Seit dem „Schock“ im Jahr 2000 beherrschen die PISA-Studien den Bildungsdiskurs. Dahinter verblassen zuweilen tragfähige Forschungsansätze. Dazu gehören die neuen Kindheitsstudien (new social childhood studies), ein eher rezenter Ansatz, den Maschke und Stecher im hier zu besprechenden Werk zugrunde legen.
Die Einleitung bettet diesen Ansatz in den wissenschaftlichen Kontext ein. Maschke und Stecher registrieren eine Aufwertung der Schülerrolle im Schulleben wie in der wissenschaftlichen Theoriebildung. So würden Schülerinnen und Schüler nicht mehr als Objekte pädagogischen Forschens und Handelns, sondern als Subjekte wahrgenommen. Insbesondere die jugendliche peer culture als eine eigenständige Lebenswelt sei damit in den Blick der Forschung geraten. Darauf und auf Fortschritte in der Sozialisationsforschung aufbauend, welche die unabdingbare Eigenleistung des Subjekts im Sozialisations- und Lernprozess herausstellen, gelten in der Neuen Kindheitssoziologie Kindheit und Jugend nicht mehr als bloße Durchgangsstadien, sondern als Lebensabschnitte mit eigener Wertigkeit. Im Fokus stehen somit die Aussagen der Kinder und Jugendlichen, die als Experten in der Abbildung und Schaffung ihrer eigenen Lebenswelt verstanden werden.
Das Buch basiert auf den Studien NRW-Kids und LernBild, die in Nordrhein-Westfalen in den Jahren 2001 und 2003 vom Siegener Zentrum für Kindheits-, Jugend- und Biografieforschung durchgeführt wurden. In der Befragung von insgesamt ca. 10.000 Kindern und Jugendlichen der Klassenstufen 4 bis 12 im Alter von 10 bis 18 Jahren verknüpfen beide Studien qualitative und quantitative Erhebungsverfahren.
Nach einer ersten Publikation, welche im Rahmen von NRW-Kids die Aussagen der Kinder und Jugendlichen zu ihren schulischen wie v. a. außerschulischen Lebenswelten analysiert [1], konzentrieren sich Maschke und Stecher nun in der Auswertung beider Studien auf die Schule. Die unausgesprochene Leitfrage dabei könnte lauten: Wie erleben und konstruieren die Schülerinnen und Schüler ihren Schulalltag?
Bereits im Kapitel „Schulleben“ (Kap. 2) lassen sich diesbezüglich erste Tendenzen erkennen, die sich in den folgenden Kapiteln verfestigen. Gefragt, was ihnen am Schulleben gefällt, nannten die Schülerinnen und Schüler in erster Linie Freundschaften mit Gleichaltrigen, gefolgt vom schulischen Erfolg, der sich in guten Noten zeigt (31). Unter den negativen Aspekten nimmt die Kritik an „ungerechten“ Lehrern und am Unterricht einen bedeutenden Platz ein (35).
Ausgehend von der „peerkulturellen Aufladung“ der Schülerrolle fragen Maschke und Stecher im 3. Kapitel, was „man tun muss, um in der Klasse beliebt zu sein“ (39). Unter den informellen Wertorientierungen steht im Befund das prosoziale Verhalten an erster Stelle, gefolgt von einem gekonnten Umgang mit dem anderen Geschlecht. Profilierung und Widerstand haben demgegenüber einen geringen Stellenwert, was die zuweilen vertretene These von der oppositionellen Gegenkultur fragwürdig erscheinen lässt. Die Autoren plädieren daher folgerichtig für den Begriff der Eigenkultur.
Die genannten Befunde vertiefen drei Kapitel zum Sozialklima. Die Beziehungen der Schülerinnen und Schüler untereinander (Kap. 4) verorten Maschke und Stecher im Spannungsfeld zwischen Konkurrenz und Solidarität, beides Dimensionen, die einander nicht notwendigerweise ausschließen. Insgesamt würden die Schülerinnen und Schüler den Zusammenhalt in ihren Klassen positiv einschätzen, wobei in qualitativer Hinsicht Einzelfälle stark von dieser Einschätzung abweichen könnten. Dies gilt v. a. mit Blick auf das Bullying, dem gegenüber Maschke und Stecher besondere pädagogische Aufmerksamkeit fordern. Sie konstatieren darüber hinaus große Unterschiede zwischen den Klassen, mit den Extremen eines ausgeprägten Konkurrenzempfindens auf der einen und eines sehr starken Klassenzusammenhalts auf der anderen Seite (Kap. 6).
Ernüchternd sind die Aussagen zur Lehrer-Schüler-Beziehung (Kap. 5). Offenbar schenkt ein Großteil der Schüler den Lehrerinnen und Lehrern wenig Vertrauen, obwohl sie sich von ihnen ernst genommen fühlen. Für Pädagogen alarmierend scheinen die Befunde zur Restriktivität, denn fast die Hälfte der Schüler berichtet davon, vor der Klasse blamiert worden zu sein, und ca. 20 % nennen Handgreiflichkeiten seitens der Lehrer (75). Auch in der Einschätzung des Lehrerverhaltens konstatieren Maschke und Stecher beträchtliche Unterschiede zwischen den Klassen (Kap. 6).
Beim Thema „Lernemotionen“ (Kap. 7) konzentrieren sich die Autoren auf die Dimensionen Leistungsängste, Lernen als soziale Aktion und Lernen als Leistungserfolg. Wenn auch Ängste und Blamage eher gering veranschlagt werden, verbindet mit 27 % eine bedenklich hohe Zahl von Schülerinnen und Schülern Lernen mit Enttäuschung (94-95). Allerdings erfährt zugleich die Verbindung von Lernen und Erfolg bzw. Leistung die höchste Zustimmung. Ebenfalls positiv bewerten die Schüler die soziale Seite des Lernens.
Mit kritischem Blick auf Diskussionen der von Erwachsenenseite definierten Kompetenzen fragen Maschke und Stecher im 8. Kapitel nach den Fähigkeiten, welche die Schülerinnen und Schüler selbst als zentral erachten. Wiederum stehen schulbezogene Fähigkeiten im Vordergrund, wie z. B. ein guter Abschluss. Von ähnlicher Bedeutung sind die „biographischen Kompetenzen“, die Fähigkeit zur Umsetzung eigener Lebensziele. Viel weniger wichtig sind offenbar die Bürgerkompetenzen. Ob mit 42 % Zustimmung zum Aspekt „Politik verstehen“ (107) das Glas noch halb voll oder schon halb leer ist, bleibt m. E. Interpretationssache.
Das letzte Kapitel widmet sich den Schülerstrategien zur Bewältigung des Schulalltags. In quantitativer Hinsicht erfährt die Lernarbeit die breiteste Zustimmung, wobei die demonstrative Strategie, bei den Lehrerinnen und Lehrern zumindest den Eindruck von Fleiß und Interesse zu erwecken, ebenfalls stark befürwortet wird, während der eigentlichen Beziehungsarbeit zu den Lehrerinnen und Lehrern geringeres Gewicht zugesprochen wird. Zudem gelte Schule als ein Ort, an dem man sich behaupten müsse.
Abschließend betrachtet, besticht die Studie durch genaue Erläuterungen des eigenen Ansatzes und der statistischen Methoden, den stets sorgfältigen Abgleich mit anderen Ansätzen und Ergebnissen sowie durch eine klare, schnörkellose Sprache. Tabellen bzw. Diagramme und Text stehen durchweg in einem klaren Zusammenhang. Nur ein absolutes Minimum an formalen Fehlern lässt sich feststellen (auf S. 95-96 ein verunglückter Satz; in Tab. 9.1, Faktor 3 zum Vertreten der eigenen Meinung 88 % statt 8 % Zustimmung (119)). Da manche Aspekte und Ansätze aufeinander aufbauend oder in unterschiedlichen Zusammenhängen besprochen werden, ist das Fehlen eines Registers zu bedauern.
Zu bedauern ist auch ein wenig der Schluss. Leider begnügen sich Maschke und Stecher mit einer Zusammenfassung und der Einführung einer weiteren Kompetenz, der „Gestaltungskompetenz“. Diese werde als eine Fähigkeit verstanden, die Schule gestaltend in Besitz zu nehmen, und sie gelte in Zukunft zu konzeptionalisieren. Sicherlich sinnvoll, ist dies nicht der einzige Impuls, den das Buch zu geben vermag: Welche Konsequenzen lassen sich z. B. für die Lehrerrolle ziehen? Wie ist damit umzugehen, dass ein Großteil der heutigen Schülerinnen und Schüler offensichtlich der Politik und anderen Schlüsselbereichen eher wenig Bedeutung zuschreibt?
Natürlich hätte die Diskussion dieser und ähnlicher Fragen das Anliegen und den Rahmen des Buches gesprengt. Und so bleibt das Fazit: Ein Buch, das für Diskussionsstoff sorgen könnte und sollte, eine Bereicherung, wenn es um Fragen einer schülerorientierten Schul- und Unterrichtsgestaltung geht.
[1] Zinnecker, J./ Behnken, I./ Maschke, S./ Stecher, L.: null zoff & voll busy. Die erste Jugendgeneration des neuen Jahrhunderts. Ein Selbstbild, Opladen: Leske + Budrich 2002.
EWR 10 (2011), Nr. 4 (Juli/August)
In der Schule
Vom Leben, Leiden und Lernen in der Schule
Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2010
(162 S.; ISBN 978-3-8100-3740-4; 22,95 EUR)
Ulf Scharrer (Aalen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Ulf Scharrer: Rezension von: Maschke, Sabine / Stecher, Ludwig: In der Schule, Vom Leben, Leiden und Lernen in der Schule. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2010. In: EWR 10 (2011), Nr. 4 (Veröffentlicht am 30.08.2011), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978381003740.html
Ulf Scharrer: Rezension von: Maschke, Sabine / Stecher, Ludwig: In der Schule, Vom Leben, Leiden und Lernen in der Schule. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2010. In: EWR 10 (2011), Nr. 4 (Veröffentlicht am 30.08.2011), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978381003740.html