EWR 7 (2008), Nr. 1 (Januar/Februar)

Andreas Rutz
Bildung – Konfession – Geschlecht
Religiöse Frauengemeinschaften und die katholische Mädchenbildung im Rheinland
(Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Bd. 210)
Mainz: von Zabern 2006
(505 S.; ISBN 978-3-8053-3589-8; 51,00 EUR)
Bildung – Konfession – Geschlecht Mit der leicht überarbeiteten Version seiner Dissertation legt der Historiker Andreas Rutz eine grundlegende Studie für die Geschichte der Mädchenbildung und weiblicher Formen der Religiosität vor. Untersucht werden Einrichtungen für die elementare Unterweisung von Mädchen, die vor allem im nördlichen Rheinland, im Stift Essen, in den Herzogtümern Jülich, Kleve und Berg und in den Reichsstädten Köln und Aachen zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert entstanden sind. Die regionale Fokussierung der Arbeit wird oft mit einer breiteren Kontextualisierung der behandelten historischen Phänomene bereichert, bei der sowohl die dem Rheinland nahe liegenden Regionen als auch – punktuell – der weitere europäische Raum in die Analyse einbezogen werden. Diese nicht systematischen Verweise auf den europäischen Raum dienen Vergleichen konfessioneller, kultureller, institutioneller und ökonomischer Art.

Wie breit der Zugang zum Untersuchungsgegenstand insgesamt gefächert ist, zeigt sich in der Heterogenität der ausgewerteten Quellen und darin, dass auf unterschiedlichen Ebenen der Erforschung der katholischen Mädchenbildung im Rheinland nachgegangen wird. Neben Schulakten und Überlieferungen religiöser Frauengemeinschaften werden als serielle Quellen Ratsprotokolle, Visitationsprotokolle kirchlicher Obrigkeiten, Kirchen- und Stadtrechnungen, Testamente, Zivilprozessakten, Akten der landesherrlichen und geistlichen Verwaltungen unter anderem aus dem Hauptstaatlichen Archiv Düsseldorf, dem Landeshauptarchiv Koblenz und den Bistumsarchiven Aachen und Köln ausgewertet. Das Korpus der gedruckten Quellen, die darüber hinaus in Betracht gezogen werden, besteht vorrangig in den inzwischen zum Kanon gewordenen pädagogischen und philosophischen Traktaten über die Mädchenerziehung (Vives, Fénelon, Rousseau, Campe).

Der Anspruch, das Engagement der religiösen Frauengemeinschaften für die Etablierung monoedukativer Bildungseinrichtungen vielschichtig zu konturieren, wird aus der Gliederung des untersuchten Materials ersichtlich. Eingeführt in die Thematik wird man vor allem durch drei so genannte „Annäherungen“ (27-79), welche die Mädchen- und Frauenbildung in die weitere Problematik der frühneuzeitlichen Alphabetisierung einbetten. Sich beziehend vor allem auf die Studien, welche die Forschergruppe um Roger Chartier über die Lesepraktiken und über den Buchbesitz in Frankreich während des 16. und 17. Jahrhunderts durchgeführt hat, beschreibt Rutz, wer im Rheinland Bücher besessen hat, den Wandel von Lesepraktiken, wie sich die Themen, über die geschrieben wurde, veränderten und die rheinländische Schullandschaft.

Bei diesen einführenden Darstellungen scheinen mir vor allem zwei Ergebnisse von historischer und politischer Relevanz zu sein: Das erste betrifft das Verhältnis von Bildung und Konfession, das zweite berührt den Zusammenhang von Bildung und Emanzipation.

1) Durch vergleichende Ausführungen zu Alphabetisierungsprozessen in protestantischen und in katholischen Gebieten kommt Rutz zu dem Schluss, dass kein „katholisches Bildungsdefizit“ vor dem 19. Jahrhundert, d.h. vor der Säkularisierung, festzustellen sei (36).

2) Die Auswertung der für die monoedukative Unterweisung der Mädchen vorgesehenen Lehrpläne sowie des Inhalts weiblicher Lektüre, aber vor allem eine m.E. historisch verengte Deutung pädagogischer Literatur lassen den Autor behaupten, dass weibliche Elementarbildung nur beschränkt einen emanzipatorischen Charakter gehabt habe, „da die Gegenstände des Wissens, die mit Hilfe der Lektüre entdeckt werden konnten, nicht der Verstandesbildung, sondern vielmehr der Wesenserziehung im Sinne der überkommenen gesellschaftlichen Normen dienten. Dementsprechend ist auch das sich in der Frühen Neuzeit herausbildende Mädchenbildungswesen nicht vorschnell als Teil einer weiblichen Emanzipation zu missdeuten“ (52).

Dem Autor sind diesbezüglich sowohl sein historisch undifferenzierter Gebrauch des Begriffs „Emanzipation“ als auch seine hermeneutische Herangehensweise an pädagogische und philosophische Literatur vorzuwerfen. In seiner allgemeinen Kritik an der historischen Frauenforschung, welche die emanzipatorische Funktion der Mädchenbildung zu stark hervorgehoben habe, argumentiert Rutz mit einem unpolitischen Emanzipationsbegriff. Dass Mädchen und Frauen in der Frühen Neuzeit in den meisten Fällen nach einem bestimmten Modell von Weiblichkeit erzogen wurden, muss zwar beachtet werden. Allerdings darf auch nicht übersehen werden, dass die reine Alphabetisierung von Schichten und Gruppen, denen zuvor die Schrift unzugänglich war, ihnen zugleich die Möglichkeit eröffnete, über inhaltliche Beschränkungen hinauszugehen. Ein politisch aufgeklärter Begriff der Emanzipation beinhaltet, dass die Emanzipation von sozial und politisch Benachteiligten – und damit auch von Frauen – kaum das Resultat gewollter Wirkungen gewesen ist. Sie hatte aber oft die Aneignung von Mitteln zur Voraussetzung, die nicht zum Zweck einer von ihren Initiatoren intendierten Verstandsbildung erworben wurden.

Im zweiten Teil des Buchs, der die Überschrift „Strukturen und Entwicklung“ trägt und den Kern der Untersuchung bildet (81-384), analysiert Rutz den Wandel von einer elitären Mädchenerziehung, die vom 10. bis 15. Jahrhundert vor allem in Klöstern und Stiften stattfand, zu einer an breitere Schichten der Bevölkerung adressierten Erziehung in klösterlichen Elementarschulen für Mädchen. Angetrieben haben diese Entwicklung, Rutz zufolge, vorwiegend religiöse Frauengemeinschaften. Inspiriert vor allem von dem männlichen Modell des Jesuitenordens entsprachen sie dem apostolischen Profil, das die katholische Kirche forderte, um auf die protestantische Reformation zu reagieren.

Die ausführliche Darstellung der verschiedenen Frauengemeinschaften, ihrer Entstehungsgeschichte und ihres weltlichen Apostolats im Bereich der Mädchenbildung ist sowohl bezüglich der pädagogischen Grundsätze ihrer Unterrichtstätigkeiten als auch hinsichtlich der institutionellen Veränderung weiblicher Religiosität sehr informativ. Trotz Unterschieden in ihren Verfassungen seien sich Ursulinen (weiblicher Lehrorden), Sepulkrinerinnen, Augustiner Chor-Frauen und Tertiarinnen in der Gestaltung ihrer Lehre für Mädchen sehr ähnlich gewesen. Bei allen sei eine Unterrichtsorganisation zu finden, für die die Trennung von Pensionärinnen und Elementarschülerinnen von zentraler Bedeutung gewesen sei. Analoge Lehrmethoden, welche den Klassenunterricht und einheitliche Lehrmittel einführten, sowie die Reduzierung von Strafen und ein disziplinierender Wettbewerb kamen hinzu.

Die Schilderung des weltlichen Engagements der oben erwähnten Frauengemeinschaften stellt nicht nur – wie schon angedeutet – ein interessantes Kapitel der Bildungsgeschichte, sondern auch eine bedeutende Phase einer kulturwissenschaftlichen Religionsgeschichte dar. Wie vom Autor hervorgehoben beinhaltet die Lehrtätigkeit dieser Frauengemeinschaften eine Verweltlichung ihres religiösen Apostolats: „Dass die weiblichen Lehrorden trotz der im Trient eingeschärften Klausur für Ordensfrauen ihr Apostolat in der Mädchenbildung fortsetzen und sogar als integralen Bestandteil ihrer Verfassung festschreiben konnten, bedeutete bei allen Umformungen und Einschränkungen, die diese Gemeinschaften im Laufe ihrer Entwicklung hinnehmen mussten, einen entscheidenden Wandel in der Geschichte des weiblichen Religiosentums“ (145).

In Rutz’ Rekonstruktion des weiblichen Apostolats im Bereich der Mädchenbildung werden auch Dynamiken sichtbar, die die Professionalisierung der Lehrtätigkeit der Frauen und die Kanonisierung der frühneuzeitlichen Mädchenbildung angehen. Die bereits erwähnte Unterscheidung zwischen Pensionärinnen und Elementarschülerinnen ist ein Beispiel dafür. Der Unterschied habe, so Rutz, nicht so sehr in der Länge des Unterrichts als eher in dem Spektrum der Unterrichtsfächer bestanden. Während Lesen, Schreiben, Katechismuslehre und Handarbeit beiden Gruppen von Schülerinnen unterrichtet worden sei, seien Tanz, Musik, Fremdsprachen und Zeichnen ausschließlich den Pensionärinnen vermittelt worden, die meistens höheren sozialen Schichten entstammten als die Elementarschülerinnen.

Dank der Beachtung des unterschiedlichen sozialen Profils der Schülerinnen kommt Rutz zu einigen Ergebnissen die frühneuzeitlichen Schultypen betreffend, die sich von derzeit wissenschaftlichen anerkannten Klassifizierungen und Periodisierungen wesentlich unterscheiden (vgl. 309f.). Statt wie Petschauer [1] zwischen elementaren, mittleren und höheren Mädchenschulen, schlägt er vor, zwischen Elementarschulen, Pensionats- oder französischen Schulen und Spezialschulen zu differenzieren, die nur in einem Fach unterrichteten und als Ergänzung zu Elementarschulen oder zu Berufsbildung zu betrachten seien.

Durch die Darstellung der Lehrorganisation, der Lehrpläne, der Träger und Förderer all dieser Schulen hat Rutz ein bis jetzt unbekanntes Kapitel der Schulgeschichte geschrieben. Zwar bildeten die katholischen Mädchenschulen, wie der Autor selbst anmerkt, eher eine Ausnahme als die Regel innerhalb einer Schullandschaft, die vorwiegend von koedukativen Elementarschulen geprägt gewesen sei. Deren Untersuchung ermögliche aber zu erfahren, was sich bei der Erforschung der anderen Schultypen als unzugänglich erweise: Inhalte, Formen sowie Praktiken der Bildung für Mädchen.

Seinem historiographischen Selbstverständnis nach will Rutz die Schulpolitik mit der Schulwirklichkeit mittels einer empirischen Untersuchung kontrastieren. Habe sich die ältere historische Forschung die Realität von Schulprozessen entweder aus der politischen Programmatik oder im Falle der historischen Frauenforschung aus dem ideengeschichtlichen Hintergrund der philosophischen und pädagogischen Literatur über Mädchenbildung erschlossen, intendiere er Kontext (Teil A: Annährungen), Schulwirklichkeit (Teil B: Strukturen und Entwicklungen) und Sozialisation (Teil C: Erziehung – Bildung – Sozialisation) einer regionalen Institution in einer sozialgeschichtlichen und kulturwissenschaftlichen Perspektive zu erfassen.

Aber gerade dies scheint dem Autor nicht zu gelingen: Sind seine empirischen Untersuchungen einer bestimmten Form des niederen Schulwesens akribisch, ist hingegen seine Beschäftigung mit pädagogischer und philosophischer Literatur sehr selektiv – ja, man könnte sagen: sehr traditionell. Vor allem im letzten Teil der Arbeit (385-422), wo es um das Verhältnis von Erziehung, Bildung und Sozialisation geht, leitet er genau wie die von ihm kritisierte historische Frauenforschung „wirkliche“ Sozialisationsprozesse aus der Programmatik der pädagogischen und philosophischen Traktate über die Mädchenbildung ab.

Wo er die Schule mit Dülmen als einen historischen Ort der Sozialisation darstellen will, beschränkt er sich darauf, die Lehrpläne und das Verhalten der Lehrerinnen in den rheinländischen katholischen Mädchenschulen mit dem kanonischen Deutungsmuster zu interpretieren, demzufolge das Wesen der Frauen in ihrer dreifachen Bestimmung als Mutter, als Hausfrau und als Ehefrau bestehe. Dann muss man sich aber fragen, worin der Wert einer empirischen Untersuchung liegt, wenn sie das von der Ideengeschichte tradierte Bild der frühneuzeitlichen Mädchenbildung letztendlich nur übernimmt. Der Erkenntnisgewinn der Arbeit von Rutz ist m.E. eher in dem Zusammenhang zu sehen, den er zwischen der Entstehung einer bestimmten Form von Semireligiosentum und der Entwicklung des Lehrberufs für Frauen herstellt.

[1] Petschauer, Peter: The Education of Women in Eighteenth-Century Germany. New Directions from the German Female Perspective. Lewiston: Mellen 1989.
Rita Casale (Zürich)
Zur Zitierweise der Rezension:
Rita Casale: Rezension von: Rutz, Andreas: Bildung - Lonfession - Geschlecht, Religiöse Frauengemeinschaften und die katholische Mädchenbildung im Rheinland (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Main, Bd. 210). Mainz: von Zabern 2006. In: EWR 7 (2008), Nr. 1 (Veröffentlicht am 06.02.2008), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978380533589.html