lesebuch über das Türkische Reich kann daher all jenen nachdrücklich empfohlen werden, die ihre Erinnerung auffrischen oder sich einfach nur historisch-kulturell bilden wollen.
Phillip D. Th. Knobloch (Dortmund)
Zur Zitierweise der Rezension:
Phillip D. Th. Knobloch: Rezension von: Böttcher, Ingrid Lohmann und Julika (Hg.): Auf dem Weg ins Türkische Reich, Ein bildungshistorisches Lesebuch Reihe: Wie die Türken in unsere Köpfe kamen. Eine deutsche Bildungsgeschichte. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2022. In: EWR 22 (2023), Nr. 3 (Veröffentlicht am 19.07.2023), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978378152519.html