
Von den 16 Beiträgen des Bandes befassen sich elf mit der Geschichte spezifischer gesellschaftlicher Bereiche von Erziehung und Bildung, etwa der historischen Genese der Familien(ersatz)erziehung oder der institutionellen sowie der außerinstitutionellen Bildung. Sie werden gerahmt von Beiträgen, die theoretische und methodische Grundlagen und Problemstellungen diskutieren. Alle Beiträge sind analog aufgebaut und beginnen mit einem Problemaufriss, dem abschnittsweise die historische Entwicklung oder theoretisch-methodische Erörterung folgt. Den Abschluss bilden zum einen Forschungsdesiderate und -perspektiven, andererseits die lobenswerte Listung und Kommentierung von je fünf zentralen Forschungsarbeiten, an die sich noch eine ausführlichere Bibliografie anschließt. Die Beiträge mit dem Schwerpunkt auf der historischen Genese einzelner Segmente von Erziehung und Bildung sind in sich nochmals thematisch gruppiert, fokussieren zunächst auf die Familie als Erziehungs- und Sozialisationsort, dann auf die historische Entwicklung der Institution ‚Schule‘ und schließlich auf außerschulische Bildung. Generell wird ein thematisch umfassender Überblick geboten, auffällig ist aber das Fehlen eines Beitrages zur außerschulischen Berufsbildung, deren schulisches Pendant jedoch zur Darstellung kommt. Mit der Ausnahme eines Beitrages (von Sylvia Kesper-Biermann) über „transnationale Beziehungen in der Geschichte der Pädagogik“, der grenzübergreifende Bewegungen von Ideen und Prozessen der Bildung und die dabei entstehenden Verbindungen und Wechselwirkungen untersucht, verbleibt der Band im nationalen Rahmen Deutschlands vom 18. bis zum Ende des 20. Jahrhunderts.
Den Auftakt des Bandes bilden drei Beiträge, die Quellen, Methoden und Theorien der Erziehungs- und Bildungsgeschichte vorstellen. Die empfehlenswerte Einführung zu den „Quellen und Methoden der Historischen Bildungsforschung“ (Sabine Reh et al.) bietet nicht nur eine Darstellung der historischen Entwicklung hin zur gegenwärtigen Methoden- und Theorienpluralität, sondern zeigt zudem, wie Wissensgenese (auch) in der historischen Bildungsforschung mit sich wandelnden Quellenverständnissen in Verbindung steht. Nicht minder lohnend ist die „Geschichte der pädagogischen Historiographie“ (Jörg-W. Link), in welcher der Autor auf der Basis zahlreicher „Geschichten der Pädagogik“ diese mit den kategorisierenden Begriffen Traditionsbildung, Kanonisierung und Mythenbildung sowie Kritik und Ausdifferenzierung informativ, konsistent und über das traditionelle Narrativ des Dualismus von Ideengeschichte und Sozialgeschichte hinausgehend erzählt. Den Abschluss des Komplexes bildet das Beispiel des ‚framing‘-Konzeptes als Forschungsperspektive (Andreas Lischewski).
Die nachfolgenden elf Beiträge widmen sich einzelnen Bereichen von Erziehung und Bildung. Am Anfang steht eine historische Soziologie der Familie in Verbindung mit der Geschichte der Familienerziehung (Carola Groppe), angelehnt an die Evolution der Familienvorstellungen bis hin zur gegenwärtigen Pluralisierung. Dem schließt sich Carola Kuhlmanns Beitrag zur Familienersatzerziehung an, wobei deren Geschichte anhand einzelner Schlaglichter kapitelweise erzählt wird. Die anschließenden Beiträge thematisieren die Geschichte verschiedener Instanzen institutioneller Bildung: die institutionalisierte Kleinkinderziehung (Sylvia Schütze), das niedere (Uwe Sandfuchs) und höhere (Frank Tosch) Schulwesen, die schulische Berufsbildung (Karin Büchter), die Förderschulbildung (Alexandra Schotte), die Lehrer- und Lehrerinnenbildung (Joachim Scholz), die universitäre Bildung (Jonas Flöter), die außerschulische Jugendbildung (Jakob Benecke) sowie die Erwachsenen- und Weiterbildung (Elisabeth Mailhammer). Die einzelnen Beiträge sind trotz ihrer notwendigen Kürze informativ und hinreichend komplex. Zugleich ermöglicht deren analoge Struktur, die historische Entwicklung einzelner gesellschaftlicher Segmente von Erziehung und Bildung parallel zu verfolgen.
Neben dem Beitrag von Kesper-Biermann schließt der Band mit einer überblicksartigen Darstellung der „Entwicklung der Pädagogik als Wissenschaft“ von Eva Matthes ab. Der Beitrag zeichnet sowohl die Herausbildung der Pädagogik als eigenständige Wissenschaftsdisziplin als auch den für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts prägenden „Erkenntnis- und Methodenstreit“ (317) nach. Damit greift Matthes nicht nur geschickt die in der Einleitung des Bandes vorgetragene Rechtfertigung von Erziehungs- und Bildungsgeschichte als Teil der Erziehungswissenschaft auf, sondern fügt auch dem Beitrag Links neue Facetten hinzu.
Hervorzuheben ist hier die institutionelle Expansion der Pädagogik als Wissenschaft etwa infolge der Integration der pädagogischen Hochschulen in die Universitäten sowie die aufschlussreiche Skizze der gegenwärtigen Nachfrage nach Pädagogik.
Die Autor:innen des Bandes standen vor der anspruchsvollen Aufgabe, komplexe und umfangreiche Forschungsbereiche innerhalb der Erziehungs- und Bildungsgeschichte konsistent und verständlich abzubilden. Dies ist ihnen in aller Regel gelungen. Neben den fundierten Darstellungen sind insbesondere die themenspezifische, kommentierte Listung von fünf zentralen Werken der Forschungsliteratur, die Bereitstellung eines weiterführenden bibliografischen Apparates und die Benennung von Forschungsdesideraten hervorzuheben. Zu kritisieren ist die in der Anlage des Bandes implementierte Konzentration auf Deutschland sowie das thematische Fehlen der außerschulischen Berufsbildung. Wie eine Erweiterung des geografischen Rahmens aussehen könnte, zeigt die sechsteilige Reihe „A Cultural History of Education“ [2], die jedoch nicht dem Charakter eines „Studienbuchs“ und dessen engem Raum entspricht. Als solches kann der vorliegende Band aber gewinnbringend als Vorlage für ein Grundlagenseminar im Bachelor-Studiengang verwendet werden, das in die Geschichte von Erziehung und Bildung in Deutschland einführt. Darüber hinausgehend ist auch eine Nutzung einzelner Beiträge in themenspezifischen Seminaren denkbar, etwa dank der Darstellung aktueller Forschungsperspektiven als Alternative zu dem etwas in die Jahre gekommenen „Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte“ [3].
[1] Kluchert, G., Horn, K.-P., Groppe, C. & Caruso, M. (2021). Historische Bildungsforschung. Konzepte – Methoden – Forschungsfelder. Klinkhardt.
[2] McCulloch, G. (2020). A Cultural History of Education (6 Bde). Bloomsbury.
[3] Berg, Ch. (1987-2005). Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte (6 Bde). Beck.