EWR 17 (2018), Nr. 6 (November/Dezember)

Tanja Sturm / Monika Wagner-Willi (Hrsg.)
Handbuch schulische Inklusion
Opladen und Toronto: Barbara Budrich 2018
(334 S.; ISBN 978-3-8252-4959-5; 37,99 EUR)
Handbuch schulische Inklusion Seit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention werden Möglichkeiten der Umsetzung schulischer Inklusion kontrovers diskutiert. AuffĂ€llig ist, dass aus immer wieder neuen Begriffsdefinitionen zwar VerstĂ€ndniserklĂ€rungen hervorgegangen sind (so kann Inklusion als erkenntnistheoretischer oder politischer Begriff klar umrissen werden), es jedoch an begrifflichen KlĂ€rungen als Grundlage fĂŒr eine Umsetzung in der pĂ€dagogischen Praxis weitestgehend fehlt.

Das Handbuch greift dieses Desiderat auf und versteht sich als Beitrag zur Umsetzung schulischer Inklusion vor dem Hintergrund der Reflexion gesellschaftlicher Entwicklungen und politischer Rahmensetzungen. Fokussiert wird dabei vor allem, dass die Anforderungen durch Inklusion scheinbar im Widerspruch zu einer meritokratischen Gesellschaft und marktwirtschaftlicher (Leistungs-)Logik stehen, pointiert erklĂ€rt in dem Beitrag „Inklusion und Leistung“ von Karin BrĂ€u. Lernkulturen, die sich in diesem „SpannungsverhĂ€ltnis“ entwickeln und die Ambivalenzen „in den von ihnen entfalteten Praxen bearbeiten“ (9) werden aus unterschiedlichen Perspektiven und auf unterschiedlichen Ebenen zum Gegenstand der einzelnen BeitrĂ€ge in diesem Buch.

Der Sammelband gliedert sich mit 20 BeitrĂ€gen in einen EinfĂŒhrungsteil mit grundlegenden Begriffsdefinitionen und theoretischen FeldzugĂ€ngen, einen zweiten Teil zu Inklusion als Entwicklung auf institutioneller und organisationaler Ebene von schulischen Bildungseinrichtungen sowie schließlich in die Betrachtung der Professionellen und Adressatinnen und Adressaten im Feld der schulischen Inklusion (dritter Teil).

Die Zusammenstellung der einzelnen Teile besticht durch Stringenz und die BeitrĂ€ge bergen fĂŒr die von den Herausgeberinnen adressierte Zielgruppe – vor allem Studierende und Lehrpersonen – einen umfassenden Überblick ĂŒber die historische Entwicklung und den aktuellen Forschungsstand zum Thema Inklusion. Hervorzuheben ist eine in den einzelnen AufsĂ€tzen weitestgehend einheitliche Definition von Inklusion als modifizierender Prozess von schulischen und unterrichtlichen Strukturen und Praktiken, die die Lern- und Entwicklungsprozesse von marginalisierten SchĂŒlergruppen behindern. Dieser „weite Inklusionsblick“ von Teilhabe und Ausschluss eröffnet die Möglichkeit, auch weitere Differenz(ierungs)dimensionen, wie beispielsweise Geschlecht, Migrationshintergrund oder Milieuzugehörigkeit, unter dem Begriff der Inklusion zu betrachten. Letztlich finden aber auch nur diese drei weiteren Dimensionen in den BeitrĂ€gen BerĂŒcksichtigung.

Des Weiteren haben sich die Herausgeberinnen zum Ziel gesetzt, schulische Inklusion sowohl durch Vertreterinnen und Vertretern der Allgemeinen (Schul-)PĂ€dagogik als auch der Sonder- und InklusionspĂ€dagogik definieren zu lassen - ein Anspruch, dem der Band mehr als gerecht wird. Vor allem der gelobten Stringenz trĂ€gt unter anderem der „Auftakt“ mit Arnd-Michael Nohls Beitrag „Inklusion in Bildungs- und Erziehungsorganisationen“ Rechnung. Nohl mahnt die unterschiedliche, nicht trennscharfe Betrachtung der Entwicklung von Schule als Institution oder Organisation an und bringt das Dilemma der schulischen Inklusion auf den Punkt, welches in den darauffolgenden BeitrĂ€gen nĂ€her beschrieben wird: Was Schule als Organisation unter Inklusion versteht, muss im VerhĂ€ltnis zu institutionalisierten, gesellschaftlichen Erwartungsstrukturen betrachtet werden. Innen- und Außenleben der Schule als Organisation können dabei aber ambivalent sein. So können SchĂŒlerinnen und SchĂŒler „nach außen“ inkludiert sein, mĂŒssen aber „nach innen“ nicht zwingend zu Mitgliedern der (Klassen-/Schul-)Gemeinschaft werden. Diese Behinderungsprozesse werden in den folgenden BeitrĂ€gen nĂ€her beleuchtet. Der Aufsatz von JĂŒrgen Budde leistet dazu eine prĂ€zise Beschreibung von IntersektionalitĂ€t und Inklusion und betont darin die Notwendigkeit, beim „Sprechen ĂŒber“ und „Analysieren von“ inklusiven Prozessen Differenzkonstruktionen mit der Überschneidung unterschiedlicher sozialer Kategorien kritisch im Blick zu behalten. Mithilfe von Fallbeispielen arbeitet unter anderem Bettina Fritzsche in ihrem Beitrag die Anerkennungspraxis als Reflexion von Inklusions- und Exklusionsprozessen im Klassenzimmer heraus. Anerkennung wird darin nach Judith Butler als Subjektivation durch Normen mit gleichzeitig einschrĂ€nkender sowie ermöglichender Wirkung definiert. Diese Normen produzieren eine spezifische Verletzbarkeit von SchĂŒlerinnen und SchĂŒler, deren Anerkennung als Ziel von Inklusion herausgestellt wird. Unter dieser Anerkennungspraxis als Reflexion versteht Jan Weisser vor allem die Ermöglichung neuer ErfahrungsrĂ€ume. Der Austausch mit Expertinnen und Experten ĂŒber (Behinderungs-)Erfahrungen, die man selbst so nicht kennt, soll Möglichkeiten zu einer „Reflexion zweiter Ordnung“ (102) schaffen, die die Vorstellungen ĂŒber Normen von Lernen und Leistung kritisch in den Blick nimmt. Weisser fĂŒhrt die „Disabilty Studies“ als Feld an, die Anregungen fĂŒr diesen Dialog liefern und definiert Behinderung in dieser Logik als eine Summe von „FĂ€higkeitskonflikten“ (100) und damit als einen Ausdruck gesellschaftlicher Praktiken. Diese Definition trĂ€gt abermals dem sozialen Modell von Behinderung Rechnung, auf welches sich fast jeder Beitrag einleitend beruft.

Auch im zweiten Teil des Handbuchs fĂŒhrt die logische Anordnung der BeitrĂ€ge die Lesenden planvoll durch die Entwicklung der schulischen „Inklusionslandschaft“: Georg Feuser erklĂ€rt die UrsprĂŒnge anhand der Allgemeinen historischen PĂ€dagogik, indem er auf ihre bedeutenden Vertreter rekurriert und begrĂŒndet daran unter anderem die Notwendigkeit von Lerngemeinschaften. Aber vor allem stellt er heraus, dass der „sonderpĂ€dagogische Förderbedarf“ in einem „extremen Reduktionismus“ (114) die Vernunft derjenigen negiere, denen dieser Bedarf zugeschrieben wird. In dieser Folge problematisiert außerdem Justin J. W. Powell, dass Fördersysteme als separierende Organisationsformen institutionalisiert sind, die nicht (oder nur schwer) verĂ€nderbar sind. Das Etikettierungsproblem stellen wiederum auch Julie Allan und Tanja Sturm in ihrem Beitrag „Schulentwicklung und Inklusion“ im internationalen LĂ€ndervergleich zwischen Deutschland und Großbritannien heraus. Das Handbuch wird spĂ€testens an dieser Stelle seinem Anspruch gerecht, Studierenden gewidmet zu sein, weil der wissenschaftliche Diskurs zu Inklusion hier so prĂ€zise auf den Punkt gebracht wird, wie es selten der Fall ist und eine kritisch-konstruktive Haltung vermittelt wird. Kerstin Ziemen verbindet die theoretischen Skizzen schließlich mit Hinweisen fĂŒr die Unterrichtspraxis. Sie zeigt auf, dass mithilfe eines entwicklungspsychologischen Ansatzes in der Anerkennung von Kompetenzen (z.B. durch Einsatz von Kompetenzrastern fĂŒr SchĂŒlerinnen und SchĂŒler) Behinderungen im Unterricht ĂŒberwunden werden können, wenn neben den ‚standardisierten‘ Kompetenzen auch die BedĂŒrfnisse der Lernenden als anerkennungswĂŒrdige Kompetenzen eingeschĂ€tzt werden.

Schließlich wird im dritten Teil des Handbuchs im Bereich „Professionelle und Adressatinnen und Adressaten im Feld der schulischen Inklusion“ zum einen von Vera Moser betont, dass es in der Professionalisierung der LehrkrĂ€fte weiterhin unbedingt erforderlich bleibt, sonder- bzw. heilpĂ€dagogische Spezialisten auszubilden, auch wenn das VerhĂ€ltnis zwischen Spezialistentum und Generalistentum noch unklar ist. Auf der anderen Seite wird mit Monika Wagner-Willis Beitrag abermals verdeutlicht, wie wichtig auf Grundlage der Praxeologischen Wissenssoziologie eine mehrdimensionale kritische Perspektive in der Betrachtung von inklusiven Praxen ist und inwiefern es gelingt, an die konjunktiven (Bildungs-)Erfahrungen der SchĂŒlerinnen und SchĂŒler anzuknĂŒpfen, dahingehend Bildung zu initiieren und Exklusionsmechanismen zu erkennen.

ResĂŒmierend stellt das Handbuch mit Verweisen auf internationale Befunde die deutschsprachige Forschung zu schulischer Inklusion in ihrer historischen Dimension und dem aktuellen ‚State of the Art‘ umfassend dar. Die in ihrer LĂ€nge ausgewogenen BeitrĂ€ge vermitteln durch die Verschiedenheit ihrer Schwerpunkte und Herangehensweisen unterschiedliche Perspektiven und eröffnen einen kritischen Blick auf den Gegenstand Inklusion. Das Handbuch erschafft durch die BeitrĂ€ge in all ihrer Unterschiedlichkeit ein ausgewogenes Ganzes, was auch der in allen AufsĂ€tzen, ebenso von denen hier aus PlatzgrĂŒnden nicht ausfĂŒhrlich vorgestellten von Anja Tervooren und Nicole Paff, Benjamin Wagener, Eva Theresa Böhm, Katharina Felbermayr und Gottfried Biewer, Metchtild Gomolla, Anja Hackbarth und Matthias Martens, Benjamin Badstieber, Andreas Köpfer und Bettina Amrhein, Christian Lindmeier und Bettina Lindmeier sowie Patrik Widmer Wolf, erkennbaren Breite und Tiefe der Betrachtung zu verdanken ist.
Adina KĂŒchler (MĂŒnchen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Adina KĂŒchler: Rezension von: Sturm, Tanja / Wagner-Willi, Monika (Hg.): Handbuch schulische Inklusion. Opladen und Toronto: Barbara Budrich 2018. In: EWR 17 (2018), Nr. 6 (Veröffentlicht am 31.12.2018), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978382524959.html