EWR 23 (2024), Nr. 3 (Juli)

Dennis Mathie
Der Türken- und Türkeidiskurs in Schulbüchern 1919–1945
Zwischen Wissenszuwachs und Stagnation
Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2023
(276 S.; ISBN 978-3-7815-2561-0; 39,90 EUR)
Der Türken- und Türkeidiskurs in Schulbüchern 1919–1945 Dennis Mathies Buch ist als fünfter Band der Schriftenreihe "Wie die Türken in unsere Köpfe kamen. Eine deutsche Bildungsgeschichte" erschienen. Zentraler Untersuchungsgegenstand des Buches ist das Wissen über Türken und die Türkei in 253 deutschen Geschichts- und 168 Geografieschulbüchern aus den Jahren 1919 bis 1945 [1]. Geleitet wird die Studie von der Erkenntnis, dass die Zwischenkriegszeit für Deutschland und die Türkei in mehrfacher Hinsicht eine Zeit des Dazwischen darstellte, in der sich auch das Türkeibild im deutschen Schuldiskurs im paradoxen Raum zwischen ‚Freund‘ und ‚Feind‘ bewegte. Ergänzt wird diese Erkenntnis durch die Verknüpfung der Analyse deutsch-türkischer Verflechtungen mit der Betrachtung relevanter pädagogischer, medialer und politischer Diskurse der Zeit – ein Ansatz, der wesentlich zur Bedeutung des Buches für die Bildungsmedienforschung beiträgt. Im Einklang mit neuesten Entwicklungen der rekonstruktiven Forschung ist es das Ziel der Studie, den gesellschaftlich sanktionierten Diskurs über die Türkei und die Türken und seine Entwicklung tiefgehend zu verstehen (15).

Nach einer Einführung in den Stand der Forschung über Schulbücher und über die türkisch-deutschen Beziehungen (Kap. 1) bietet Mathie einen Rahmen für die Analyse von Schulbüchern als Medien der Wissensproduktion an, der auf Höhnes Theorie des Schulbuchs [2] basiert (Kap. 2), und diskutiert anschließend Diskurs und Narrativ durch eine Foucaultsche Linse (Kap. 3). Der Autor entwickelt eine ausgefeilte Methodik, die unterschiedliche Varianten der Diskursanalyse mit Erkenntnissen aus Literaturtheorie, Geschichtswissenschaft und Bildwissenschaft sowie einem offenen Codierverfahren im Sinne der Grounded Theory verbindet, die er sowohl auf die textlichen wie bildlichen Darstellungen in Schulbüchern anwendet (53).

Die Kontextanalyse (Kap. 4) bietet spannende Einblicke in die Zusammenhänge von Schulbuchinhalten und Lehrplanwellen sowie in wichtige Debatten zum Geschichts- und Geografieunterricht im Untersuchungszeitraum. Darüber hinaus bietet das Kapitel eine eingehende historische Analyse der bilateralen deutsch-türkischen Beziehungen nach Versailles, die den Wandel von der Bündnispolitik hin zu Verbot, Distanzierung und Instrumentalisierung sowie die Kontinuitäten in Bezug auf wirtschaftliche Prioritäten von der Weimarer Republik bis zur NS-Zeit aufzeigt. In den Blick geraten dabei nicht nur die deutsche Außen-, Kultur- und Bildungspolitik in Bezug auf die Türkei, sondern auch die Suche der Türkei nach Bildungsimporten im Kontext der kemalistischen Reformen. Da neben den offiziellen staatlichen Diskursen auch nichtstaatliche Akteure wie die Veteranenverbände des Ersten Weltkriegs (Bund deutscher Asienkämpfer – BdAK), die in Fachzeitschriften geäußerten Meinungen von Lehrkräften, die Schriften von Intellektuellen und die Ansichten anderer (z.B. völkisch-nationalistischer) gesellschaftlicher Gruppen einbezogen werden, zeichnet sich die Analyse durch Multiperspektivität aus. Sie zeigt, wie die Türkei nach Bildungsmodellen ´im Westen´ suchte, aber auch, wie das NS-Deutschland der Türkei als Vorbild für Widerstand gegen die Nachkriegsordnung, für autoritäre Staatsführung und Patriotismus sowie für Tugenden wie Tatkraft und Disziplin diente.

Die Diskursanalyse der Schulbücher (Kap. 5) wird von Fragen nach den Orten und Häufigkeiten des Türkeidiskurses sowie nach Narrativen, Benennungspraktiken wie „Osman“ vs. „Türke“ und Attributen geleitet. Das Kapitel stützt sich auf eine diachrone Analyse, um Stagnation und Wendepunkte, Konvergenz und Divergenz im Kontext breiterer Diskurse aufzuzeigen. Herausgearbeitet wird eine Kontinuität und Stabilität der Darstellung, die sich trotz Veränderungen in den bilateralen Beziehungen im Untersuchungszeitraum zwar quantitativ, nicht aber inhaltlich verändert hat. So sind beispielsweise die Bevölkerungsdarstellungen in dieser Zeit weiterhin von stereotypen Bildern von „Sultanen“ oder „Paschas“ mit „Harems“, rassistischen Kategorisierungen als nomadische „Mongolen“ sowie zugeschriebenen Merkmalen wie Trägheit (155) und Lässigkeit (157) geprägt. Positive Eigenschaften werden mit dem türkischen Militär assoziiert, das als „treu“, „tapfer“ und „gehorsam“ beschrieben wird (152). Der türkische Staat hingegen wird mit „schlechter Herrschaft“, Misswirtschaft, Verschwendung und Gewaltherrschaft in Verbindung gebracht (160f.).

Vier Narrative waren im Untersuchungszeitraum dominierend: (1) Das Osmanische Reich ist im Niedergang; (2) Die Türkei gehört (nicht) zu Europa; (3) Das deutsche Engagement in der Türkei ist hilfreich und uneigennützig; (4) Die 'neue Türkei' wird (k)ein Nationalstaat nach europäischem Vorbild (221). Wie in Abb. 16 (nicht 15, sic) anschaulich dargestellt wird, ergibt sich aus der Analyse eine Periodisierung von einer Ausgangsphase nach dem Ersten Weltkrieg über eine Wachstumsperiode nach 1923 bis hin zu einer Stagnationsphase nach 1930, in der die Inhalte über die Türkei eine untergeordnete Rolle spielten (182). Diese Narrative werden mit schulbuchexternen Diskursen in Beziehung gesetzt, wie z.B. die vom paneuropäischen Diskurs beeinflussten Europakonstruktionen (183), die die Türkei so lange ausschlossen, bis die kemalistischen Reformen die Säkularisierung und die europäischen Werte bekräftigten. Eine wichtige Schlussfolgerung besteht darin, dass die drei in der Studie untersuchten Bereiche (1) Schulbuchwissen, (2) schulbuchexternes Wissen und (3) die bilateralen Beziehungen empirisch voneinander entkoppelt sind.

Die Stärken dieses aufschlussreichen Buches lassen sich an drei Punkten festmachen. Erstens zeichnet sich das Buch konzeptionell und methodisch durch Interdisziplinarität aus. Es verwebt verschiedene disziplinäre Zugänge von der Quellenarbeit der Geschichtswissenschaft über sozialpsychologische Ansätze zum Verständnis des ´Selbst´ und des ´Anderen´ bis hin zu Erkenntnissen aus der postkolonialen Theorie sowie transnationalen Ansätzen der Bildungsgeschichte und verbindet diese mit einem in der Korpuslinguistik bzw. Diskursanalyse verwurzelten konzeptionellen Analyseraster. Durch diese Kombination stellt das Buch nicht nur das dominante Verständnis globaler Machtverhältnisse infrage, sondern unterstreicht auch, wie wichtig es ist, Verbindungen jenseits nationaler Einheiten in einer methodisch transnationalen vergleichenden Weise zu betrachten, die weit über die vorherrschenden Ansätze in der Erziehungswissenschaft hinausgeht.

Zweitens leistet das Buch einen Beitrag zur aktuellen Schulbuchforschung. Es eröffnet vielversprechende neue Wege für künftige empirische Arbeiten, indem die Forschung, die sich mit Konstruktionen des ´Anderen´ durch Bildungsmedien befasst, um ein neues Thema, nämlich Bilder von der Türkei und den Türken in der deutschen Öffentlichkeit, bereichert. Vor allem verortet es Schulbuchwissen in einem breiteren, kulturell produzierten und politisch relevanten diskursiven Umfeld, das nicht nur am Rande erwähnt, sondern ebenso gründlich und quellenbasiert untersucht wird wie die Schulbuchinhalte selbst.

Drittens leistet das Buch einen empirischen Beitrag zum Verständnis der deutsch-türkischen Beziehungen in einer Zeit tiefgreifender Veränderungen in beiden Gesellschaften und hinterfragt damit den oft instrumentalisierten Mythos einer unverbrüchlichen deutsch-türkischen Freundschaft. Indem das Buch tief verwurzeltes Wissen über die bilateralen Beziehungen auf den Prüfstand stellt, trägt es entscheidend zu unserem Wissen darüber bei, "wie die Türken in unsere Köpfe kamen". Der Autor zeigt in überzeugender Weise die Historizität und Vielschichtigkeit des Sprechens und Wissens über die Türken und die Türkei in der deutschen Öffentlichkeit und die Rolle der Bildung in diesen Prozessen auf. Zugleich gehen die Ergebnisse über diese Einsichten hinaus, indem sie deutlich machen, dass Schulbuchwissen immer in Relation zu anderen Wissensformen zu verstehen ist. Auch wenn sich zwischen diesen keine direkten Kausalitäten nachweisen lassen, verdeutlicht die Studie, wie komplex die Verflechtungen zwischen den Wissenssträngen sind, und zeigt aufschlussreich, dass Wissen nie singulär oder beliebig ist.

Wie jedes Buch, das zum Nachdenken anregt, wirft auch Mathies Studie einige Fragen auf, die das Feld für weitere Forschung öffnen. Welche Rolle spielt beispielsweise Europa nicht nur als Rahmen, sondern auch als Katalysator für Darstellungen des ´Anderen´ im Zusammenhang mit der nationalen Identitätsbildung? Welche Bedeutung kann dem wohlwollenden deutschen Selbstbild zugeschrieben werden („Faulheit“ würde vielleicht nicht als Merkmal des ´Anderen' hervorgehoben, wenn „Fleiß“ nicht als selbstverständliche Zuschreibung des deutschen Selbstbildes verstanden würde)? Und schließlich, wie trägt die Studie zu einem tieferen Verständnis der aktuellen Entwicklungen der deutsch-türkischen Beziehungen bei?

Durch seinen Reichtum an historischer Analyse und anspruchsvoller Fachsprache ist das Buch sowohl für erfahrene Bildungshistoriker:innen als auch für fortgeschrittene Schulbuchforscher:innen von Interesse. Darüber hinaus spricht es eine breitere intellektuelle Öffentlichkeit an, insbesondere diejenigen, die daran interessiert sind, die eurozentrisch geprägten semi-kolonialen Beziehungen zwischen der Türkei und Deutschland, das gegenwärtige politische Klima in Bezug auf Interkulturalität bzw. Zuschreibungen von ´Fremdheit´ in Deutschland sowie die Rolle der Bildung in diesen Prozessen besser zu verstehen.

[1] Wenn ich mich im Folgenden auf das Wissen über „Türken und die Türkei“ beziehe, halte ich mich an die in den Quellen verwendete Sprache, die auch vom Autor übernommen wurde.
[2] Höhne, T. (2003). Schulbuchwissen. Umrisse einer Wissens- und Medientheorie des Schulbuches. Fachbereich Erziehungswissenschaft der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität.
Simona Szakács-Behling (Hamburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Simona Szakács-Behling: Rezension von: Mathie, Dennis: Der Türken- und Türkeidiskurs in Schulbüchern 1919–1945, Zwischen Wissenszuwachs und Stagnation. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2023. In: EWR 23 (2024), Nr. 3 (Veröffentlicht am 14.08.2024), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978378152561.html