Bei dem zu rezensierenden Band handelt es sich um die kumulative Habilitationsschrift des Potsdamer Erziehungswissenschaftlers Jörg-W. Link. Er führt in diesem Buch elf Einzelstudien zu den Themenkomplexen „Metastudien zum bildungshistorischen Kontext der Reformpädagogik“, „Bildungshistorische Quellenstudien zu Schulreformprozessen“ sowie „Schulpädagogische Perspektiven, Konsequenzen für die Lehrerbildung“ zusammen, die bereits verstreut an anderer Stelle veröffentlicht wurden, und rahmt und verbindet sie durch einen ca. 80-seitigen Manteltext, der die Brücke zwischen den einzelnen Studien und einem erziehungswissenschaftlichen Verständnis von Schulentwicklungsprozessen schlägt. Neben einer „inhaltliche[n], theoretische[n] und methodische[n] Klammer“ (9) der Einzelstudien besteht das Ziel dieses Manteltextes in der Entwicklung eines „Strukturmodell[s] gelingender Schulreformprozesse“ (9).
Zunächst werden das Erkenntnisinteresse (die Frage nach wiederkehrenden (Handlungs-)Mustern gelingender Reformprozesse), das Quellenmaterial (neben Schul- und Personalakten z.B. Schulchroniken, Konferenzprotokolle sowie zwei eigens geführte Interviews) und die Zielsetzung der Arbeit vorgestellt, Historische Schulforschung und Schulentwicklungsforschung zueinander in Beziehung zu setzen. Methodisch folgt Link dabei einem „geschichtstheoretischen Ansatz“ im Sinne von Landwehrs Theorie der „Chronoferenzen“ (17) [1].
Im Anschluss an einen Überblick über den aktuellen Theoriediskurs der Schulentwicklungsforschung, der – so der Befund – nahezu ohne historische Bezugnahmen auskommt (vgl. 23–28), entfaltet Link auf Grundlage seiner empirischen Quellenforschung und der herausgearbeiteten Diskurse „Handlungsmuster und Strukturen“, die von den Akteur:innen „im Reformprozess“ (30) selbst entwickelt worden seien. Als Gelingensfaktoren arbeitet er „Krise, Kommunikation, Kooperation, Kapazitäten und Kompetenzen – als Fünf-K-Struktur gelingender Schulreformprozesse“ heraus (30f.). Mit „Krise“ bezeichnet er den Auslöser eines Reformprozesses, mit „Kommunikation“ den unverzichtbaren und transparenten Austausch aller Beteiligten, mit „Kooperation“ eine verantwortungsdifferenzierende Zusammenarbeit, mit „Kapazitäten“ die Schaffung von Raum und Zeit für Reformen und mit „Kompetenzen“ die durchgängige Bereitschaft zur Reflexion der gemachten Erfahrungen. Als zusätzliche „Bedingungsmerkmale“ fügt er noch weitere Akteure im Reformprozess („Kinder, Jugendliche und Eltern“) sowie „Kollegiale Kreativität und kollegiale Visionäre bei der Gestaltung alternativer Lehr-Lern-Umgebungen“ (30; Fett- und Kursivsatz im Orig.) hinzu, so dass er final zu einer „Fünf-plus-zwei-K-Struktur gelingender Schulreformprozesse“ (30) gelangt.
Link zeigt im Anschluss die Tragfähigkeit dieses Modells an ausgewählten Schulen der historischen Reformpädagogik sowie an gegenwärtigen Reformschulen – letzteres, indem er eine Dokumentenanalyse der Schulportraits von 92 mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichneten Schulen und weiterer Best-Practice-Beispiele vornimmt (vgl. 43–47 sowie die tabellarische Aufstellung 68–109). Den Abschluss bildet die Auswertung zweier Interviews mit den Schulleitern der Berliner Rütli-Schule und der Berliner Schulfarm Insel Scharfenberg, die Link auf sein Strukturmodell bezieht und anhand derer er ebenfalls die Anwendbarkeit dieses Modells aufzeigen kann (47–49).
Das Fazit des Manteltextes lautet: „Die Schulen der historischen Reformpädagogik sind keine Reform-Museen. Sie stehen vielmehr für Dauerthemen moderner Schulreformprozesse. […] Die Begriffe und Referenzen aktueller Schulentwicklung mögen neu sein, die zu lösenden Entwicklungsaufgaben sind es nicht“ (53). Damit mahnt Link die Unverzichtbarkeit bildungshistorischer Perspektiven für eine pädagogisch fundierte, sich nahe bei den Akteur:innen befindende Theoriegestalt an.
Im Anschluss werden die elf Einzelstudien von Link kurz vorgestellt und in den thematischen Kontext eingeordnet. Bei den Metastudien handelt es sich um die beiden Handbuchartikel [2] „Reformpädagogik im historischen Überblick“ und „Reformpädagogik und staatliche Schulreform“, in denen sich Link als profunder Kenner der deutschsprachigen Reformpädagogik und ihrer Praxis insbesondere in der Weimarer Republik erweist.
Die bildungshistorischen Quellenstudien befassen sich mit „Ländlichen Reformschulen“ zwischen 1918 und 1945, mit einem Beitrag von Fritz Karsen aus dem Jahre 1924, in dem dieser „Die neuen Schulen in Deutschland“ einzuordnen versuchte, mit dem „Institut für Völkerpädagogik in Mainz“ (1931–1933), das ein internationales Netzwerk von Reformschulen aufbauen wollte, mit der „Volksschule im Nationalsozialismus“, in der die reformpädagogische Praxis zerstört oder instrumentalisiert werden sollte, was nicht restlos gelang, und schließlich zweimal mit der Odenwaldschule (mit deren Oberstufenreform und ihrer Konferenzverfassung, schwerpunktmäßig in den 1950er-Jahren).
Auf seine Beiträge zu der aufgrund zahlreicher Missbrauchsvorwürfe höchst umstrittenen Odenwaldschule geht Link bereits im Rahmen des Manteltextes in einer ausführlichen und klaren „Zwischenbemerkung“ ein. Er verurteilt den sexuellen Missbrauch und den pädagogischen Vertrauensbruch in aller Schärfe, warnt jedoch vor Pauschalurteilen und Kollektivverurteilungen und beschreibt überzeugend, wie ein wissenschaftlicher Umgang mit der Geschichte dieser Schule aussehen könnte.
Bei den Studien des dritten Themenkomplexes handelt es sich um zwei Beiträge, die sich mit zentralen Merkmalen reformpädagogischer Praxis und Voraussetzungen ihrer Umsetzung beschäftigen, nämlich mit „Schule als Lebensraum“ sowie mit „Bausteine[n] für eine subjektorientierte Organisation schulischer Bildungsgänge“. Der letzte Text aus dem Jahre 2022 berichtet die Ergebnisse einer Studierendenbefragung nach dem Besuch einer erziehungswissenschaftlichen Begleitveranstaltung zum Praxissemester. Von sehr vielen Studierenden wurde die Erziehungswissenschaft nach der Veranstaltung als deutlich relevanter für ihr Studium und als Fundament für die Reflexion pädagogischen Handelns eingeschätzt als vorher – eine zentrale Kompetenz für die Beteiligung von Lehrkräften an Schulentwicklungsprozessen, deren Relevanz Link im Manteltext deutlich herausgearbeitet hat.
Die hier vorgelegte Veröffentlichung ist in mehrfacher Hinsicht von großer Bedeutung für die Erziehungswissenschaft: Zuerst zu nennen ist die Auswertung zahlreicher bislang unbeachteter Archivmaterialien und Quellen aus diversen Schul(versuch)en mit dem Ziel der Herausarbeitung von Gelingensbedingungen für Reformprozesse. Des Weiteren ist die Entwicklung des Strukturmodells aus diesen empirisch abgesicherten historischen Untersuchungen hervorzuheben, dessen Tauglichkeit und Eignung auch für aktuelle Schulentwicklungsforschung Link deutlich machen kann, indem er die Gültigkeit des Modells an gegenwärtigen Preisträger-Schulen nachweist. Damit zeigt er überzeugend auf, dass die Historische Bildungsforschung zu aktuellen erziehungswissenschaftlichen und schulpädagogischen Fragestellungen fundierte, in Teilen auch quasi überhistorisch geltende Erkenntnisse und Überlegungen beitragen kann. Das Buch von Link ist durchaus dazu angetan, die Bedeutung der historischen Schulreformforschung für die Theorie der Schulentwicklung zu stärken und mit guten Argumenten für ein stärkeres Zusammenwirken der erziehungswissenschaftlichen Teildisziplinen zu werben.
Die Frage bleibt offen, ob sich aus den Quellen und Erhebungen auch Schlüsse auf Hemmnisse und Widerstände für Gelingensbedingungen hätten herausarbeiten lassen, aber das mag Gegenstand weiterer Untersuchungen werden. Mit Blick auf die bearbeitete Fragestellung kann diese Publikation von Jörg-W. Link vollumfänglich überzeugen.
[1] Vgl. Landwehr, A. (2016). Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit: Essays zur Geschichtstheorie (S. 28). S. Fischer Verlage.
[2] Link, J.-W. (2018). Reformpädagogik im historischen Überblick. In H. Barz (Hrsg.), Handbuch Bildungsreform und Reformpädagogik (S. 15–30). Springer VS.
Link, J.-W. (2017). Reformpädagogik und staatliche Schulreform. In T.-S. Idel & H. Ullrich (Hrsg.), Handbuch Reformpädagogik (S. 89–104). Beltz.
EWR 23 (2024), Nr. 2 (April)
Gelingensbedingungen von Schulreform
Bildungshistorische Befunde als Schlüssel zum pädagogischen Verständnis von Schulentwicklungsprozessen und als Erweiterung des Theorienverbundes zur Schulreform
Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2023
(281 S.; ISBN 978-3-7815-2562-7; 44,00 EUR)
Sylvia SchĂĽtze (Bielefeld)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sylvia SchĂĽtze: Rezension von: Link, Jörg-W.: Gelingensbedingungen von Schulreform, Bildungshistorische Befunde als SchlĂĽssel zum pädagogischen Verständnis von Schulentwicklungsprozessen und als Erweiterung des Theorienverbundes zur Schulreform. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2023. In: EWR 23 (2024), Nr. 2 (Veröffentlicht am 07.05.2024), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978378152562.html
Sylvia SchĂĽtze: Rezension von: Link, Jörg-W.: Gelingensbedingungen von Schulreform, Bildungshistorische Befunde als SchlĂĽssel zum pädagogischen Verständnis von Schulentwicklungsprozessen und als Erweiterung des Theorienverbundes zur Schulreform. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2023. In: EWR 23 (2024), Nr. 2 (Veröffentlicht am 07.05.2024), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978378152562.html