EWR 23 (2024), Nr. 3 (Juli)

Rita Casale
EinfĂŒhrung in die Erziehungs- und Bildungsphilosophie
Paderborn/Stuttgart: Brill/Schöningh/UTB 2022
(158 S.; ISBN 978-3-8252-5257-1; 20,00 EUR)
EinfĂŒhrung in die Erziehungs- und Bildungsphilosophie Der vorliegende Band „EinfĂŒhrung in die Erziehungs- und Bildungsphilosophie“ basiert auf der zwischen 2009 und 2019 von Rita Casale durchgefĂŒhrten EinfĂŒhrungsvorlesung fĂŒr Studierende im Erstsemester des Bachelor-Studiengangs Erziehungswissenschaft [1] an der Bergischen UniversitĂ€t Wuppertal (9). Laut Autorin dient der Band einem dreifachen Ziel: Erstens, die historischen ZusammenhĂ€nge der Disziplin darzulegen, „zweitens die Begriffe von Erziehung und Bildung mit dem Sachgebiet der PĂ€dagogik in Bezug zu setzen“ und zuletzt, Gelegenheiten zur Reflexion von „Erwartungen und Erfahrungen“ an und mit diesen Begriffen zu ermöglichen (9f.).

Casale gliedert ihr EinfĂŒhrungswerk in sechs Kapitel. Am Ende eines jeden Kapitels finden sich von Casale formulierte inhaltliche Fragestellungen, deren Antworten sich im Anhang des Buches finden lassen. Im Anschluss an diese Wiederholungsfragen befindet sich fĂŒr jedes Kapitel eine Sammlung an weiterfĂŒhrender Literatur. Diese ErgĂ€nzung ist fĂŒr die Zielgruppe besonders sinnvoll gestaltet, da jede Literaturangabe neben dem Titel und dem/der AutorIn, Informationen ĂŒber Inhalt und Relevanz der empfohlenen Texte enthĂ€lt. Die klare Gliederung des Bandes und die auf UnterstĂŒtzung angelegte inhaltliche Strukturierung der Kapitel werden ergĂ€nzt durch eine fĂŒr Studierende sinnvolle formale Struktur, die sich z.B. durch das EinfĂŒgen von Marginalien mit relevanten Begriffen zeigt.

Im ersten Kapitel „Was ist Philosophie?“ beschreibt die Autorin im Anschluss an Gilles Deleuze und FĂ©lix Guattari das VerhĂ€ltnis von Philosophie und Freundschaft (15f.). Philosophieren ließe sich als „GesprĂ€ch mit dem Fremden“ beschreiben, begleitet von der Hoffnung auf Resonanz (16). Im Folgenden beschreibt die Autorin das VerhĂ€ltnis zwischen Philosophie und Erziehung/Bildung auf dreifache Weise: Erstens als „gegenstĂ€ndliches VerhĂ€ltnis“, bei dem Bildung und Erziehung als zu analysierende GegenstĂ€nde dienen (18). Zweitens als „intrinsische Beziehung“, in der die Philosophie selbst „erzieht und bildet“, und drittens als wechselseitige Beziehung (ebd.). Im weiteren Verlauf setzt sich die Autorin einerseits mit Begriffen wie u.a. Zeitlichkeit, IntensitĂ€t oder Geschichtlichkeit auseinander, andererseits stehen der Begriff, die Begriffsbildung selbst und die Bedeutung von Begriffskonstellationen im Fokus. Diese PropĂ€deutik ist sinnvoll strukturiert und nachvollziehbar gestaltet.

Das zweite Kapitel „Erziehung als Grundbegriff“ beginnt mit einer historischen Kontextualisierung des Erziehungsbegriffs als einem aufklĂ€rerischen Begriff. In diesem Kontext sei „die AufklĂ€rung vor allem als ein politisches, philosophisches und pĂ€dagogisches Projekt zu verstehen“ (37). Im Anschluss werden relevante Momente erziehungswissenschaftlichen Denkens dargestellt, u.a. die Idee der Autonomie, die Dialektik von Freiheit und Zwang oder AutoritĂ€t als generationale Differenz. Im Mittelpunkt der AusfĂŒhrungen stehen dabei die Überlegungen Kants, auf die die Autorin sich immer wieder bezieht. Andere Autoren wie Rousseau oder Schleiermacher werden an entsprechenden Stellen ebenfalls thematisiert. Diese Fokussierung ist mit Blick auf die Zielgruppe dieses EinfĂŒhrungswerkes aus didaktischer Perspektive nachvollziehbar und sinnvoll. Den Abschluss des zweiten Kapitels bilden Überlegungen zum „doppelte[n] Erbe der AufklĂ€rung“ (58f.). Die Autorin beschreibt die Ambivalenz des Erbes der AufklĂ€rung u.a. mit Horkheimer und Adorno (59f.). Ihr gelingt es an dieser Stelle, wichtige historische ZusammenhĂ€nge und Motive klar und nachvollziehbar darzustellen.

Dem Aufbau des zweiten Kapitels folgend, beginnt das dritte Kapitel „Krise der Erziehung?“ ebenfalls mit der Darstellung der historischen Bedingtheit einer krisenhaften „Gesellschaft ohne Erwachsene“, bei der das Erwachsensein als spezifische Form der Subjektivierung verstanden wird (63). FĂŒr die Argumentation dieser These greift sie auf die Konzepte der MĂŒndigkeit und der Verantwortung im Kontext des GenerationenverhĂ€ltnisses zurĂŒck, u.a. im Anschluss an Schleiermacher. „Stellt MĂŒndigkeit den Hauptbegriff der AufklĂ€rung dar, Ă€ußert sich die Krise dieses politischen, philosophischen und pĂ€dagogischen Projekts in der Infragestellung der Bedingungen seines ErziehungsverstĂ€ndnisses“, beginnt Casale dieses Kapitel (63). Im weiteren problematisiert Casale das GenerationenverhĂ€ltnis im Kontext (aktueller) gesellschaftlicher VerĂ€nderungen, u.a. der „Verantwortungsverweigerung der Erwachsenen“ (66), die sie als „symptomatisch fĂŒr eine tiefe Krise der Erziehung“ (66) deutet und sich beispielsweise als Verlust der autoritĂ€ren Vaterfigur und als feministische Revolution des Privaten und des Öffentlichen zeigt. Die Texte Hannah Arendts bilden in diesem Kapitel einen kontinuierlichen Ankerpunkt in den AusfĂŒhrungen der Autorin.

Das vierte Kapitel „Bildung als Grundbegriff“ spiegelt ebenfalls den Aufbau des zweiten Kapitels. Es beginnt mit der Analyse der historischen Konstellation von AufklĂ€rung und französischer Revolution und ihrer Relevanz fĂŒr die PrĂ€gung des Bildungsbegriffs. Unter Einbeziehung von Kant, Schiller und Humboldt beschreibt Casale einerseits Grundmomente bildungstheoretischen Denkens, z.B. in Humboldts VerstĂ€ndnis von Bildung als vermitteltes WechselverhĂ€ltnis von Ich und Welt (92f.) oder in Fichtes spezifischem VerstĂ€ndnis von Bildsamkeit als „anthropologische Bedingung“ des Menschen (92f.) und damit als (neu-)humanistischer Dualismus von Mensch und Tier. Andererseits gelingt es ihr, die komplexen Verstrickungen des Bildungsbegriffs zu verdeutlichen, zum Beispiel die Verwobenheit von politischen Ideen mit Bildungsvorstellungen bei Humboldt (96f.) oder die Bedeutung der UniversitĂ€t als Bildungsinstitution im Konflikt zwischen Staat und Autonomie der Wissenschaft (102f.).

Casale fĂŒhrt im fĂŒnften Kapitel „Krise des Bildungsbegriffs?“, Problematisierungen des Bildungsbegriffs einfĂŒhrend auf, beispielsweise anhand der Transformationen der UniversitĂ€ten angesichts einer „Technokratisierung der AutoritĂ€t“ oder des „informatisierten Wissens“ (117f.). Eine profundere und erweiterte Analyse der Krisenhaftigkeit des Bildungsbegriffs durch die Autorin wĂ€re an dieser Stelle von großem Interesse gewesen, in Anbetracht der Zielgruppe dieses Bandes ist der durch die Autorin gewĂ€hlte Zugang jedoch nachvollziehbar und angemessen.

Im sechsten und letzten Kapitel greift Casale die von ihr „gesponnenen FĂ€den“ (125) erneut auf. Dabei prĂŒft sie einerseits die von ihr im Vorwort formulierten Ziele des Buches. Andererseits rekapituliert die Autorin jedes ihrer Kapitel und die von ihr thematisierten Inhalte. Dieses Vorgehen ist fĂŒr Studierende hilfreich und zeigt beispielhaft, dass dieser Band aufgrund jahrelanger Erfahrungen in der universitĂ€ren Lehre entstanden ist und auf die BedĂŒrfnisse der Studierenden erfolgreich angepasst wurde (11).

Die mit dem Titel beanspruchte „EinfĂŒhrung in die Erziehungs- und Bildungsphilosophie“ lĂ€sst sich als sehr gelungen bezeichnen. Durch ihre sprachliche und formale Klarheit und Strukturiertheit veranschaulicht und problematisiert Rita Casale nachvollziehbar wichtige Begriffe, Motive sowie historische und ideengeschichtliche ZusammenhĂ€nge. Die WidersprĂŒchlichkeit und KomplexitĂ€t einiger durch die Autorin thematisierter Begriffe scheint sie zugunsten von Klarheit und Nachvollziehbarkeit im Sinne der Zielgruppe eingegrenzt zu haben. Dies zeigt sich beispielsweise an der Thematisierung eines anthropozentrischen Begriffs der Bildsamkeit, der im Anschluss an Fichte als kategoriale Differenzierung von Mensch und Tier angefĂŒhrt wird (44f.). Ein EinfĂŒhrungswerk, das seine Zielgruppe jedoch nicht durch AmbiguitĂ€t irritieren möchte, profitiert davon, einen reduzierten Ausschnitt eines vielschichtigen und fortlaufenden Diskurses aufzuzeigen. Aufgrund der gelungenen didaktischen Reduktion komplexer Sachverhalte durch die Autorin ist dieser Band fĂŒr die Zielgruppe der Studierenden sehr empfehlenswert.

[1] Der Studiengang trĂ€gt erst seit 2014 den Namen ‚Erziehungswissenschaft‘, vorher hieß er ‚PĂ€dagogik‘.
Nina KĂŒhn (Karlsruhe)
Zur Zitierweise der Rezension:
Nina KĂŒhn: Rezension von: Casale, Rita: EinfĂŒhrung in die Erziehungs- und Bildungsphilosophie. Paderborn: Brill/Schöningh 2022. In: EWR 23 (2024), Nr. 3 (Veröffentlicht am 14.08.2024), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978382525257.html