EWR 23 (2024), Nr. 4 (Oktober)

Michael Kämper-van den Boogaart / Sabine Reh / Christoph Schindler / Jochaim Scholz (Hrsg.)
Abitur und Abituraufsätze zwischen 1882 und 1972
Prüfungspraktiken, professionelle Debatten und Aufsatztexte
Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2023
(350 S.; ISBN 978-3-7815-2609-9; 24,90 EUR)
Abitur und Abituraufsätze zwischen 1882 und 1972 Seit dem späten 19. Jahrhundert nimmt das Abitur im deutschen Bildungs- und Schulsystem in mindestens zweifacher Hinsicht eine zentrale Stellung ein: Es ist quasi der Goldstandard, an dem sich andere (Abschluss-)Prüfungen orientieren, und es bildet das zentrale Scharnier, das über die weiteren Ausbildungs- und Karrierepfade entscheidet. Die Bedeutung des Abiturs geht jedoch über den eigentlichen schulischen und Bildungsbereich hinaus: Auf individueller Ebene attestiert es der Einzelnen bzw. dem Einzelnen die allgemeine (Hochschul-)Reife, und damit, wenn man so möchte, eine sozial günstige Entwicklung der Persönlichkeit. Auf gesellschaftlicher Ebene ist es auf das Engste mit dem Selbstbild des (Bildungs-)Bürgertums und in der Folge mit der deutschen National- und Gesellschaftsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert verknüpft.

Viele dieser Dinge sind hinlänglich bekannt, weshalb man sich, wenn man das vorliegende Buch zur Hand nimmt, im ersten Moment fragt, was dem noch hinzugefügt werden kann. Der Band geht auf das Forschungsprojekt „Abiturprüfungspraxis und Abituraufsatz 1882 bis 1972“ zurück, das die Leibniz-Gemeinschaft in den letzten Jahren gefördert hat und das in einer interdisziplinären Kooperation von der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung und dem Informationszentrum Bildung, beides Einrichtungen des DIPF Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation, sowie dem Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin bearbeitet wurde. Der Band fasst die Ergebnisse der Forschungsgruppe, die zum Teil bereits an anderer Stelle erschienen sind, zusammen.

Das Ziel des Projekts war es, wie Sabine Reh und Michael Kämper-van den Boogaart in ihrer kurzen Einleitung formulieren, das Abitur und insbesondere den deutschen Abituraufsatz „aus einer bildungshistorisch-praxeologischen, einer wissens- und materialgeschichtlichen und insbesondere einer fachdidaktisch-historischen Perspektive“ (10) zu untersuchen. Es ging also darum, die vorhandene Forschung, die sich bereits intensiv aus sozialhistorischer und ideologiekritischer Sicht mit dem Thema befasst hat und die die Abituraufsätze schon seit Längerem als „Spiegel des Zeitgeistes“ [1] entdeckt hat, zu ergänzen. Hierzu wurde im Forschungsprojekt ein Quellenkorpus von mehreren Tausend Abituraufsätzen sowie Prüfungsakten zusammengestellt und zum Teil retrodigitalisiert. Sie stammen vor allem aus Preußen und Bayern, zum Teil auch aus Württemberg, und umfassen den Zeitraum von 1882 – dem Jahr, in dem die Prüfungsverordnungen der höheren Schulen in Preußen vereinheitlicht wurde – bis 1972, als in der Bundesrepublik die Verordnung über die Reform der gymnasialen Oberstufe in Kraft trat.

Der Band präsentiert die Ergebnisse des Forschungsprojekts in drei Themenfeldern. Die Beiträge des ersten Teils befassen sich mit der Geschichte des Abiturs als einer ambivalenten Prüfungspraxis zwischen rechtlicher Normierung und Individualisierung. Die Grundlage dafür bildet der Aufsatz eines Autor:innen-Kollektivs um Sabine Reh, der sich mit den administrativen Verordnungen befasst, die die Abiturprüfung in Preußen und Bayern seit dem späten 19. Jahrhundert regelten. Der Beitrag zeichnet die Entwicklung minutiös nach, wobei neben den normativen Vorgaben die Praxis der Abiturprüfung und die Besonderheiten im Fach Deutsch in den Blick geraten. Die Autor:innen veranschaulichen, wie eine unterschiedliche behördliche Handhabung, die in der frühen Zentralisierung der Prüfung in Bayern am deutlichsten zum Ausdruck kommt, Auswirkungen auf die Prüfungspraxis hatte. Die bayerische Praxis zeichnete sich demnach dadurch aus, dass sie der Notenfindung eine große Bedeutung beimaß, während in Preußen die „bürokratische Durchdringung des Prüfungsaktes“ (45) im Vordergrund stand. Trotz solcher Unterschiede zeige sich in der Gesamtschau eine erstaunlich ähnliche Entwicklung. Sie sei zum einen durch eine überraschende Kontinuität gekennzeichnet gewesen und zum anderen durch eine wachsende Normierung und Regulierung. Letztere ergab sich aus dem Zwang, die Abiturprüfung justiziabel zu machen.

Die weiteren Beiträge des ersten Teils nutzen die geschilderten Normierungstendenzen als Kontrastfolie für ihre Darstellung. Kerrin von Engelhardt setzt sich in ihrem Text mit den bürokratischen „Papiertechnologien“ der Reifeprüfung auseinander. In Rückgriff auf praxeologische Überlegungen untersucht sie dazu die im Prüfungsprozess gebildeten Akten als Artefakte, die Auskunft geben über die soziale Praxis und das geteilte Wissen der beteiligten Akteur:innen. So kann sie zeigen, dass die Aktenführung nicht nur dazu diente, den bürokratischen Prozess zu dokumentieren und effizient zu gestalten, sondern der Vorgang zugleich „Disziplin, Sorgfalt, Höflichkeit und nicht zuletzt die Praxis des schriftlichen Ordnens“ (67) ritualisierte. In einem weiteren Beitrag richtet Denise Löwe den Blick auf die vielschichtigen Subjektivierungsprozesse, die mit dem Abitur als Prüfung der schulischen Leistung, als Ausdruck der persönlichen Reifung und als bürokratischem Akt verbunden waren. Sie resümiert, dass das Abitur als eine sich zwar inhaltlich, aber kaum strukturell ändernde Prüfungspraxis nicht nur in zunehmendem Maße der gesellschaftlichen Distinktion diente. Es führte auch dazu, dass sich ein spezifischer Abiturient:innen-Habitus herausbildete, der seinerseits einem historischen Wandel unterworfen war. Sabine Reh befasst sich mit den Veränderungen, die sich durch die Vorgaben der französischen Besatzungsmacht für die Abiturprüfung in Württemberg nach 1945 ergaben. In Anlehnung an transferhistorische Überlegungen zeigt sie auf, dass die Prüfungspraxis keineswegs einseitig – von oben nach unten – geändert wurde, sondern lokale Akteur:innen stets aktiv in die Anpassungen eingebunden waren.

Die Beiträge des zweiten Teils machen die Geschichte des Abituraufsatzes zwischen 1945 und 1972 auf unterschiedliche Weise zum Thema. Hier zeigt sich deutlich der interdisziplinäre Charakter der Forschungsgruppe, denn bei einigen der Beiträge handelt es sich explizit um literaturanalytische Studien, andere greifen entsprechende Überlegungen auf. Diese Beiträge sind auch aus bildungshistorischer Sicht ein großer Gewinn, weil sie den grundsätzlichen Wert von Schulaufsätzen als Quellen diskutieren. Überlegungen dazu präsentiert Britta Eiben-Zach in einem einleitenden Artikel, in dem sie unter anderem darauf verweist, dass der Aufsatz auch dazu diente, die „Persönlichkeit“ der Schreiberin bzw. des Schreibers abzufragen. Dies sei allen Beteiligten bewusst gewesen, weshalb die Autorin davor warnt, das Ergebnis als authentischen Text zu lesen.

Weitere Aufsätze des zweiten Teils befassen sich mit dem Wandel des Aufsatzes – vom literarischen Bericht zur Literaturanalyse – und mit den Auseinandersetzungen, die mit dem Übergang vor allem in den 1950er und 1960er Jahren verbunden waren. Diskutiert werden unter anderem der Einfluss des ‚Schulgermanisten‘ Robert Ulshöfer und der Marburger Seminarleiterin Erika Essen. Schließlich wird in einigen Beiträgen anhand von konkreten Fallbeispielen die fachdidaktisch-historische Ebene angesprochen. So erörtern zum Beispiel Sabine Reh und Marco Lorenz in ihrem Beitrag die polyvalente Funktion von Korrigieren, Kommentieren und Beurteilen. Sie zeigen, dass die Beurteilungen, die mit diesen Praktiken verbunden sind, subjektivierend wirken, wenn etwa ein Lehrer den Aufsatz eines Schülers nicht nur aufgrund fachlicher Gründe als „ungenügend“ bewertet, sondern ihm grundsätzlich die Fähigkeit zu klarem Denken und Formulieren abspricht. Die Autor:innen argumentieren, dass letztlich erst durch solche Praktiken eine Vorstellung von der Autorin bzw. dem Autor des Texts herausgebildet wird.

Im dritten Teil des Bandes werden in drei kürzeren Texten schließlich das Quellenkorpus des Forschungsprojekts sowie seine Nutzbarmachung bzw. Nutzung vorgestellt und diskutiert. Zur Sprache kommen unter anderem die Überlieferungssituation von Prüfungsakten, die Herausforderungen, die mit der Transkription von Abituraufsätzen verbunden sind, sowie die Möglichkeiten, die sich durch die Digitalisierung ergeben.

Der vorliegende Band erfüllt als Abschlussband des oben genannten Forschungsprojekts sämtliche Erwartungen, die man an ihn stellt: Er beschreibt Forschungsfrage und -design, präsentiert die Ergebnisse in gut nachvollziehbarer Form – und er liefert neue Erkenntnisse über das Abitur und den Abituraufsatz. Neben dem summarischen Überblick über die administrativen Verordnungen und den fundierten Diskussionen über den Abituraufsatz als historische Quelle erweisen sich besonders die neuen Einblicke in die Prüfungspraxis und die Analyse der subjektivierenden Effekte des Abiturs als gewinnbringend. Sicherlich wäre es wünschenswert gewesen, den räumlichen Fokus stärker zu differenzieren, indem weitere deutschsprachige Länder einbezogen oder häufiger der Vergleich mit der Entwicklung in Frankreich oder England gesucht worden wäre. Auch hätte man sich gewünscht, dass die Aufsätze weniger einseitig die Zeit nach 1945 fokussiert und stärker das 19. und frühe 20. Jahrhundert in den Blick genommen hätten. Vor allem die Zeit des Nationalsozialismus tut sich hier als Lücke auf, die mit dem Argument, es habe sich nicht viel geändert, kaum zu begründen ist. Diese Monita schmälern die hohe Qualität des vorliegenden Bandes aber kaum, der mit seinen Aufsätzen in viele Richtungen zu weiterem Nachdenken anregt.

[1] So etwa: H. J. Apel (1991). Abituraufsätze als Spiegel des Zeitgeistes. Von Schillers Wallenstein zu Brecht und Dürrenmatt. Archiv für Kulturgeschichte, 73 (2), 454–468.
Daniel Gerster (Hamburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Daniel Gerster: Rezension von: Michael, Kämper-van den Boogaart, / Sabine, Reh, / Christoph, Schindler, / Joachim, Scholz, (Hg.): Abitur und Abituraufsätze zwischen 1882 und 1972, Prüfungspraktiken, professionelle Debatten und Aufsatztexte. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2023. In: EWR 23 (2024), Nr. 4 (Veröffentlicht am 12.11.2024), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978378152609.html