EWR 23 (2024), Nr. 2 (April)

Sabine Wagenblass / Christian Spatscheck (Hrsg.)
Kinder psychisch erkrankter Eltern
Sehen – Wissen – Handeln
Köln (Stuttgart): Psychiatrie Verlag (utb GmbH) 2023
(236 S.; ISBN 978-3-8252-6054-5)
Kinder psychisch erkrankter Eltern Vor dem Hintergrund zunehmender psychischer Belastungen und Erkrankungen in der Gesellschaft wird die Frage nach der Unterstützung betroffener Eltern und ihrer Kinder immer bedeutsamer. Das Risiko der Kinder, selbst zu erkranken, ist erheblich, ihre Aufwachsbedingungen sind merklich erschwert. Der fachliche Diskurs dazu begann vor ca. 25 Jahren. Vielfältige Forschungen und Praxisprojekte haben Sensibilisierung und gute Ansätze befördert. Die 2019 veröffentlichten Empfehlungen der interministeriellen Arbeitsgruppe „Kinder psychisch und suchtkranker Eltern“ zeigen wesentliche Verbesserungsschritte auf. Trotzdem braucht es für die systematische Versorgung dieser Zielgruppe, für Präventionsangebote und familienorientierte Regelversorgung noch vielfältige Entwicklungen. Ein Teil davon ist auch die Integration dieses Fachdiskurses in die Aus- und Fortbildung (angehender) sozialpädagogischer Fachkräfte. Der fachliche Blick auf Kinder psychisch erkrankter Eltern ist genauso relevant wie Wissen zum Kinderschutz oder den Frühen Hilfen als Querschnitts- und Schnittstellenthema in gemeinsamer Verantwortung verschiedener Akteur:innen. Mit den im Aufbruch befindlichen strukturellen Entwicklungen, z.B. durch kommunale Rahmenkonzepte, ist es wichtig, neues und etabliertes Fachpersonal auf dieses Praxisfeld vorzubereiten.

In diesem dynamischen Diskurs erschien im Frühjahr 2023 beim Psychiatrie Verlag das Buch „Kinder psychisch erkrankter Eltern“ in Herausgeberschaft von Sabine Wagenblass und Christian Spatscheck. Die Dozent:innen für Soziale Arbeit an der Hochschule Bremen legen damit ein Lehrbuch für Studierende, Lehrende und Praktiker:innen vor.

Der Band versammelt forschende, lehrende und praktisch tätige Autor:innen, die in der Fachgemeinschaft zu ‚Kindern psychisch erkrankter Eltern‘ präsent und durch eigene Publikationen bekannt sind. Bereits durch die Auswahl der Autor:innen greift das Buch wichtige Merkmale des Fachgebietes auf: Interdisziplinarität, Interprofessionalität und Intersektoralität. Die Herausgeber:innen wollen den Fokus auf die Sensibilisierung für Kinder und ihre psychisch erkrankten Eltern legen, Grundlagenwissen vermitteln und den Praxistransfer unterstützen. Ihr Anspruch ist es, eine familienorientierte Perspektive zu vermitteln, die Kinder nicht losgelöst von ihren Eltern, psychisch belastete Eltern nicht abgekoppelt von ihren Kindern und Krankheit nicht isoliert von Elternschaft betrachtet. Kontextualität, vielschichtige Bedürfnisse aller Familienmitglieder, systemische Haltung sowie Vielfalt in Settings und Methoden, greifen die Autor:innen in den insgesamt 18 Beiträgen auf und stellen diesbezügliche Wissens- und Haltungsangebote zur Verfügung. Fachkräfte sollen so gestärkt werden, um der Komplexität in der Begleitung von Familien mit psychisch kranken Eltern gerecht zu werden.

Die drei Hauptabschnitte des Sammelbandes – „Sehen, Wissen, Handeln“ – unterteilen den Inhalt in die Bereiche „Information und Sensibilisieren“, „Qualifizierung und Know-How-Vermittlung“ sowie „Stärkung des Praxistransfers und methodisches Handeln“. So kann der/die Leser:in sich sowohl von der Einführung in das Themengebiet über die Grundlagen hin zur Praxis durcharbeiten als auch einzelne Kapitel auswählen. Jeder Beitrag ist in sich geschlossen, geht aber auf einen der drei Abschnitte ein. Somit ergibt sich über 236 Seiten hinweg eine strukturierte Darbietung zum Fachgebiet „Kinder psychisch erkrankter Eltern“.

Alle Beiträge beginnen mit einem Abstrakt und führen mit Unterabschnitten durch das Thema. Zusammenfassungen heben von den Autor:innen als wichtig erachtete Aspekte hervor. Ein Fazit unterstreicht das fachliche Statement. Hinweise auf weiterführende Materialien und Links sowie Reflexionsfragen sollen das Selbststudium unterstützen.

Im ersten Hauptabschnitt „Sehen“ widmen sich Sabine Wagenblass und Sabine Ader der Sensibilisierung und bewussten Wahrnehmung der Familien. Mit der Herleitung der familienorientierten systemischen Perspektive als grundlegende Haltung lenken sie den Blick auf die familiären Dynamiken im Krankheitskontext. Um die Komplexität zu erkunden und zu einem professionellen Fallverstehen zu gelangen, wird die sozialpädagogische Diagnostik hier als wichtiger fachlicher Zugang beschrieben.

Der zweite Abschnitt „Wissen“ befasst sich mit Grundlagen. Die Einführung in die Krankheitsbilder der psychischen Störungen geben Jeanette Bischof und Ruth Böhm. Michael Hipp vertieft das Thema Traumatisierung. Grundlagen der Entwicklungspsychologie und Bindungsforschung werden von Ute Ziegenhain beschrieben. Maite Gabriel und Silke Brigitta Gahleitner gehen auf die Beziehungsgestaltung in Hilfesettings ein. Der Themenbereich Hilfeplanung und Schutzauftrag wird durch Reinhold Schone beschrieben. Abschließend gibt Andrea Kliemann einen Überblick über die breite Hilfelandschaft und Rechtsansprüche zu Hilfen für Kinder, Eltern und Familien im Gesundheits- und Sozialwesen. Der Abschnitt bietet somit bio-psycho-soziale und rechtliche Grundlagen, die in Einzelfällen immer wieder abgebildet werden.

Abschnitt drei – „Handeln“ – ist in verschiedene Handlungsbereiche unterteilt. Mike Seckinger beginnt mit der Auseinandersetzung mit Kooperationsprozessen und der Zusammenarbeit zwischen den Hilfesystemen.
Der nächste Fokus wird auf die Stärkung der Eltern gelegt. Ilke Crone führt ein in das Konzept der Neuen (verbindenden) Autorität, mit der Idee, Eltern in ihrer Präsenz und Handlungsfähigkeit zu stärken. Anke Nowak gibt Einblicke in die Marte-Meo-Beratung als Entwicklungssetting für Eltern. Es schließen sich zwei Beiträge an, die sich mit Ansätzen zur Stärkung der Kinder befassen: Ortrud Beckmann stellt das Konzept der Patenschaften – als Einzelsetting für die Kinder – vor. Klaus Henner Spierling berichtet von den Kidstime-Workshops als Gruppenangebot.

Ergänzend wird die Familienperspektive durch drei Konzepte dargestellt: Albert Lenz fokussiert auf die Unterstützung von Familienresilienz durch die Förderung der Mentalisierungsfähigkeit; Silke Wiegand-Grefe berichtet von familienbezogenen Interventionen im Rahmen des „CHIMPS“-Ansatzes (children of mentally ill parents) und Martina Kriener bringt den „Familienrat“ als Setting für Empowerment und neue Lösungswege ein.
Die Perspektive des Handelns wird erweitert um die Selbstfürsorge und Stärkung der Fachkräfte. Stefan Gesmann betont den Wert von Weiterbildungen und Praxistransfer und Petra Hofmann und Margarete Udolf geben den Praktiker:innen Selbstfürsorgestrategien an die Hand.

Mit der Auswahl der Mitautor:innen wird ein deutlich psychosozialer Schwerpunkt gelegt, der die Kinder und ihre Eltern eindeutig als Zielgruppe sozialpädagogischen Handelns identifiziert. Pädagogische Zugangswege und Paradigmen werden erkennbar, angereichert um Grundlagen der Klinischen Psychologie, der Psychiatrie sowie juristischer Bezüge. Somit werden Kinder, Jugendliche und Eltern nicht nur als Patient:innen im Gesundheitswesen oder als Adressat:innen der Kinder- und Jugendhilfe angesehen, sondern sollen auch als Mitglieder eines familiären Systems mit dynamischen Wechselwirkungen und gemeinsamer Betroffenheit, aber auch mit Bewältigungskraft, erkennbar werden.

Der Fokus auf Familie, auf erkrankte Elternteile in Erziehungsverantwortung, auf Kinder aller Altersgruppen von null bis 18 Jahren, auf verschiedene Settings und Angebote zur Stärkung, Begleitung und Intervention, eröffnet gedanklich den Raum für längerfristiges, system- und bedarfsorientiertes Arbeiten mit diesen Familien. Dem liegt die normative Annahme des Buches zu Grunde, dass alle Eltern das ‚Beste‘ für ihre Kinder wollen und dass sie sich redlich mühen, ‚beste‘ Eltern zu sein. Die Zusammenstellung der Beiträge macht deutlich, dass es immer wieder um die Frage geht: „Was ist der Fall?“ und „Wer braucht was?“.

Bilanzierend lässt sich festhalten, dass dieses Buch nach vielen setting-, zielgruppenspezifischen sowie konzeptbezogenen Veröffentlichungen zum Thema eine Bündelung vornimmt. Es tritt mit Blick auf professionelles Handeln für eine netzwerkorientierte, Halt gebende wie auch aushaltende Familienperspektive ein, die nicht mehr durch eine einzelne Intervention, eine einzige Berufsgruppe oder einen alleinig tätigen Leistungsträger erfüllt werden kann. Das Lehrbuch vermittelt die Grundhaltung, durch die Integration aller Optionen, einen Möglichkeitsraum entstehen zulassen, in dem Familien individuell das bekommen, was sie für sich als nützlich betrachten und was sie als tauglich für ihre Herausforderungen einschätzen. Fachkräften wird dabei der Auftrag zugewiesen, frühzeitig Familien zu erkennen, Halt und Orientierung zu geben, Herausforderungen im Familien- und Erziehungsalltag klar zu kommunizieren und sich mit eigener Klarheit der Lebenslage genau dieser Eltern und Kinder zu widmen, die sie in der Praxis antreffen.

Kritisch anzumerken ist Folgendes: Bei all seiner umfassenden und integrierenden Absicht vernachlässigt das Buch den Bereich der Eingliederungshilfe. Dort, wo psychisch erkrankte Erwachsene Unterstützung erfahren, besteht eine wichtige Kontakt- und Ansprechmöglichkeit, Elternschaft zu adressieren bzw. aufzugreifen. Dieser Zugangsweg zu Eltern außerhalb der Kinder- und Jugendhilfe hätte mehr Raum erhalten können. Das ist deshalb bedeutsam, weil sich hier immer wieder Loyalitätskonflikte der Fachkräfte zeigen – zwischen den individuellen und auch ich-bezogenen Aufträgen ihrer Klient:innen und der Verantwortung, frühzeitig und präventiv Kinder und Jugendliche erreichen zu können, wenn Elternschaft in ‚Erwachsenensettings‘ thematisiert wird.
Juliane Tausch (Hamburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Juliane Tausch: Rezension von: Tausch, Juliane: Kinder psychisch erkrankter Eltern, Sehen – Wissen – Handeln. Köln (Stuttgart): Psychiatrie Verlag (utb GmbH) 2023. In: EWR 23 (2024), Nr. 2 (Veröffentlicht am 07.05.2024), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978382526054.html