EWR 21 (2022), Nr. 2 (April)

Philipp Thomas
Bildungsphilosophie fĂŒr den Unterricht
Kompetente Antworten auf große SchĂŒlerfragen
Stuttgart/TĂŒbingen: UTB/Narr Fracke Attempto 2021
(235 S.; ISBN 978-3-8252-5706-4; 22,90 EUR)
Bildungsphilosophie fĂŒr den Unterricht Seit Jahren werden RĂŒckgriffe auf Bildungsphilosophie in Lehramtskontexten seltener. So ist es bei UnterrichtsentwĂŒrfen hĂ€ufig der Fall, dass nur eine methodisch verkĂŒrzte BegrĂŒndung vorliegt. Selten dagegen eine didaktisch differenzierte Analyse, in der Aspekte der Bildung beachtet werden mĂŒssten. Jede Initiative, diesen Missstand zu verringern, ist auf dem Markt pĂ€dagogischer EinfĂŒhrungsliteratur erwĂŒnscht. Philipp Thomas, der sich seit vielen Jahren fĂŒr Lehrerbildung engagiert und Professor fĂŒr Philosophie/Ethik an der PĂ€dagogischen Hochschule Weingarten ist, hat allerdings einen weiteren Aspekt im Blick – den spĂ€teren Berufsalltag der Lehramtsstudent*innen. Dabei stellen SchĂŒler*innen Fragen, die ohne philosophische BezĂŒge auf den Prozess der Bildung kaum zu wĂŒrdigen sind. Damit sei die doppelte Relevanz dieser EinfĂŒhrung betont, mittels derer Ausbildungs- und Lehrprozesse fĂŒr die bzw. in der Schule gestĂ€rkt werden sollen. Thomas begreift den eigenen Ansatz als „professionsbezogen“ (9) zugunsten von „Orientierung durch Bildung“ (ebd.). Er ziele nicht auf Unterrichtshilfen oder einen disziplinĂ€ren Überblick, sondern bedeutend sei die Wertedimension aller Bildungsziele, etwa von „Freiheit“ und „Menschlichkeit“ (ebd.).

Nach der pointierten EinfĂŒhrung (11-17), in der die Relevanz fĂŒr das Lehramt betont wird, setzt Thomas in 14 Kapiteln bildungsphilosophische Akzente, die ein vielfĂ€ltiges Spektrum aufspannen. Zu Beginn wird eher konventionell die Autonomie nach Kant (23ff.) gefordert und die Vernunftorientierung mittels verschiedener Denker der griechischen Antike (33-47) bekrĂ€ftigt. FĂŒr die praktische Dimension des Guten wird neben Kant auf u.a. Levinas und Camus Bezug genommen (49-65), wodurch die Betrachtung sich öffnet. In dieser Offenheit werden dann Aspekte des Nichtwissenkönnens (67-82) und Szientismus (85-89) genauso wie der Intuition (S. 95-105) und Herzensbildung (209-224) gewĂŒrdigt.

Das Ziel von Thomas, der sich phĂ€nomenologisch auch mit der Fruchtbarkeit von NegativitĂ€t auseinandersetzt, Grenzen der Prozesse des Sich-Bildens zu schĂ€rfen und zu einer erweiterten RationalitĂ€t auszudehnen, ist wichtig. Ein zweiter Vorteil liegt in dem umsichtig auf aktuelle Anforderungen abgestimmten weit geöffneten Spektrum. Thomas setzt Akzente auf politische Bildung, indem er das Erheben der eigenen Stimme als GrundfĂ€higkeit beurteilt und etwa mit Marx, Foucault und Butler begrĂŒndet (125-149). Vertiefend referiert er auch die Debatte zu Universalismus und Partikularismus (167-177), um postkoloniale Kritik zu integrieren und mit BezĂŒgen auf nicht-europĂ€ische Weltregionen und mehrere Weltreligionen zu verbinden (179-196). In Zeiten, in denen identitĂ€tspolitische Konflikte Feuilleton und Soziale Medien dominieren, sollte Lehrer*innen und SchĂŒler*innen unbedingt RĂŒstzeug fĂŒr die Reflexion und Bewertung der ĂŒberhitzten Debatten gegeben werden. Allein damit kann der hohen Dynamik digitaler Aufmerksamkeitsökonomie etwas entgegengesetzt werden. Dazu zĂ€hlen mitunter die Gaben eines Geltenlassen- bzw. Anerkennenkönnens, die als dritter Gewinn festzuhalten sind. Thomas nimmt – wenn auch knapp – auf die Post-Critical-Pedagogy Bezug und verbindet diese mit ernsten, ja, heiligen GefĂŒhlen nach William James und mit der ResonanzpĂ€dagogik nach Hartmut Rosa (197-207). Sensibilisierung fĂŒr und durch die „Herzensbildung“ meine, die Welt zu „lieben“, was auch nichtindividualistischen Werten außerhalb Europas gleiche.

Dieser Optimismus mag – fĂŒr die heutige Welt und aus postkolonialer Sicht auf die IdentitĂ€t des Verfassers – ĂŒbertrieben sein. Aus ihm folgt, dass Kritische Theorie, die lange politische Bildungsphilosophie prĂ€gte, kaum eine Rolle fĂŒr Thomas spielt. Darin steht er dem TĂŒbinger Kollegen Markus Rieger-Ladich nahe, der frĂŒh MĂŒndigkeit als â€șPathosformelâ€č beurteilte und unlĂ€ngst das Junius-BĂ€ndchen zu Bildungstheorien verfasste, in dem Adorno zwar vorkommt, poststrukturalistische AnsĂ€tze jedoch dominieren. Zu dieser Analyse von Bildungssemantiken bilden systemtheoretische ethische Essays zu (schulischer) Bildung von Roland Reichenbach den zweiten Pol wichtiger EinfĂŒhrungen. Indem Thomas einleitend auf beide verweist (17), stellt er sich in ihre Tradition (auch Reichenbach betont u.a. Herzensbildung), strebt aber an, eine dritte Position zwischen jenen Analysen und diesen Essays zu beziehen.

Sein professionsbezogener Ansatz ist pragmatischer auf o.g. AnsprĂŒche abgestimmt und lĂ€sst erneut mehr gelten. Doch auch dritte Wege haben ihren Preis. So betont Thomas zu Beginn die eigene „Furcht, zu stark zu vereinfachen“ (9). Dieses Risiko ist notwendig, sobald man Student*innen ĂŒberhaupt Lust auf Bildungsphilosophie machen will. Er behĂ€lt sein Publikum im Blick, was die formale Gestaltung zeigt: Leser*innen adressiert er direkt, aber behutsam, wobei die Zugewandtheit eine gewisse Bevormundung legitimiert. Insgesamt fĂ€llt der Stil von Thomas angenehm auf, der bedĂ€chtig mit KomplexitĂ€t umgeht und im Vor- und Nachwort das Heikle des Unterfangens – hier implizit an Kolleg*innen gerichtet – mitteilt. Der spĂ€tere Berufsalltag der Student*innen wird antizipiert, indem (dem Untertitel gemĂ€ĂŸ) die Antworten auf Fragen von SchĂŒler*innen angedeutet werden, die aus den Kapiteln folgen. Diese wirken aber oft zu funktionalistisch (wie der Untertitel der EinfĂŒhrung selbst). Leider ist zu vermuten, dass u.a. Referendar*innen diese Antworten nachschlagen und situativ reproduzieren, was den hohen Anspruch des Buches, etwa auch im Imperativ „Dekolonisieren wir uns!“ (180-184), ad absurdum fĂŒhrte. Manche der Antworten sind unterkomplex – es ist hohe Kunst, z.B. zum Antlitz Levinas‘ und Camus‘ Absurden (64) Fragen zu stellen; bei aller Sympathie fĂŒr die Auswahl an Bezugsautor*innen bleiben aber Hinweise fĂŒr deren Signifikanz im Schulalltag offen (hier hĂ€tten u.a. auch institutionelle Grenzen angesprochen werden mĂŒssen) oder wirken letztlich doch zu einseitig humanistisch.

Die Struktur der Kapitel ist genauso an BedĂŒrfnissen des Publikums orientiert, so dass auf ein „Worum geht’s?“ binnengegliederte AbsĂ€tze folgen, die durch viele KĂ€sten zu HintergrĂŒnden ergĂ€nzt werden, und treffend ausgewĂ€hlte Literaturtipps Abschnitte beenden. Das ist hilfreich; formal stören jedoch zu viele ErgĂ€nzungen in Originalzitaten und graphische Symbole, deren Bedeutung unklar bleibt. Zum Teil wirkt die Struktur der Kapitel schematisch und auch ihre Abfolge irritiert. So ist der Vernunftbezug am Anfang zu redundant. HĂ€tte man fĂŒr Thomas‘ Ansatz nicht gleich zu Beginn eine (politische) Problemorientierung beachten sollen? So wĂ€re eine „selbstkritische Vernunft“ (226), deren ethische Funktion zum Abschluss betont wird, auch bezogen auf den Schulalltag stĂ€rker gewĂŒrdigt worden.

Viele Hinweise ergeben sich aus dem Spagat, theoretisch anspruchsvoll sein zu wollen und StudienanfĂ€nger*innen gerecht zu werden. Das diffizile Vorhaben ist Thomas aber insgesamt erfreulich gelungen. Er stellt ein bildungssensibel angelegtes weites Spektrum vor, etwa, wenn frĂŒh an Derridas ‚unbedingte’ UniversitĂ€t erinnert (15f.), individueller ‚Ausdruck’ der Bildung mit Nietzsche gewĂŒrdigt (112ff.) oder Butlers Gendertheorie als ‚Bildungsroman’ skizziert (145ff.) werden. Bereichernd sind auch die Passage zu AnzaldĂșa (120ff.) und der Exkurs zu den ‚neuen Deutschen‘ (130ff.). Darin liegt ein hohes Potenzial, dessen Relevanz fĂŒr die Gegenwart schon betont wurde. Da scheint es verschmerzbar, dass manch ein ‚Klassiker‘ eher zurĂŒcktritt (etwa fĂ€llt im Abschnitt zur Naturgewalt und inneren Instanz des Guten der Begriff Erhabenheit nicht und die politische Passage zu Arendt nimmt keinerlei Bezug auf die Shoa). Thomas gibt Student*innen vielförmige Impulse zur ersten Auseinandersetzung mit Bildung, die ohne eigenstĂ€ndiges Weiterlesen nicht zu haben ist. Neben der Funktion der Orientierung ist dem Buch folglich ein hoher Grad an „Verlebendigung“ (176) zu wĂŒnschen.
Florian Wobser (Passau)
Zur Zitierweise der Rezension:
Florian Wobser: Rezension von: Thomas, Philipp: Bildungsphilosophie fĂŒr den Unterricht, Kompetente Antworten auf große SchĂŒlerfragen. TĂŒbingen: Narr Fracke Attempto 2021. In: EWR 21 (2022), Nr. 2 (Veröffentlicht am 03.05.2022), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978382525706.html